Ein Lesebuch zu China - Rezension des Buches "Chinas langer Weg in die Moderne" von Beat Schneider

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Beat Schneider, „Chinas langer Weg in die Moderne – Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen“ 336 Seiten, PapyRossa Verlag, 2023, ISBN 978-3-89438-792-1, 22,90 €

Über China wird unter Linken erbittert gestritten. Eine ganze Reihe von Büchern erschien in den letzten Jahren, die alle versuchen die Entwicklung des Riesenlandes von einem linken Standpunkt aus analytisch in den Griff zu bekommen. Dabei werden die unterschiedlichsten Aspekte behandelt – das Projekt Seidenstraße, die Corona-Politik oder das Verhältnis zwischen Staat und privaten Unternehmen. (1) Beat Schneider hingegen bietet mit seinem Buch „Chinas langer Weg in die Moderne. Zwanzig nicht- eurozentristischen Thesen“ eine Gesamtschau auf die Entwicklung des Landes. Der Bogen reicht von der Geschichte („5000-jährige Zivilisation“) bis zur aktuellen Gefahr eines Krieges der USA gegen China („Die Thukydides-Falle und ein neuer Weltkrieg“). Kontroverse Themen werden nicht übergangen: Sowohl die digitale Überwachung, der Uiguren-Konflikt als auch die Corona-Krise werden behandelt.

Jedes einzelne der zwanzig Kapitel steht unter einer einleitenden These, umfasst zwischen fünfzehn und dreißig Seiten und schließt mit einer persönlichen Bemerkung des Autors ab. So ist ein leicht verständliches Lesebuch über China entstanden für alle, die nicht die Zeit oder Geduld haben, sich in die verschiedensten Aspekte der Entwicklung des Landes durch Lektüre von Fachliteratur zu vertiefen. Diese Literatur aber wird in seiner ganzen Breite von Schneider ausführlich zitiert. Vor allem von den Büchern und Artikeln Domenico Losurdos hat sich der Autor inspirieren lassen - insbesondere von dessen Werk „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“. Aus Wertschätzung für ihn hat Schneider sein Buch dem 2018 verstorbenen italienischen Historiker und Philosophen gewidmet. Anders als andere Autoren berücksichtigt er auch Originaltexte des offiziellen Chinas. So zitiert er wiederholt aus den vier Bänden „China regieren“ von Xi Jinping.  

Beat Schneider setzt auch ganz eigene Akzente. Als früherer Dozent der Hochschule der Künste in Bern ist er einer sozialgeschichtlich ausgerichteten Kultur- und Kunstgeschichte verpflichtet. So hat er sich einen Blick dafür bewahrt, welch große Bedeutung die Tradition für die Entwicklung Chinas hat. Seine vierte These lautet daher: „China spielt auf beiden Klaviaturen, auf derjenigen der Moderne und derjenigen der Tradition.“ (55) [2] In diesem Zusammenspiel von Tradition und Moderne sieht er den Grund für die erstaunliche Stabilität des Landes: „Eine Gesellschaft kann solche Umwälzungen nur einigermaßen heil überstehen, wenn sie gleichzeitig über Ressourcen der Stabilität und Kontinuität verfügt, wie es im China der 1980er Jahre und der folgenden Jahrzehnte der Fall war.“ Die entscheidende Ressource dabei ist eine „langjährige kulturelle Identität, welche eine gute Voraussetzung bot, um den Strapazen der Öffnung einigermaßen gewachsen zu sein. (…) Anker der Stabilität waren die Familie als Auffangnetz und der Staat in der chinesischen Tradition einer fürsorglichen Institution.“ (56) Schneider macht in diesem Zusammenhang auf den chinesischen Intellektuellen und Politiker Wang Huning aufmerksam, der als langjähriger Berater der Generalsekretäre der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) bis in die Machtspitze der Partei aufgestiegen ist und der im Westen als Chefideologe bzw. als graue Eminenz der KPCh gilt. Nach ihm prägt der kulturelle Überbau „das politische Geschehen ebenso wie die Basis. Nur kulturell starke Staaten sind nach Wang starke Staaten.“ (57)         

Im zehnten Kapitel behandelt Schneider den in der Ära von Xi Jinping eingeleiteten Prozess „der 'Selbsterneuerung' der KPCh und der Gesellschaft insgesamt“. Es geht dabei um nicht weniger als um eine „'Reinigung des Staatsapparats'“, „eine Reaktion auf die Entpolitisierung und den Bedeutungsverlust der Ideologie während der Reform-Ära. Auch die ChinesInnen sind seit Jahrzehnten mit der westlichen, vom Neoliberalismus geprägten Lebensweise des Egozentrismus und Egoismus, der Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit konfrontiert. Die Öffnung bescherte dem Land nicht nur ökonomisches Wachstum, sondern öffnete auch die Tür zu einer kolonialistischen kulturellen Abhängigkeit. Die Partei versucht dem mit der Re-Ideologisierung des gesellschaftlichen Lebens gegenzusteuern.“ Sie verfolgt dabei „eine Doppelstrategie: Sowohl der 'Marxismus mit chinesischen Besonderheiten', als auch die konfuzianische Tradition werden gefördert.“ (129)

Schneider macht keinen Bogen um die heikle Frage, ob China nach vierzig Jahren marktwirtschaftlicher Entwicklung noch als sozialistisches Land angesehen werden kann. Für ihn steht fest, dass sich das Land weiterhin auf dem Weg zum Sozialismus befindet. Grundlage dafür ist die Tatsache, dass die führende Stellung der KPCh im Staat und in der Ökonomie garantiert, dass das „Primat der Politik über die Ökonomie“ gilt: Es „bedeutet, dass der chinesische Staat die letztendliche Verfügungsgewalt über die gesamte Wirtschaft, die staatlichen und privaten, die großen und die kleinen Unternehmen hat. Es erlaubt der Regierung die Regulierung des Marktes und ermöglicht Eingriffe in die Marktwirtschaft entsprechend den politischen Zielen.“ (209).

Teile der westlichen Linken gehen im Unterschied dazu davon aus, dass China längst wieder kapitalistisch ist: „Eine verbreitete Meinung in der marxistischen Literatur besagt, dass in China ein 'Staatskapitalismus' herrsche.“ (218) Dies ist aber eine für den westlichen Marxismus typische Haltung: „Der italienische Philosoph Domenico Losurdo (…) kritisierte diese Tradition treffend: 'Sobald eine konkrete linke staatstragende Politik nicht mehr den dogmatischen Idealvorstellungen der westlichen Linken entspricht, wendet sich diese ernüchtert ab.' Die Schwierigkeiten beim Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft sind nicht mehr so attraktiv und faszinierend wie der Befreiungskampf. Kuba, Vietnam und jetzt auch China wurden nur 'geliebt', solange sie als 'arm oder gleich' und als Opfer von imperialistischer Unterdrückung wahrgenommen wurden. Wenn reale Schritte zur Überwindung dieses Zustandes unternommen werden, auch wenn diese neue Widersprüche mit sich bringen, ist der Anspruch an die Utopie in den Augen vieler westlicher MarxistInnen verwirkt. Ernüchterung und zunehmende Distanz stellen sich ein, die manchmal sogar in Hass übergehen.“ (218f.)

Grundlage für diese Haltung ist die hier verbreitete eurozentristische Sicht auf China, wonach die ganze übrige Welt an der Elle europäischer Politik, Tradition und Kultur zu messen ist. Beat Schneiders will mit seinem Buch „Chinas langer Weg in die Moderne“ eine andere, realistische und zugleich solidarische Sicht vermitteln. Deshalb auch der Untertitel: „Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen“.     

[1] Aus der Fülle an neuen Büchern zum Thema China soll hier nur auf einige verwiesen werden: Uwe Behrens „Was wir alles nicht über China wissen“ und „Der Umbau der Welt. Wohin führt die neue Seidenstraße?“; auf die Bücher von Frank Sierens: „Zukunft? China! Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert“ und „Shenzhen. Zukunft made in China, Zwischen Kreativität und Kontrolle – die junge Megacity, die unsere Welt verändert“. Zu nennen ist auch das Buch von Felix Wemheuer: „Chinas große Umwälzung. Soziale Konflikte und Aufstieg im Weltsystem“. Dazu zählen auch die beiden Bücher von Wolfram Elsner „Die Zeitenwende – China, USA und Europa 'nach Corona'“ und „China und der Westen – Aufstiege und Abstiege“.

[2] Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die Seiten in dem Buch.

           

Die Rezension erschien in der Ausgabe 5/6_2023 der Zeitschrift "Marxistische Blätter"
             

  

 

 

 

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