China - Eine Macht, die die internationalen Kräfteverhältnisse grundlegend verändert

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Domenico Losurdo über den Weg der chinesischen Volksrepublik, den Imperialismus und die Linken

Die Volksrepublik China, ihre Entstehung „auf der Woge eines nationalen Befreiungskampfs von epischem Ausmaß“ [1], ihre mit scharfen Wendungen und Widersprüchen versehene Entwicklung und ihr heutiges Potential als eine den USA bereits in vielen Bereichen ebenbürtige Macht, hat Domenico Losurdo immer wieder aufs Neue fasziniert und zu Studien und Analysen angeregt. Bei seinem Bestreben den Linken im Westen ihr mit dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus abhanden gekommenes Selbstbewusstsein zurückzugeben, verwies er immer wieder auf das erfolgreiche chinesische Beispiel.

Er lehnte es daher ab, von einem Scheitern des historischen Weges der Emanzipation zu sprechen, der seinen Ausgang im Roten Oktober genommen hatte. Zwar sah er im Verschwinden des europäischen Sozialismus eine kolossale Niederlage aber eben kein Scheitern, denn „während letztere Kategorie ein total negatives Urteil impliziert, ist die erstere ein partiell negatives Urteil, das auf einen bestimmten historischen Kontext Bezug nimmt und es ablehnt, die Realität einiger Länder (und sogar eines Landes, das ein Kontinent ist) zu verdrängen, die sich weiterhin auf den Sozialismus berufen“. [2]

Losurdo verurteilte den Imperialismus und den Neokolonialismus wegen der nicht nachlassenden Angriffe auf das fernöstliche Land. In seinem Buch Wenn die Linke fehlt…, Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg heißt es: „Gegen die Volksrepublik China ist eine Art demokratischer Kreuzzug lanciert worden (…).“ [3] Vor allem in der US-amerikanischen Sichtweise, aber auch der der Staaten der Europäischen Union, wird China einer Vielzahl von Vergehen beschuldigt: „Repression, Autoritarismus, Totalitarismus, Staatswirtschaft, mangelnder Respekt vor dem Individuum und der individuellen Kreativität, Dumping, Merkantilismus, unfaire Konkurrenz, Diebstahl des Arbeitsplatzes anderer.“ [4] Und diese Liste der Vorwürfe lässt sich verlängern: Angeklagt wird China auch wegen der Unterdrückung nationaler Minderheiten, vor allem der Tibeter und der Uiguren in Xinjiang. Verurteilt wird die Unterdrückung einer so genannten „Demokratiebewegung“ in Hong Kong – einer Stadt, die seit 1997 zur Volksrepublik gehört.

Vorgeworfen wird Peking zudem, eine Politik der ungehemmten militärischen Aufrüstung zu betreiben, mit der das Land seine Dreistigkeit unter Beweis stellt, die militärische Supermacht USA herauszufordern. Dabei stellt es das „Dogma der von der Vorhersehung bestimmten moralischen Mission, mit der das auserwählte US-amerikanische Volk betraut ist“ [5] in Frage.

In jüngster Zeit kommen Vorwürfe hinsichtlich des Vorgehens in der Corona-Epidemie hinzu. Hält sich im Westen einerseits hartnäckig der Vorwurf, chinesische Wissenschaftler und die Gesundheitsbehörden des Landes hätten das Virus grob fahrlässig handelnd aus einem Labor entkommen lassen, kritisieren andere, dass China die Welt viel zu spät vor der gefährlichen Krankheit gewarnt habe. Verurteilt werden sowohl die harten Lockout-Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie weil damit der Weltwirtschaft geschadet wurde, als auch eine viel zu schnelle Aufhebung der Restriktionen im Dezember 2022, womit die Gefahr der Entstehung von Mutanten des Virus ignoriert worden sei. Die Vorwürfe widersprechen sich oft. Allein was zählt ist die Möglichkeit, China einmal mehr anprangern zu können, um auf diese Weise nicht zuletzt vom Versagen der westlichen Staaten bei der Bekämpfung der Pandemie ablenken zu können.

Losurdo verteidigte das „gekreuzigte China“ [6] nicht nur in Büchern und Artikeln. Als sich Anfang 2008 in westlichen Medien und unter Politikern der NATO-Staaten die Stimmen mehrten, die für August jenes Jahres in Peking geplanten Olympischen Sommerspiele zu boykottieren, da die Volksrepublik nicht bereit sei seine Tibet-Politik zu ändern, initiierte er einen internationalen Aufruf zur Verteidigung des Landes unter der Überschrift „Olympia für Hunde und Chinesen verboten“. Dabei nahm er Bezug auf ein Schild, das Ende des 19. Jahrhunderts gut sichtbar an einem Eingang zu den westlichen Konzessionsgebieten in Schanghai angebracht war: 'Eintritt verboten für Hunde und Chinesen'. Im Aufruf hieß es: „Dieses Schild ist nicht verschwunden, sondern hat nur ein paar Varianten erfahren, wie die Kampagne beweist, die sich vornimmt, die Olympischen Spiele in Peking zu sabotieren oder irgendwie abzuqualifizieren: 'Olympia für Hunde und Chinesen verboten'. Der heutige antichinesische Kreuzzug steht voll und ganz im Einklang mit einer langen und infamen imperialistischen und rassistischen Tradition.“ [7]  

2010 bereiste Domenico Losurdo die Volksrepublik, um sich ein umfassenderes Bild vom Land zu verschaffen. In einem Reisebericht gab er seine Eindrücke und Erfahrungen wieder. Er sprach „von der Leidenschaft zur Selbstkritik, die für die chinesischen Kommunisten anscheinend charakteristisch ist.“ [8] Diese Beobachtung steht in scharfem Kontrast zu der sattsam bekannten Schönfärberei der einst herrschenden kommunistischen Parteien in der Sowjetunion, aber auch in der DDR. 2017 folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt als Dozent verschiedenen Universitäten. Losurdo bedauerte immer wieder, dass er nie Chinesisch gelernt hatte.  

In seinem gesamten wissenschaftlichen und politischen Leben spielten die Ereignisse in und um China eine herausgehobene Rolle. Bereits als junger politischer Aktivist verließ er Ende der sechziger Jahre die Kommunistische Partei Italiens (PCI), der er sich 1960 angeschlossen hatte um einer Partei beizutreten, die den traditionellen Namen der italienischen Sektion der III. Kommunistischen Internationale von 1919 - der Partito Comunista d’Italia (PCd’I) – angenommen hatte. Die PCd’I verfolgte einen an China ausgerichteten Kurs.

In dem letzten zu seinen Lebzeiten auf Deutsch veröffentlichten Artikel beschwor er 2017 die Gefahr eines Krieges gegen China und Russland, die von dem immer aggressiver auftretenden imperialistischen Westen ausgeht: „Offenkundig ist der Krieg, an den man in Washington denkt, kein Krieg gegen Deutschland, Frankreich oder Italien, sondern ein Krieg gegen China (das Land, das aus der größten antikolonialen Revolution hervorging und von einer erfahrenen kommunistischen Partei geführt wird) und/oder gegen Russland (das mit Putin, aus Sicht des Weißen Hauses, den unverzeihlichen Fehler beging, die neokoloniale Kontrolle abzuschütteln, der sich Jelzin gefügt oder angepasst hatte). Und diesen großen Krieg, der sogar die Schwelle zum Atomkrieg überschreiten könnte, hoffen die Vereinigten Staaten erforderlichenfalls unter subalterner Beteiligung von Deutschland, Frankreich, Italien und der anderen NATO-Länder führen zu können.“ [9] Diese Befürchtung wurde, zumindest was Russland angeht, inzwischen Realität: Die NATO-Länder sehen sich unter Führung der USA in einem sowohl militärisch als auch wirtschaftlich geführten Krieg gegen Russland. Und auch die Feindschaft des Westens gegenüber China ist seit 2017 stetig gewachsen.  

2017 hatte Losurdo damit begonnen, seine Sicht auf China und die Bedeutung des Landes für die Zukunft des Sozialismus in einem Buch niederzulegen. Seine schließlich todbringende Krankheit zwang ihn, das Projekt abzubrechen.

Als wichtige Vorarbeit für das geplante Buch kann die 1999 in Italien erschienene Schrift La sinistra, la China e'imperialismo angesehen werden. Auf Deutsch wurde diese im Jahr 2000 unter dem Titel „Die Linke, China und der Imperialismus“ [10] herausgegeben. Dazu zählt auch die ebenfalls 2000 erschienene Broschüre „Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass“. Es handelt sich dabei um die Übersetzung der 1999 in Italien erschienenen Schrift Fuga dalla storia? Il movimento comunista tra autocritica e autofobia. Diese Broschüre wurde 2005 unter dem gleich gebliebenen Titel Fugga dalla storia? (Flucht aus der Geschichte?), nun aber mit der neuen Unterüberschrift La revoluzione russa e la rivoluzione cinesi oggi (Die russische und die chinesische Revolution heute), in zweiter Ausgabe in Italien herausgegeben. Deren Umfang erhöhte sich dabei von 53 auf 193 Seiten – die Broschüre war zu einem kleinen Buch geworden. In einer aus Anlass der Herausgabe der deutschen Fassung 2008 geschriebenen Anmerkung Losurdos heißt es: „Zunächst als Artikelreihe in einer Zeitschrift veröffentlicht, erzielte dieses Buch einen gewissen Erfolg und ist in mehrere Sprachen übersetzt worden. Die zweite Ausgabe, die hier vorgestellt wird, unterscheidet sich in erster Linie durch die Hinzufügung der letzten fünf Kapitel; auch die ersten sieben sind da und dort durchgesehen und aktualisiert worden.“ [11] Hinzu gekommen war vor allem der zweite Teil des Buches unter der Überschrift „China und die historische Bilanz der Erfahrung des Sozialismus“.

Bei der Darstellung der Sicht Losurdos auf China soll im Folgenden vor allem auf diese Schriften Bezug genommen werden. Herangezogen werden aber auch zahlreiche weitere Artikel und Bücher, in denen er sich mit dem Land beschäftigte, so etwa das Buch La non-violenza. Una storia fuori dal mito aus dem Jahr 2010, das 2015 unter dem Titel „Gewaltlosigkeit – Eine Gegengeschichte“ [12] auf Deutsch erschien. Darin setzt er sich unter anderem mit Philosophie und Politik des Dalai Lama auseinander, die im Westen immer wieder dazu dient, die Zerstückelung Chinas durch Abspaltung eines unabhängigen Tibets zu propagieren.

China spielt auch in seinen Werken eine wichtige Rolle in denen er sich allgemein mit Politik und Strategie einer Linken auseinandersetzt, die heute ihren Weg aus der Niederlage finden muss. Das große asiatische Land könne seiner Meinung nach dabei eine orientierende Rolle einnehmen. Zu nennen sind hier das 2013 erschienene Buch La lotta di classe – Una storia politica e filosofica, das in Deutschland 2016 unter dem Titel „Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Eine politische und philosophische Geschichte“ veröffentlicht wurde. Hierzu gehört auch das Buch La sinistra assente – Crisi, societá della spettacolo, guerra von 2014, auf Deutsch: „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“, erschienen 2017. Schließlich Il marxismo occidentale. Come naque, come mori, come può rinascere von 2017, (Deutsch: „Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“ – veröffentlicht 2021). Darin geht Losurdo am Ende auf den chinesischen Marxismus ein, den die Führung des Landes entsprechend den eigenen Bedürfnissen weiter entwickelt hat: „Schon mit Mao hat die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die 'Sinifizierung des Marxismus' gefördert, um daraus Auftrieb für den Kampf um die Befreiung von der Kolonialherrschaft zu erhalten, für eine Entwicklung der Produktivkräfte, die es möglich machen würde, die Unabhängigkeit auch auf ökonomischer und technologischer Ebene zu erreichen, für die 'Verjüngung' einer Nation von tausendjähriger Kultur, die seit den Opiumkriegen vom Kolonialismus und Imperialismus einem 'Jahrhundert der Erniedrigung' unterworfen worden war. Weit davon entfernt, sie zu verleugnen, wurde die sozialistische und kommunistische Perspektive von den Führern der chinesischen Volksrepublik stolz verkündet: Sie wird jedoch aller messianischen Dimension beraubt; zudem wird ihre Verwirklichung einem sehr langen historischen Prozess überlassen, in dessen Verlauf die gesellschaftliche Emanzipation nicht von der nationalen Emanzipation getrennt werden kann.“ [13]                

Die chinesische Revolution

Vor allem der zuletzt genannte Aspekt war Losurdo stets wichtig: Die gesellschaftliche Emanzipation ist nicht von der nationalen Emanzipation zu trennen. Ihm drängte sich daher die Frage auf: Wie können die sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts in Russland, China, Korea, Vietnam und Kuba verstanden werden? Alles begann mit der russischen Revolution: Was aber stellte der Rote Oktober eigentlich dar? War er ein Sieg der Arbeiterklasse? Daran gab es von Beginn an Zweifel, standen in Lenins Revolutionstheorie doch die Bauern bzw. die einfachen vom Land stammenden Soldaten im Mittelpunkt.

Zu fragen ist weiter: War der Rote Oktober der Auftakt für die Weltrevolution? Diese Hoffnung schwand spätestens 1922 mit der Niederlage der kommunistischen Bewegung im Westen. Zwar blieb die Beschwörung der Weltrevolution danach noch lange im theoretischen Arsenal der Bolschewiki, dies war aber nicht ihre beste Tradition, und ihr Anwalt hieß Leo Trotzki. Domenico Losurdo hat einen Hinweis darauf gegeben, wie die Oktoberrevolution zu bewerten ist. In seinem Buch Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende heißt es über die Situation in Russland im Jahr 1917: „Die Entente versuchte, das Land mit allen Mitteln zu zwingen, weiter zu kämpfen und sich auszubluten, und zielte gewissermaßen (hier zitiert Losurdo Stalin, A.W.) auf die ῾Verwandlung Russlands in eine Kolonie Englands, Amerikas und Frankreichs῾ ab; schlimmer noch, sie führte sich in Russland auf, als wäre sie ῾in Zentralafrika῾. Im Gegensatz dazu förderte die durchzuführende Revolution nicht nur die Emanzipation der Volksklassen, sondern machte die Bahn frei für die wirkliche Befreiung Russlands.“ [14] Die Oktoberrevolution war also auch eine nationale Revolution! Ohne sie wäre das Land unter der Last des mörderischen Weltkriegs zusammengebrochen, wäre es zum Spielball der imperialistischen Mächte des Westens geworden. Das über Russland Gesagte gilt erst recht für China: „Die kommunistische Partei kommt 1949 auch deshalb an die Macht, weil die breiten Massen in ihr die einzige politische Kraft sehen, die die chinesische Nation aus ihrer seit über einem Jahrhundert währenden Tragödie retten kann.“ [15]

Im Buch „Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute“ heißt es: „Der Marxismus-Leninismus ist die nach langer Suche endlich gefundene Wahrheit der ideologischen Waffe, die in der Lage ist, den Sieg der nationalen Revolution in China zu gewährleisten und das Land dahin zu bringen, die halbfeudalen und halbkolonialen Verhältnisse zu überwinden. Diese Suche hatte schon mit den Opiumkriegen begonnen, noch vor der Entstehung des Marxismus-Leninismus, ja noch vor dem Marxismus überhaupt: 1840 war Marx noch ein junger Student. Es ist nicht der Marxismus, der die Revolution in China hervorruft, sondern der hundertjährige Widerstand des chinesischen Volkes, das nach mühsamer Suche sein volles Selbstbewusstsein in der Ideologie findet, die die Revolution zum Sieg führt.“ [16]

Nicht anders sind auch die Revolutionen in Korea, Vietnam und Kuba zu interpretieren. „Vaterland oder Tod“ lautete bekanntlich die Parole der kubanischen Revolutionäre. Und die Sozialisten Venezuelas wollen heute das Werk von Simon Bolivar, dem Befreier Lateinamerikas, vollenden.

Mao Zedong hat die Erfahrungen der chinesischen Revolution verallgemeinert: „Die universalen Wahrheiten des Marxismus müssen durch die konkreten Bedingungen der verschiedenen Länder vervollständigt werden, und es gibt eine Einheit zwischen Internationalismus und Patriotismus.“ [17] Wer daher heute von links die Politik der chinesischen KP kritisiert, da sie angeblich „nur“ den Aufstieg der eigenen Nation und nicht die Verwirklichung des Sozialismus in den Mittelpunkt stelle, zeigt nur, dass er von der chinesischen Revolution nichts verstanden hat. Wer so argumentiert, vergisst den engen Zusammenhang zwischen nationaler und sozialer Revolution.

Beim Blick auf den Roten Oktober wie auch auf die chinesische Revolution muss man sich davon freimachen, in diesen Ereignissen den ganz großen Sprung zu einer neuen Menschheit sehen zu wollen. Abgelegt werden müssen all die eschatologischen und mystischen Vorstellungen, die lange Zeit mit diesen Revolutionen verknüpft wurden. Die Völker Russlands, Chinas und der anderen Staaten haben vielmehr Antworten auf existenzielle Fragen ihrer Nationen gegeben. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Es wäre daher ein großes Missverständnis, verlangte man von ihnen, stellvertretend für die Menschheit deren große Träume von einer endlich gerechten Welt zu erfüllen. Und schon gar nicht schulden sie etwas einer westlichen Linken, die ihre eigenen Revolutionen nicht zustande gebracht hat. Erst mit einem solch nüchternen Blick auf die großen Revolutionen des 20. Jahrhunderts kann man heute ihre positiven „Fernwirkungen“ erkennen. [18]

Die widersprüchliche Entwicklung Chinas nach Gründung der Volksrepublik 1949 behandelt Losurdo im Kontext der generellen Probleme erfolgreicher sozialistischer Revolutionen: „Die Geschichte der kommunistischen Bewegung ist beherrscht von einem grundlegenden Problem. Die Revolution hat sich nicht dort vollzogen, wo die kapitalistische Entwicklung am weitesten gediehen war und wo Marx deshalb den Übergang zum Sozialismus am ehesten erwartet hatte. Doch nun, was tun? Wenn man die sozialdemokratische 'Lösung' verwarf, die politische Macht der Bourgeoisie oder, noch schlimmer, herrschenden Klassen halbfeudalen und halbkolonialen Typs anzuvertrauen bzw. zurückzugeben, konnte man der Verwirrung, die Ergebnis der ausgebliebenen Revolution im Westen war, auf drei verschiedene Weisen begegnen. Und tat dies historisch auch. Die ersten beiden sind hinreichend bekannt. Das Land, in dem die Kommunisten die Macht erobert haben, wird in erster Linie als Basis genutzt, von der aus die Revolution ausgeweitet werden kann und für sie vor allem die kapitalistischen Zentren erobert werden können. Oder die Hauptaufgabe wird, angesichts der ungünstigen internationalen Kräfteverhältnisse darin gesehen, in diesem Land den Sozialismus zu errichten, das neue Gesellschaftssystem, das dazu berufen ist, an die Stelle des Kapitalismus zu treten. Diese beiden Wege erweisen sich heute als völlig ungangbar, und zwar wegen der internationalen Kräfteverhältnisse in ökonomischer wie militärischer Hinsicht.“ [19]        

Gescheiterter Revolutionsexport und der Konflikt mit der Sowjetunion

Wie die sowjetische Führung glaubte auch die chinesische nach 1949 anfangs an die Möglichkeit des Revolutionsexports. Während sich die Sowjetunion nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus um die Festigung ihrer Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa bemühte, überließ sie China die Förderung revolutionärer Bewegungen in Ost- und Südostasien. In Malaysia und in Indonesien unterstützte Peking Anfang der fünfziger Jahre den bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmächte Großbritannien und die Niederlande, die nach der japanischen Kapitulation in ihre alten Besitzungen zurückgekehrt waren.

Einen Schwerpunkt beim Versuch des chinesischen Revolutionsexports bildete die Hilfe für die Japanische Kommunistische Partei (KPJ). Im eigenen Land von der US-amerikanischen Besatzungsmacht unterdrückt, floh die Führung der KPJ nach Peking, wo sie im Mai 1952 den Radiosender „Radio Freies Japan“ sowie eine Parteischule aufbaute. Ziel war die Initiierung eines bewaffneten kommunistischen Aufstands, wobei Partisanen aus den Wäldern des Zentralen Hochlands Japans heraus operieren sollten. Dies musste aber in einem Land, das nach der Niederlage im zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört und ausgeblutet war ohne jede Erfolgsaussicht bleiben. Die in Japan verbliebenen Aktivisten der JKP sagten sich denn auch bald von ihrer Pekinger Exilführung los, und die Partei ging auf einen strikt unabhängigen, von den nationalen Interessen bestimmten Kurs. In der kommunistischen Weltbewegung wurde sie zu einer vollkommen eigenständigen Kraft. Heute gehört die KPJ zu den größten und einflussreichsten kommunistischen Parteien weltweit. [20] Diesen Erfolg verdankt sie vor allem ihrer früh errungenen nationalen Eigenständigkeit.  

In die Epoche der aktiven Unterstützung auswärtiger revolutionärer Bewegungen fällt auch das militärische Eingreifen Chinas zugunsten Nord-Koreas. Unter Führung von Kim Il Sung hatte das Land mit Rückendeckung der Sowjetunion und Chinas am 25. Juni 1950 einen Angriffskrieg gegen das mit den USA verbündete Süd-Korea begonnen, um so die Wiedervereinigung des Landes zu erzwingen. [21] Nach anfänglichen Erfolgen mussten sich die nordkoreanischen Truppen bald den Armeen der USA und ihrer Verbündeten beugen und hätten eine sichere Niederlage erlitten, wären ihnen nicht reguläre chinesische Truppen, als „Freiwilligenverbände“ deklariert, zur Hilfe gekommen. Diesen gelang es, die Front zu stabilisieren und einen Waffenstillstand zu erzwingen. Das Eingreifen Chinas zugunsten der Demokratischen Volksrepublik Korea war jedoch äußerst riskant, musste doch Peking damit rechnen, dass die USA mit einem Präventivschlag antworten würden. Tatsächlich gab es damals in Washington konkrete Pläne für einen Krieg auch gegen China. [22] In der Vollversammlung der Vereinten Nationen gelang es den USA und ihren Verbündeten, „China als den Aggressor zu brandmarken“. Die Vereinigten Staaten waren „zu einem neuen, feierlichen Kreuzzug im Dienste der Freiheit aufgebrochen.“ [23]    

Nach Stalins Tod am 5. März 1953 lockerte sich das bis dahin enge Bündnis zwischen China und der Sowjetunion. Peking schloss sich der entstehenden Bewegung der Blockfreien an, zu deren Mitglieder lediglich zwei kommunistisch regierte Staaten gehörten: Neben China das von Moskau geächtete Jugoslawien. Es sollte der Beginn einer sich mehr und mehr von der Sowjetunion emanzipierenden Außenpolitik sein. Auf der Konferenz der Blockfreien am 18. April 1955 im indonesischen Bandung trafen sich Staats- und Regierungsoberhäupter von 29 asiatischen und afrikanischen Staaten. Dabei waren auch Diplomaten aus Japan, also des Landes das erst wenige Jahre zuvor einen grausamen Krieg in Asien geführt hatte und dessen Regierung Peking noch Anfang der fünfziger Jahre mit Hilfe der japanischen Kommunisten hatte stürzen wollen. Eine tragende Rolle in der Bewegung der Blockfreien spielte Indien, ein Land, mit dem China eine lange Historie von Grenzstreitigkeiten teilt, die 1962 im Indisch-Chinesischen Grenzkrieg eskalierten.

Mit der Hinwendung Pekings zur Bewegung der Blockfreien war zugleich eine Umorientierung revolutionärer Hoffnungen auf die sich von der Kolonialherrschaft befreienden Länder vor allem Afrikas verbunden. China begann sich dabei selbst als Entwicklungsland zu sehen und beanspruchte eine Führungsrolle unter ihnen. Aufgegeben wurde die Hoffnung auf mögliche Revolutionen in entwickelten Ländern, etwa in Japan. Mao gab stattdessen die Parole aus: „Die Dörfer kreisen die Städte ein“. Die Sowjetunion teilte hingegen die Hoffnung auf sozialistische Revolutionen im Süden nicht. Zwar leistete auch sie den antikolonialistischen Befreiungsbewegungen ideologische, politische und – allerdings sehr zurückhaltend – auch militärische Unterstützung. Wichtiger war es aber Moskau, den erreichten Status quo in Europa zu verteidigen und zu festigen, indem man eine Entspannungspolitik vor allem gegenüber den USA propagierte.

Wenig Verständnis brachte die Sowjetunion deshalb für den chinesischen Willen auf, alles zu tun, um die vollständige Integrität des Landes wiederherzustellen, worunter in erster Linie die Rückgewinnung Taiwans verstanden wird. 1958 eskalierte der Konflikt um die abtrünnige Insel. Chinesische Artillerie beschoss die dem Festland direkt vorgelagerten aber von Taiwan als sein Territorium angesehenen Inseln Quemoy und Matsu. Die USA drohten daraufhin mit dem Einsatz ihrer Flotte und sogar mit der Atombombe. Moskau machte deutlich, dass es im Falle eines Krieges Peking militärisch nicht unterstützen werde. Dort dachte man nicht daran, den mühsam erreichten Status quo gegenüber den USA aufs Spiel zu setzen: „Zwischen China und der Sowjetunion gibt es zu diesem Zeitpunkt verständliche Interessenunterschiede. China will auf keinen Fall den Verlust Taiwans und eine weitere territoriale Zerstückelung hinnehmen, auf die Washington abzielt; die UdSSR ist in erster Linie an einem Tauwetter der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten interessiert, auch um die furchtbare Last des Kalten Krieges und des Wettrüstens zu mindern.“ [24]    

Losurdo beschreibt die gegensätzlichen Sichtweisen: „Ein Anzeichen für nationalistische und provinzielle Begrenztheit ist diese Haltung für die sowjetische Führungsspitze, die ihrerseits verdächtigt wird, aus egoistischem und opportunistischem Kalkül taub zu sein für die Emanzipations- und Befreiungsbedürfnisse der Kolonial- oder Exkolonialvölker.“ [25]  Und: „Die gegen die chinesische Führung gerichtete Kritik der provinziellen Kurzsichtigkeit und der Politik des Abenteuers erlebt eine rapide Eskalation: auf dem Gipfel der Polemik wird die chinesische Führung beschuldigt, der sowjetisch-amerikanischen Atomkatastrophe Vorschub zu leisten, um schließlich die Welt dank ihres größeren demographischen Potentials zu beherrschen.“ [26] Peking antwortet mit dem Vorwurf des „Sozialimperialismus“ gegen Moskau und sieht die Sowjetunion „von neuen (nun roten) Zaren“ beherrscht.

Der eskalierende Streit der beiden Länder strahlt auf die gesamte kommunistische Weltbewegung aus. Peking fördert in vielen Ländern kommunistische Bewegungen, die zu China halten, es kommt zu Parteispaltungen und zur Gründung maoistischer Parteien. [27] In der Studentenbewegung des Westens stehen sich in der 60er und 70er Jahren Anhänger Moskaus und Pekings feindlich gegenüber. Der auf unterschiedlichen nationalen Interessen beruhende Konflikt wird dabei ideologisch, im Streit um die richtige Auslegung des Marxismus-Leninismus ausgetragen.

Die Entfremdung zwischen den beiden, aus sozialistischen Revolutionen hervorgegangenen Ländern sollte lange andauern. 1969 kommt es am sibirischen Grenzfluss Ussuri sogar zu einem bewaffneten Konflikt um einige im Fluss gelegene Inseln mit Opfern auf beiden Seiten. 1979 führt China gegenüber dem mit Moskau verbündeten Vietnam eine militärische Strafexpedition durch, um sich so für den Sturz des kambodschanischen Pol Pot Regimes, das von Peking ausgehalten wurde, zu rächen. Noch in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war China bestrebt, die Position der UdSSR weltweit zu schwächen, etwa im Krieg der sowjetischen Armee gegen die Mujaheddin in Afghanistan.

Losurdo zitiert Deng Xiaoping bei seinem Treffen am 16. Mai 1989 mit Gorbatschow in Moskau, bei dem er über die Gründe für die langanhaltende Feindschaft sprach: „'Ich glaube nicht, dass dies wegen der ideologischen Diskussionen geschehen ist; wir denken nicht mehr, dass alles, was damals gesagt wurde, richtig wäre. Das Hauptproblem war, dass die Chinesen nicht gleichberechtigt behandelt wurden und sich gedemütigt fühlten. Dennoch haben wir nie vergessen, dass die Sowjetunion uns während des ersten Fünfjahresplans geholfen hat, die Grundlagen der Industrie zu legen.'“ [28] Für Losurdo ist „in Wahrheit doch etwas Interessantes aus diesen 'ideologischen Diskussionen' hervorgegangen: die Unhaltbarkeit des Anspruchs seitens eines Führungslandes oder einer Führerpartei, ihrer eigenen Außenpolitik (und ihren legitimen nationalen Interessen) die politische Linie (und die legitimen nationalen Interessen) der anderen 'Bruder'-länder, - parteien und – bewegungen unterzuordnen: ein Anspruch, gegen den sich China, dank der beständig der nationalen Frage zugewandten Aufmerksamkeit, insgesamt viel immuner erweist als die Sowjetunion. Deutlich zeigt sich also die komplexe und gewundene Natur des internationalistischen Weges.“ [29]            

Großer Sprung nach vorn, Kulturrevolution und sozialistische Marktwirtschaft

Wenn der Revolutionsexport nicht möglich war, was bedeutet, dass das Land, in dem die Kommunisten die Macht erobert hatten, nicht „in erster Linie als Basis genutzt“ [30] werden konnte, um von dort die Revolution auszuweiten, wie stand es dann aber mit der von Losurdo benannten zweiten Option, nach der die ungünstigen internationalen Kräfteverhältnisse ein Land zwingen können, weitgehend isoliert und eigenständig „den Sozialismus zu errichten, das neue Gesellschaftssystem, das dazu berufen ist, an die Stelle des Kapitalismus zu treten“? [31]

In der Geschichte der Volksrepublik China gab es zwei Versuche, alle nationalen Ressourcen zu bündeln, um so aus eigener Kraft den Status eines fortgeschrittenen Landes auf Höhe der westlichen Industriestaaten zu erreichen: Die Kampagne des „Großen Sprungs nach vorn“, zwischen 1958 und 1961 sowie die 1966 eingeleitete Kulturrevolution, die erst mit Maos Tod 1976 endgültig endet.

In den fünfziger Jahren werden die Ziele der angestrebten wirtschaftlichen Entwicklung deutlich nach oben verändert. Es soll der „Große Sprung nach vorn“ gelingen. „In seinem Bericht auf dem VIII. Parteikongress im Jahre 1958 lanciert Liu Shaoqi (…) eine Mao zugeschriebene Losung 'England in fünfzehn Jahren erreichen'. Die Furcht vor einer internationalen Isolierung treibt zur forcierten Beschleunigung. Das Wunder zu vollbringen sind die 'Arbeitsheere' aufgerufen, die sich im Verlauf des ' Großen Sprungs nach vorn' mobilisieren, mit den kleinen Dorf-Hochöfen, die auf der Woge der Massenbegeisterung installiert werden.“ [32] Der Durchbruch zur Industrienation gelingt aber trotz aller Entbehrungen und Anstrengungen nicht. Aufgrund der gleichzeitigen Vernachlässigung der Landwirtschaft kommt es stattdessen zu einer verheerenden Hungersnot im Land.

Ein erneuter Versuch des schnellen Aufholens gegenüber den Industriestaaten und zur Überwindung „der Verspätung Chinas im Vergleich mit dem Westen“ scheitert mit der Kulturrevolution, die Mao 1966 ausruft und die 1976 im Chaos endet: Damit „verschwunden ist (…) die Illusion, man könnte die Entwicklung der Produktivkräfte vorantreiben, indem man permanent an die revolutionäre Begeisterung der Massen appelliert.“ [33]  

Doch neben dem Revolutionsexport und dem alleinigen Setzen auf die eigenen Kräfte gibt es nach Losurdo „noch eine weitere Möglichkeit, dem Problem (der Unterentwicklung, A. W.) zu begegnen (…). Sie wurde seinerzeit besonders klar von Liu-Shao-Chi, dem ersten Präsidenten der Chinesischen Volksrepublik, formuliert; ihm zufolge bestand die Hauptaufgabe der neuen Volksmacht nach dem Sieg der Revolution darin, die zurückgebliebenen Produktivkräfte zu entwickeln. Diese Theorie der Produktivkräfte, wie sie Mao verächtlich nannte, wurde während der 'Kulturrevolution' Gegenstand einer heftigen Anklagekampagne. Und doch hat sie schließlich triumphiert – und zwar seit der Dritten Vollversammlung des 11. Zentralkomitees 1979, das heißt seit der Rückkehr Deng Xiaopings an die Macht.“ [34]  

Für Losurdo steht fest: „Wenn wir die Revolution in China unter Berücksichtigung ihres gesamten Verlaufs analysieren (man vergesse hierbei nicht, dass die KPCh schon zwei Jahrzehnte vor der Machtübernahme auf nationaler Ebene beginnt, Erfahrungen der Machtausübung zu sammeln) dann können wir feststellen, dass der Große Sprung nach vorn und die Kulturrevolution einen kurzzeitigen Bruch innerhalb eines Prozesses darstellen, der sich im Übrigen durch eine substanzielle Kontinuität auszeichnet.“ [35]   

Aus dem Scheitern sowohl des Revolutionsexports als auch des alleinigen Setzens auf die eigenen Kräfte zieht Losurdo weitreichende Konsequenzen, die für ihn nicht allein für China gelten, sondern Allgemeingültigkeit für jede heutige revolutionäre Politik besitzen: „Auf politischem wie ökonomischen Gebiet ist kein Sozialismus mehr denkbar, der nicht Bilanz zieht und die fortgeschrittensten Erfahrungen des kapitalistischen Westens auf der Woge der bürgerlich-demokratischen Revolution nicht schöpferisch auszuwerten versteht.“ [36] Und was den weiteren Weg des Riesenlandes angeht, so sei er nicht vorhersehbar: „Was China betrifft, so ist weiterhin das aus der Revolution hervorgegangene Neue nicht nur auf der Suche nach der politischen Form, sondern auch der ökonomisch-sozialen Inhalte, in denen sie ihren stabilen Ausdruck finden soll. Wir haben es mit einem Langzeitprozess zu tun, der sich noch in voller Entfaltung befindet; er hat schon außerordentliche Resultate erzielt, aber seine Weiterentwicklung und sein Ausgang sind noch völlig unvorhersehbar.“ [37]     

China – ein kapitalistisches Land?  

Nun wird dem heutigen China von verschiedener Seite vorgeworfen, gar kein sozialistisches Land mehr zu sein. Als Beweise werden die Existenz eines großen privaten Wirtschaftssektors und die Entstehung einer Schicht von neuen Reichen, ja sogar Superreichen genannt. Dabei wird aber übersehen, dass diese Begüterten zwar ihren Reichtum oft protzig zur Schau stellen, aber kaum über gesellschaftlichen Einfluss verfügen. Um China als kapitalistisch oder gar als imperialistisch bewerten zu können, müsste es aber von einer Bourgeoisie geführt werden. Das ist jedoch nach Losurdo nicht der Fall. „Kein Zweifel: dort hat sich eine solide Bourgeoisie herausgebildet, die jedoch derzeit keine Möglichkeit hat, ihre ökonomische Macht politisch umzusetzen.“ [38] „Es geht also darum, zwischen ökonomischer Expropriation und politischer Expropriation der Bourgeoisie zu unterscheiden. Nur letztere muss strikt durchgeführt werden, während die erste, wenn sie nicht in ganz bestimmten Grenzen verläuft, die ökonomische Entwicklung zu kompromittieren droht, die die territoriale Integrität und die Wiedergeburt des Landes gewährleisten soll (…).“ [39]

Auch viele Linke rechnen China dem kapitalistischen und sogar dem imperialistischen Lager zu: „Zur negativen Haltung vieler Linker gegenüber der Volkrepublik China hat nicht zuletzt die weit verbreitete Behauptung beigetragen, in diesem Land habe sich bereits eine vollständige Restauration des Kapitalismus vollzogen.“ [40] Richtig ist zwar die Beobachtung, dass in diesem Riesenreich seit Jahrzehnten mit verschiedenen Formen sozialistischer Marktwirtschaft experimentiert wird. Wer aber bereits darin einen Beweis für den kapitalistischen Charakter des Landes sieht, sollte dringend seine eigene Vorstellung von Sozialismus überprüfen. Man kann diesen nämlich schon lange nicht mehr mit Vollvergesellschaftung und strikter Planung gleichsetzen. Für Losurdo steht fest: „Wenn sich heute, vor allem nach dem Zusammenbruch des 'sozialistischen Lagers', ein Entwicklungsland mittels einer radikalen Nationalisierung der Produktionsmittel völlig dem kapitalistischen Markt verschlösse, bliebe es, selbst wenn man absieht von den Repressalien kommerzieller und militärischer Art, die das wohl zur Folge hätte, gänzlich abgeschnitten von der fortgeschrittensten Technologie und könnte gewiss das Problem der Entwicklung der Produktivkräfte ebenso wenig lösen wie das des Aufbaus des Sozialismus.“ [41]     

Scharf geht Domenico Losurdo mit einer Linken ins Gericht, die den „Sieg des Kapitalismus und Imperialismus (in China, A.W.) für abgemacht hält“, denn die hat „nicht nur kapituliert“, sondern beweist damit nur, dass sie „von einigen grundlegenden Tatsachen keine Ahnung“ hat. [42] Er erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass bereits die noch von Lenin in Russland 1921 eingeleitete „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP, auf Russisch NEP) seinerzeit von vielen Linken „nicht viel anders“ beurteilt wurde als heute die sozialistische Marktwirtschaft in China. [43] Zur Beschreibung der damaligen Lage zitiert Losurdo den englischen Historiker Orlando Figes: „Diese Prahlerei (der durch die NÖP reich Gewordenen, A.W.) 'auf dem Hintergrund des Hungers und der beeindruckenden Leiden jener Jahre' ruft 'ein verbreitetes Gefühl bitteren Ressentiments' hervor. Eine Krise trifft die kommunistische Partei: 'In den Jahren 1921-22 zerreißen buchstäblich Zehntausende von bolschewistischen Arbeitern, angewidert von der NÖP, ihr Parteibuch: Sie hatten sie in Neue Erpressung für das Proletariat umgetauft.'“ [44]     

Nur Verachtung hat Domenico Losurdo daher für jene übrig, die sich heute im Westen als besonders radikal und revolutionär empfinden wenn sie die Führung der Volksrepublik Chinas des Verrats bzw. der Kapitulation vor dem Imperialismus bezichtigen: „Heute (…) sind es kleine Parteien und ehrgeizige Minderheitsgrüppchen, die den Bannfluch gegen eine kommunistische Partei von zig Millionen aktiven Kämpfern schleudern, gegen die Protagonisten einer großen nationalen und sozialen Revolution und Initiatorin eines Prozesses, der das volkreichste Land aus der Unterentwicklung herausführen wird und der deshalb dazu bestimmt ist, die politische Geografie des Planeten und die internationalen Kräfteverhältnisse grundlegend zu verändern. Kein Zweifel, die Tragödie ist zur Farce geworden. Doch diese Farce kann eine viel schwerere Tragödie schüren, da sie die Manöver des Imperialismus begünstigt, die darauf abzielen, das Land, dessen ökonomische und politische Entwicklung in Washington und anderen Hauptstädten die Alarmglocken läuten lässt, zu isolieren und zu schädigen.“ [45]             

 

[1] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, Marxistische Blätter, Flugschriften 01, Neue Impulse Verlag, Essen, 2000, S. 39

[2] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess. Drei Ansätze zur Interpretation der Geschichte der kommunistischen Bewegung, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung. Z, Nr. 53, März 2003, S. 140. Der Artikel erschien auch in der Broschüre: Domenico Losurdo/Erwin Marquit, „Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung“, Marxistische Blätter, Flugschriften 20, Neue Impulse Verlag, Essen, o.J.  

[3] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, PapyRossa Verlag, Köln 2017, S. 278

[4] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…, a.a.O., S. 280

[5] Domenico Losurdo, Die Sprache des Imperiums – Ein historisch-philosophischer Leitfaden, PapyRossa Verlag, Köln 2011, S. 104

[6] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, Neue Impulse Verlag, Essen, 2009, S. 140

[7] Der Aufruf „Olympia für Hunde und Chinesen verboten“ wurde in Deutschland am 29.05.2008 in der Tageszeitung junge Welt veröffentlicht.

[8] Domenico Losurdo, Eine aufschlussreiche Reise nach China – Bemerkungen eines Philosophen, in: Marxistische Blätter, Heft Nr. 5, Jahrgang 2010, Essen, S. 89

[9] Domenico Losurdo, Palmiro Togliatti und der Friedenskampf gestern und heute, in: Marxistische Blätter, Heft Nr. 2, Jahrgang 2017, Essen, S. 94-102

[10] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, in: Marxistische Blätter, Flugschriften 02, Neue Impulse Verlag, Essen 2000

[11] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 11

[12] Domenico Losurdo, Gewaltlosigkeit – Eine Gegengeschichte, Argument-Verlag, Hamburg 2015

[13] Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte“, PapyRossa Verlag, Köln 2021, S. 159

[14] Domenico Losurdo, Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, PapyRossa Verlag, Köln 2012, S.  59 f.

[15] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, a.a.O., S. 7

[16] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 124

[17] Zitiert nach Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 124

[18] Vgl. hierzu Andreas Wehr, Über Fernwirkungen der Oktoberrevolution, Referat auf der Veranstaltung "100 Jahre Oktoberrevolution - 100 Jahre Dekret über den Frieden" des Deutschen Freidenker-Verbands am 30. September 2017 in Berlin https://www.andreas-wehr.eu/ueber-fernwirkungen-der-oktoberrevolution.html

[19] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, a.a.O., S. 26 f.

[20] Vgl. zu dieser Episode in der Geschichte der KPJ: Split oft he party and the „Beijing Organ“ tool of interference, in: Eighty  years of the Japanese Communist Party, Japan Press Service 2004, S. 98 f.

[21] Vgl. zum Koreakrieg: Odd Arne Westad, Der kalte Krieg – Eine Weltgeschichte, Stuttgart 2019, S. 181 ff.

[22]  David Horowitz, Kalter Krieg – Hintergründe der US-Außenpolitik von Jalta bis Vietnam, Berlin 1980, S. 122 ff.

[23] Ebenda

[24] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 128

[25] Domenico Losurdo, Scheitern – Verrat – Lernprozess. Drei Ansätze zur Interpretation der Geschichte der kommunistischen Bewegung, in: Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung, a.a.O., S. 131   

[26] Ebenda

[27] Vgl. hierzu Palmiro Togliatti, Memorandum zu Fragen der internationalen Arbeiterbewegung und ihrer Einheit von August 1964, in: Palmiro Togliatti, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Frankfurt am Main 1977, S. 765 -779  

[28] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 133

[29] Domenico Losurdo, Die Dialektik der Revolution – Russland und China im Vergleich, Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 18, Napoli 2001, S. 51

[30] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, a.a.O., S. 26 f.

[31] Ebenda

[32] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 130

[33] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 134

[34] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, a.a.O., S. 27

[35] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 139

[36] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, a.a.O., S. 42

[37] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 139

[38] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die kommunistische Bewegung zwischen Selbstkritik und Selbsthass, a.a.O., S. 43

[39] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 127

[40] Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus, a.a.O., S. 26

[41] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 168

[42] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 167

[43] Domenico Losurdo, Die Dialektik der Revolution – Russland und China im Vergleich, a.a.O., S. 53 f.

[44] Ebenda

[45] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte? Die russische und die chinesische Revolution heute, a.a.O., S. 168 f.

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