Der Bonapartist Donald Trump

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Am 20. Januar 2021 endet – so heißt es immer wieder - eine der ungewöhnlichsten Präsidentschaften der USA. Doch waren die vier Amtsjahre von Donald Trump tatsächlich so außergewöhnlich? Zur Beantwortung der Frage soll dazu ein Blick auf die Geschichte der USA geworfen werden und dabei vor allem auf die unverkennbar autoritären Züge des politischen Systems dort. Erst vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass mit Trump zwar ein außergewöhnlich egozentrischer und narzisstischer Mensch vier Jahre an der Spitze des Landes stand, seine Regentschaft aber gleichwohl im Rahmen der Geschichte des Landes verblieb.  

Der Bonapartismus als eine Form bürgerlicher Herrschaft

Der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo beschrieb in seinem 1993 erschienenen Buch Democrazia o bonapartismo. Trionfo e decadenza dell suffragio universale [1] Formen bürgerlicher Herrschaft – darunter auch den Bonapartismus. Mit dem Bonapartismus entstand Mitte des 19. Jahrhunderts, zeitgleich mit der Erringung des allgemeinen Stimmrechts in Frankreich, die Antwort der Herrschenden auf die damit verbundene Gefährdung ihrer Macht. Als Zeitzeuge hat Karl Marx als erster die Bedeutung dieser neuen Herrschaftsform erkannt und in seiner Schrift Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte analysiert. [2] Seitdem lässt dieses Deutungsmuster marxistische Gesellschaftswissenschaftler nicht mehr los. So wurde die bonapartistische Herrschaftsform auch für die Analyse des Faschismus herangezogen. Erinnert sei hier an die Arbeiten von August Thalheimer, Otto Kirchheimer und Ernst Fraenkel. [3] Leo Trotzki zog Elemente der Bonapartismustheorie in den 1930er Jahren zur Erklärung des Stalinismus heran. [4] In der Bundesrepublik war es Reinhard Kühnl, der in seinem Buch Formen bürgerlicher Herrschaft die verschiedenen Metamorphosen des Bürgertums beschrieb, mit deren Hilfe es auch in extremen Krisensituationen seine Macht sichert, notfalls mit Terror und Krieg. [5]

Weshalb Bonapartismus? Was geschah da Mitte des 19. Jahrhunderts Umwälzendes in Frankreich, das bis heute zur Charakterisierung autoritärer Herrschaftsformen dient? In der Revolution von 1848 gelang es den Aufständischen, das bereits für kurze Zeit in der Französischen Revolution - wenn auch nur für Männer - geltende allgemeine Wahlrecht erneut zu erkämpfen. Die konstituierende Versammlung schränkte dieses Rechts aber kurz darauf wieder ein, indem es an die Voraussetzung eines festen, ständigen Wohnsitzes über mehrere Jahre gebunden wurde. Der Unmut darüber war vor allem unter den Arbeitern groß. Dies war die Stunde des Louis Napoleon Bonapartes. Der großbürgerliche und bis dahin politisch erfolglose Neffe des großen Napoleon I., über den Marx schrieb, dass er ein „langes, abenteuerliches Vagabundenleben hatte“ [6], stellte sich demonstrativ auf die Seite der aufs  Neue Entrechteten und gegen die liberalen Parteien. Er setzte die Wiedereinführung des uneingeschränkten allgemeinen Wahlrechts durch und gewann damit die Sympathien der Kleinbürger und Arbeiter, vor allem aber der Millionen Bauern. So war es denn keine Überraschung, dass er die ersten Präsidentschaftswahlen auf Grundlage der neuen Konstitution am 10. Dezember 1848 haushoch gewann.

Drei Jahre später entmachtete Bonaparte in einem Putsch die ihm lästig gewordene Nationalversammlung. Berühmt wurde sein Aufruf vom 2. Dezember 1851, in dem er seinen Staatstreich begründete: „Überzeugt davon, dass die Instabilität der Macht und das Übergewicht nur einer einzigen Versammlung dauernde Ursache von Unordnung und Zwietracht sind, stelle ich Euch die folgenden fundamentalen Grundlagen einer neuen Verfassung zur Wahl (…): Ein verantwortliches Staatsoberhaupt, auf zehn Jahre gewählt; Minister, die nur von der exekutiven Gewalt abhängen (…); eine legislative Körperschaft, die die Gesetze diskutiert und über sie abstimmend durch allgemeines Wahlrecht zustande kommt, ohne Listenwahl, die die Wahlen verfälschen könnte.“ (136) Auf dieser Grundlage errichtete Napoleon III. seine Diktatur, die erst mit der Niederlage Frankreichs im Krieg mit Deutschland 1870 untergehen sollte.

Nach Luciano Canfora war dieser „Staatsstreich im Namen des allgemeinen Wahlrechts die Glanzleistung Louis Napoleon Bonapartes.“ [7] Für den Historiker Arthur Rosenberg „gab die Revolution von 1848/49 den wirklichen Demokraten und Sozialisten die Lehre, dass zwar die Selbstregierung des Volkes nach wie vor das allgemeine Stimmrecht voraussetzt, dass aber zugleich eine Karikatur des allgemeinen Stimmrechts auch mit brutalster Unterdrückung der Volksmassen vereinbar ist.“ [8] Was bedeutet: “Wenn die humane liberale Demokratie in ihr Gegenteil umschlug, in den weißen Terror und in die Säbelherrschaft, dann konnte das allgemeine Stimmrecht diese Wandlung überdauern.“ [9]  

Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte beschreibt Karl Marx 1852 die besondere Konstellation, die den Bonapartismus seitdem kennzeichnet: „Während jeder einzelne Volksrepräsentant nur diese oder jene Partei, diese oder jene Stadt, diesen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Notwendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigsten zu wählen, bei dem man sich weder die Sache noch den Mann so genau ansieht, ist er der Erwählte der Nation, und der Akt seiner Wahl ist der große Trumpf, den das souveräne Volk alle vier Jahre einmal ausspielt. Die erwählte Nationalversammlung steht in einem metaphysischen, aber der erwählte Präsident in einem persönlichen Verhältnis zur Nation. Die Nationalversammlung stellt wohl in ihren einzelnen Repräsentanten die mannigfaltigen Seiten des Nationalgeistes dar, aber in dem Präsidenten inkarniert er sich. Er besitzt ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er ist von Volkes Gnaden.“ [10]

Der permanente Soft-Bonapartismus US-amerikanischer Präsidenten

Domenico Losurdo beschränkt in seinem Buch Demokratie oder Bonapartismus die Anwendbarkeit des bonapartistischen Herrschaftsmodells nicht allein auf jene Phase der französischen Geschichte oder auf den italienischen bzw. deutschen Faschismus. Er sieht in ihm vielmehr ein grundlegendes Muster bürgerlicher Herrschaftssicherung: „Der Bonapartismus, der so Gestalt annimmt, trägt aber eine lange Geschichte mit sich und wirkt in neuen Formen auch in der Gegenwart“. (10) Insbesondere in dem Regierungssystem der USA sieht er einen „Soft-Bonapartismus“ verwirklicht.

Bereits die im Konvent von Philadelphia angenommene US-amerikanische Verfassung trägt autoritäre, bonapartistische Züge. War es in Frankreich Napoleon I., der mit seinem Staatsstreich 1799 die französische Revolution für beendet erklärte, „so schließt die amerikanische endgültig 1788-89 mit der Verabschiedung der neuen Verfassung ab. (...) Auf innenpolitischem Gebiet handelt es sich in dem einen wie im anderen Fall darum, die radikalen Tendenzen, die im Laufe der vorangegangenen Umwälzungen aufgetreten waren, wieder zu absorbieren und abzuwürgen.“ (115) Für die jungen USA benennt Losurdo vorangegangene Aufstände armer und verschuldeter Bauern in Massachusetts, die die herrschende Oberschicht tief verschreckt hatten. Was den Vergleich zwischen Frankreich und den USA angeht, so führt in beiden Ländern die akute gesellschaftliche Krise dazu, dass ein ruhmumstrahlter General zur Macht aufsteigt, Napoleon I. in Frankreich, George Washington in den USA. Losurdo zitiert Napoleon I., der am Ende seines Lebens auf die parallele Entwicklung beider Länder hinwies: „Was mich betrifft, so konnte ich nichts anderes sein als ein gekrönter Washington“. (108)

Auch der österreichische Rechtswissenschaftler Hans Kelsen sah in der hervorgehobenen Stellung des US-Präsidenten eine Schwächung des Prinzips der Volkssouveränität: „Wenn in der sog. Präsidentschaftsrepublik die vollziehende Gewalt einem Präsidenten übertragen wird, der nicht aus der Volksvertretung hervorgeht, sondern unmittelbar durch das Volk gewählt ist, und wenn auch in anderer Weise die Unabhängigkeit des mit der vollziehenden Gewalt betrauten Präsidenten gegenüber der Volksvertretung gesichert ist, so bedeutet dies – so paradox es auch erscheinen mag – eher eine Schwächung  als – wie vermutlich beabsichtigt – eine Stärkung des Prinzips der Volkssouveränität. Denn wenn dem nach Millionen zählenden Volke der Wähler nur ein einziger als Gewählter gegenübersteht, dann muss der Gedanke der Repräsentation des Volkes den letzten Schein von Berechtigung verlieren.“ [11]       

Anders aber als Frankreich, dass nach dem politischen Ende Napoleons I. unterschiedlichste Herrschaftsformen durchlebt und erst wieder mit dem Aufstieg seines Neffen Louis Napoleon Bonaparte Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden autoritären Präsidentschaft zurückkehrt, entscheidet sich der US-Verfassungskonvent bereits 1787 für eine starke Exekutive, die sich in der Machtstellung des Präsidenten ausdrückt: „Im Gegensatz zu Frankreich ist in den führenden Kreisen Amerikas von Anfang an das Bewusstsein verbreitet und ersichtlich, dass diese Macht sich in einer einzigen Person verkörpern muss: Es muss unbedingt vermieden werden, dass im Inneren der Macht lähmende Zwistigkeiten oder Unsicherheiten auftreten.“ (122) Das politische System der USA zeigt seitdem eine erstaunliche Stabilität und eine sich daraus ergebende Kontinuität, die begründet ist in der „überlegenen Flexibilität ihres politischen Systems (das gegründet ist auf weite Machbefugnisse eines leaders, der der Interpret der Nation und ihrer heiligen Mission ist).“ (211)  

Dem bonapartistischen Modell entsprechend entsteht durch das Plebiszit der Präsidentenwahl eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Volk und seinem leader. Dieser „Soft-Bonapartismus“ kann sich aber in Krisenzeiten „auf schmerzlose Weise in einen harten und kriegerischen verwandeln“. (144) Losurdo beschreibt dies am Beispiel der Zeit des Ersten Weltkriegs, „in der ausgerechnet die westlichen Länder eine größere Fähigkeit (als Deutschland, AW) zur totalen Mobilisierung und zu einer totalen und eisernen Einbindung der eigenen Bevölkerung in Bezug auf den Krieg gezeigt haben.“ (198) In diesem „Ausnahmezustand“ entstehen die auch heute noch so lebendigen amerikanischen Mythen von einer Kriegführung im Namen „einer Mission“ (204) und der Stilisierung des Krieges zu einem „Kreuzzug“. Es bildet sich der Kult des „Amerikanismus und der Lobpreisung seiner privilegierten und einzigartigen Rolle in der Weltgeschichte“ (209) heraus.

Losurdo hebt einige US-Präsidenten hervor, die aufgrund dieser bonapartistischen Grundstruktur des politischen Systems ihres Landes eine besondere Machtstellung erringen konnten, da sie ihre Entscheidungen – selbst solche über Krieg und Frieden – auf Grundlage der Verfassung ganz alleine für sich treffen konnten. Er nennt Theodore Roosevelt und zitiert ihn mit dessen Worten: „Die wichtigsten Probleme, wie der Frieden von Portsmouth, der Erwerb von Panama oder die Entsendung der Flotte in diesen oder jenen Winkel der Welt - die habe ich gelöst, ohne jemanden um Rat zu fragen, weil es besser ist, wenn in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nur einer zu entscheiden hat.“ (158).

Ein anderer Präsident, der Fragen über Leben oder Tod vollkommen autonom entschied, war Woodrow Wilson. Losurdo zitiert ihn mit den Worten: „In den auswärtigen Angelegenheiten unterliegt gerade die Autonomie, über die der Präsident verfügt, keinen Einschränkungen, und diese Autonomie gewährt ihm eine virtuell totale Kontrolle über die Operationen.“ (194) Eine „derartige Philosophie inspiriert die Haltung, die Wilson im Laufe des Ersten Weltkrieges einnahm, von der anfänglichen Neutralitätserklärung bis zur Entscheidung für die Intervention (gemeint ist der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, AW).“ (194)

Der Bonapartist Donald Trump

Nun wird kaum jemand die vier Jahre des Donald Trump im Oval Office mit den historischen Präsidentschaften eines Theodore Roosevelt oder eines Woodrow Wilson vergleichen wollen. Doch was den Gebrauch der autonomen Stellung eines US-Präsidenten anbelangt, so kann Donald Trump gleichwohl auf bemerkenswerte Erfolge verweisen.

So ist es ihm, der 2016 als krasser Außenseiter nur mit Mühen die Nominierung der Republikanischen Partei errang, dann, als gewählter Präsident erstaunlich schnell gelungen, die gesamte Partei hinter sich zu bringen, so dass selbst im Augenblick seiner Niederlage kaum ein prominenter Republikaner es wagt, ihn als leader der Partei infrage zu stellen. Seine präsidiale Autonomie nutzte er geschickt, um die Partei über alle Flügel hinweg zu einer Trump-Partei zu formen. Seine uneingeschränkte Herrschaft über den Parteiapparat sowie über die republikanischen Fraktionen im Senat und im Repräsentantenhaus gestattete es ihm, Minister und Berater nach Belieben zu ernennen, zu demütigen und sie nicht selten unter Beschimpfungen wieder fortzujagen. Bereits jetzt spricht man vom Trumpismus, der auch zukünftig die Politik der USA beeinflussen wird. Es wird bereits darüber spekuliert, ob Trump 2024 ein weiteres Mal als Präsident antritt.

Auch gegenüber den führenden liberalen Medien des Landes konnte Trump eine weitgehend autonome Stellung erringen. So konnte er es sich sogar erlauben, sie zu „Feinden des Volkes“ zu erklären – undenkbar unter Barack Obama oder Bill Clinton, aber auch unter der Regentschaft eines der beiden Bushs. Aber Trump schadeten solche Angriffe nicht. Im Gegenteil: Seine Selbststilisierung als ein von den Medien Verfolgter und als einer, der – obgleich er doch als Präsident die erste Stelle im politischen System einnahm – sich selbst gern außerhalb des „Washingtoner Sumpfes“ sah, machte es ihm möglich, seine politischen Gegner quasi von außen in populistischer Weise zu kritisieren und oft zu denunzieren.

Seine Unabhängigkeit von den medialen Meinungsführern des Landes –vor allem von den Zeitungen New York Times und Washington Post sowie dem Fernsehsender CNN – erreichte Trump mit Hilfe nur weniger und am rechten Rand angesiedelter Medien wie Fox News. [12] Entscheidend zur Erringung der Unabhängigkeit gegenüber der liberalen Medienwelt war aber die Fähigkeit, direkt mit seinen Anhängern und Sympathisanten zu kommunizieren. Diese Fähigkeit zur unmittelbaren Ansprache des Volkes gehört stets zu den Kernelementen des Bonapartismus. Sprach Louis Napoleon Bonaparte hierfür noch auf unzähligen Versammlungen in der französischen Provinz und ließ er die Mitglieder seiner „Gesellschaft des 10. Dezember“ die Mauern in Städten und Dörfern fortlaufend mit Aufrufen und Erklärungen bekleben, so benutzte Trump 170 Jahre später den Nachrichtendienst Twitter. Mit täglich oft mehreren Tweets an seine Gefolgschaft stellte er eine unmittelbare und direkte Verbindung zu ihr her und machte sich damit unabhängig von den ihm kritisch gegenüberstehenden Medien. Kaum jemand hatte anfangs erwartet, dass er dieses im Kampf um die Präsidentschaftsnominierung so ausgiebig genutzte Mittel auch als Präsident einsetzen würde. Es blieb aber auch im Weißen Haus sein wichtigstes Medium. Mit der damit möglichen direkten Ansprache des Volkes stand er als erwählter Präsident ganz wie einst Louis Napoleon Bonapartes „in einem persönlichen Verhältnis zur Nation“. [13]       

In seiner Schrift Die Konstitution der Französischen Republik von 1851 beschrieb Karl Marx „das Spiel Napoleons“: Es geht „jetzt darauf hinaus, die Unzufriedenheit des Volkes zu schüren. Die Bourgeoisie ist der Feind Napoleons – das Volk weiß das, und es besteht zwischen ihnen ein Band der Sympathie.“ [14] Auch Trump spielt dieses Spiel.

Trump, der „Arbeiterfreund“?

Die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 war nur vor dem Hintergrund der Verschärfung der sozialen Gegensätze in den USA möglich. Viele traditionelle Arbeiterwähler der Demokraten wechselten in das Lager der Republikaner, da sie zu Recht die Präsidentschaft von Barack Obama mitverantwortlich für ihr Schicksal machten. Die demokratischen Politiker wiederum blickten mit Arroganz und Herablassung auf die von Hillary Clinton als „deplorables“ (Mitleiderregende) bezeichneten Untenstehenden.   

Zwar verfehlte am 3. November 2020 Trump seine Wiederwahl, doch er erhielt nicht weniger als elf Millionen Stimmen mehr als 2016. Er gewann neue Unterstützer vor allem unter jenen, die von hoher Arbeitslosigkeit, großer Armut sowie unzureichender Gesundheitsversorgung betroffen sind. Diesen Erfolg verdankte er der von ihm pausenlos verbreiteten Behauptung, er und seine Regierung seien die Freunde der Arbeiter.

Was für den Immobilienmogul und Multimilliardär Donald Trump die Menschen in den vergessenen ehemaligen Industriestandorten der USA sind, waren die Bauern für Louis Napoleon Bonaparte. Bei ihnen handelte es sich um die Verlierer der stürmischen kapitalistischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert. In der Französischen Revolution hatten sie noch von der Auflösung des feudalen Großgrundbesitzes profitiert, und Kaiser Napoleon I. garantierte ihnen den neuerworbenen Landbesitz. Der aber bestand oft nur aus einer kleinen Parzelle, die zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig abwarf. Die Folge davon war eine schnell ansteigende Verschuldung von Millionen von Kleinbauern. Von Louis Napoleon Bonaparte erwarteten sie die Befreiung aus ihrem Elend: „Durch die geschichtliche Tradition ist der Wunderglaube der französischen Bauern entstanden, dass ein Mann namens Napoleon ihnen alle Herrschaft wiederbringen werde.“ [15]

Marx beschrieb die dahinterstehende geschichtliche Konstellation: „Bonaparte vertritt eine Klasse, und zwar die zahlreichste Klasse der französischen Gesellschaft, die Parzellenbauern.  Wie die Bourbons die Dynastie des großen Grundeigentums, wie die Orléans die Dynastie des großen Geldes, so sind die Bonapartes die Dynastie der Bauern, d.h. der französischen Volksmasse. (…)“ [16] Doch die Bauern bildeten keine Klasse in dem Sinne, dass sie ihr Klasseninteresse selbständig vertraten. Wie heute die vergessenen Arbeiter in den USA ließen sie sich vertreten, hofften sie auf Befreiung von außen.

Bonaparte befreite die Bauern aber nicht von ihrem Schicksal. Einer nach dem anderen wurde von Spekulanten und Wucherern „gelegt“, andere kapitulierten vor verheerenden Missernten. Über die Jahre zogen so Millionen ehemaliger Kleinlandwirte in die französischen Industriestädte und vergrößerten dort das mittellose Proletariat.

So wenig Louis Napoleon Bonaparte seinerzeit für die Bauern tat, so wenig verbesserte Donald Trump, trotz aller gegenteiligen Propaganda, das Schicksal der Arbeiter in den USA: „Die Wahrheit ist, dass Trump in seine Administration mehr Milliardäre geholt hat als jeder Präsident vor ihm. In die Bundesbehörde für Arbeitsbeziehungen (National Relations Labor Board, NRLB) berief er vehement arbeitnehmerfeindliche Vertreter. Superreichen und Großunternehmen bescherte er üppige Steuererleichterungen, während er massive Einschnitte bei Bildung, Wohnungsbau und Ernährungsprogrammen ins Spiel brachte. Trump hat versucht, bis zu 32 Millionen Menschen ihre bestehende Gesundheitsversorgung zu nehmen, und stellte Haushaltspläne auf, die bei den Krankenversicherungssystemen Medicare und Medicaid und den sozialen Sicherungssystemen Kürzungen in zweistelliger Milliardenhöhe vorsahen.“ [17]

In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wird aus den vier Jahren Donald Trump eine Bilanz gezogen, die für Beschäftigte „alles andere als rosig“ ausfällt: „Nicht nur weigert sich seine Administration vehement, den nationalen Mindestlohn von $ 7,25 zu erhöhen.“ Durch das „Zurückschrauben einer Überstundenregelung gingen den Arbeitnehmern geschätzte $ 1,2 Mrd. Dollar an Überstundenbezügen“ verloren. Genannt wird auch „die Schwächung von Arbeitssicherheitsstandards u. a. in der Öl- und Gasindustrie; oder die Angriffe auf öffentliche Bundesbeschäftigte und ihre gewerkschaftlichen Vertretungsmöglichkeiten, deren sichtbarster Ausdruck die historisch längste Schließung von Regierungsbehörden um den Jahreswechsel 2018/19 war, die Hunderttausende Mitarbeiter in den unbezahlten Zwangsurlaub schickte.“ [18]

Trump, der „Friedensfreund“?

Aber zumindest habe Trump als Präsident keine neuen Kriege angezettelt – so heißt es heute selbst unter Linken. Doch auch in den acht vorangegangenen Präsidentschaftsjahren unter Barack Obama hielten sich die USA mit neuen militärischen Abenteuern zurück. Neue Kriege übersteigen ganz offensichtlich die ökonomischen Möglichkeiten der USA. Seit längerem spricht man von einer Überdehnung ihrer militärischen Fähigkeiten. Anders als von Trump 2016 versprochen, stehen aber auch am Ende seiner Präsidentschaft weiter US-Soldaten in Afghanistan, im Irak und in Syrien. Und das US-Militär leistet noch immer der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz militärische Unterstützung bei ihrer äußerst grausam geführten Intervention in den jemenitischen Bürgerkrieg. Bis dicht an die Schwelle eines offenen militärischen Konflikts mit dem Iran ging Trump mit seiner Anweisung, den Kommandeur der Quds-Einheit, Qasem Suleimani, durch einen Drohnen-Angriff töten zu lassen.

Anders als erhofft hat Trump als Präsident auch nicht das Verhältnis gegenüber Russland entspannt. Im Gegenteil: Bestehende Sanktionen gegenüber wurden verlängert und dabei verschärft. Mit dem geplanten, aber wegen der Corona-Krise verschobenen Manöver Defender 2020 direkt an der russischen Westgrenze sollte der militärische Druck auf Moskau erhöht werden. Zwar sah Trump den Abzug von US-Truppen aus Deutschland vor, doch beabsichtigte er, einen großen Teil davon von dort direkt nach Polen und damit noch näher an Russlands Grenzen zu verlegen.

Auch gegenüber anderen, traditionell gegenüber den USA unbotmäßigen Ländern wie Kuba und Venezuela wurden die Sanktionen verschärft. Der Putsch des bolivianischen Militärs gegen den rechtmäßig gewählten Präsidenten Evo Morales wurde von Trump aktiv unterstützt. Mit China hat er schließlich einen Feind konstruiert, dem man für all das eigene Unvermögen verantwortlich machen kann: für die Abwanderung von Arbeitsplätzen, für die schwindende Konkurrenzfähigkeit US-amerikanischer Produkte und schließlich auch für das eigene Versagen in der Corona-Krise. Der Präsident ging sogar so weit, China vorzuwerfen, das von ihm so genannte „China-Virus“ absichtlich zur Schwächung der USA verbreitet zu haben.

Die Konstruktion eines äußeren Feindbildes gehört aber zu den klassischen Herrschaftsinstrumenten des Bonapartismus, hießen die Führer nun Louis Napoleon Bonaparte, Theodore Roosevelt, Woodrow Wilson oder auch Benito Mussolini. Die außenpolitische Bedrohung sollte stets helfen, die Reihen nach innen zu schließen. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten beschloss deshalb der Ministerrat der französischen Regierung unter Leitung von Bonaparte am 23. Dezember 1848 die Entsendung eines Expeditionsheeres zur Rettung der bedrohten Stellung des Papstes gegen die römische Republik: „Bonaparte brauchte den Papst nicht mehr, um der Präsident der Bauern zu werden, aber er brauchte die Konservation des Papstes, um die Bauern des Präsidenten zu konservieren. Ihre Leichtgläubigkeit hatte ihn zum Präsidenten gemacht. Mit dem Glauben verloren sie die Leichtgläubigkeit und mit dem Papste den Glauben.“ [19]  

„Make America Great Again“

Donald Trump will, dass die USA wieder uneingeschränkt jene in der Welt gegenüber allen anderen Staaten unvergleichbare Stellung einnehmen, die sie seit ihrer Konstituierung beanspruchen. Es soll wieder das Selbstverständnis ihrer Bewohner gelten, in einem besonderen, in „Gottes eigenem Land“ zu leben. Losurdo beschreibt dieses Bedürfnis: „Integraler Bestandteil des Bonapartismus ist nicht nur das imperiale Bewusstsein an sich, sondern ein solches imperiales Bewusstsein, das mit Begriffen religiöser, sittlicher oder politischer Mission ideologisch verklärt wird. Auf diese Weise wird das Gefühl, zu einer bestimmten Gemeinschaft zu gehören, mächtig gestärkt, die Aufmerksamkeit wird von den inneren Konflikten abgelenkt, abweichende Meinungen werden marginalisiert oder zum Schweigen gebracht und kriminalisiert.“ (151)      

Die Aufkündigungen internationaler Verträge bzw. die Austritte der USA unter Trump aus Vertragssystemen - sei es aus dem Pariser Klimaabkommen, der Rückzug aus Verhandlungen über eine Asiatisch-Pazifische Freihandelszone im Rahmen der APEC und über ein Transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP) sowie die erzwungene Neuverhandlung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) - verfolgten stets das Ziel, den USA wieder jene Stellung der Unvergleichbarkeit zurückzugeben, so dass der kein anderer Staat der Welt oder irgendeine internationale Organisation, seien es die Vereinten Nationen, die NATO oder auch nur die Weltgesundheitsorganisation, es jemals wieder wagt, ihnen etwas vorschreiben zu wollen. Dies ist der Sinn des vor allem nach außen gerichteten Trumpschen Mottos „Make America Great Again“!

Der Bonapartismus als Teil der De-Emanzipation

Domenico Losurdos Buch Demokratie oder Bonapartismus trägt den Untertitel Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts. Der wieder aufkeimende Bonapartismus wird darin als sichtbarster Teil des in der gesamten westlichen Welt voranschreitenden Prozesses der De-Emanzipation der Volksmassen beschrieben. Andere Elemente des Niedergangs des allgemeinen Wahlrechts sind das Festhalten am Einmann-Wahlkreis im Wahlrecht, das regelmäßig zu einer starken Personalisierung der Plebiszite und damit zur Schwächung der Parteien als Programmparteien führt. Überhaupt werden sich die Parteien, ungeachtet ihres erbittert geführten Kampfes untereinander um Einfluss und Posten, inhaltlich immer ähnlicher. Nahezu alle singen das hohe Lied einer mal ein wenig sozialeren und dann einer mal ein wenig liberaleren Marktwirtschaft. So ist es denn auch kein Wunder, dass nahezu alle Parteien sich untereinander als koalitionsfähig ansehen. Eine antikapitalistische Linke fehlt indessen. [20]   

Zum Niedergang des allgemeinen Wahlrechts zählt auch die wachsende Gestaltungsmacht von Verfassungsgerichten, denen immer häufiger politisch zu treffende Entscheidungen übertragen werden, vor allem auf Ebene der EU. Hinzu tritt der immer größer werdende Einfluss von Lobbyverbänden des Kapitals. Die politische Berichterstattung verkommt derweil in den Medien zum bloßen Spektakel. Nimmt man das alles zusammen, so kann es keinen Zweifel daran geben, dass sich in den westlichen Demokratien die autokratischen Strukturen verstärken.

Vor diesem Hintergrund waren der Aufstieg eines Donald Trump und seine Präsidentschaft vor allem das Resultat einer umfassenden Desorientierung großer Teile der US-amerikanischen Wählerschaft. Sie waren bereit, einen „Maulhelden und den auf die bösesten Instinkte der Massen spekulierenden Demagogen zur Führerschaft“ [21] zu verhelfen.

 

[1] Auf Deutsch erschien das Buch 2008 unter dem Titel „Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts“ im Kölner PapyRossa Verlag. Zitate in diesem Text mit in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf dieses Buch.

[2] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 8, Berlin 1960, S. 111 ff.

[3] Vgl. zur Geschichte der Bonapartismus-Analysen das Stichwort Bonapartismus im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus, Band 2, Hamburg 1995, S.283 ff.

[4] Vgl. Historisch Kritisches Wörterbuch des Marxismus, a.a.O., S. 287

[5] Reinhard Kühnl, Formen bürgerlicher Herrschaft. Liberalismus, Faschismus, Reinbek bei Hamburg 1971;
176.–178. Tausend 1990

[6] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 159

[7] Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006, S. 127

[8] Arthur Rosenberg, Demokratie und Sozialismus. Zur politischen Geschichte der letzten 150 Jahre, Frankfurt/Main 1967, S. 114

[9] Ebenda, S. 113

[10] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 128

[11] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2., überarbeitete Auflage, Tübingen 1929, S. 109

[12] Als die Niederlage von Trump erkennbar wurde, rückte dieser zum Murdoch-Imperium gehörende Sender aber von ihm ab.

[13] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 128

[14] Karl Marx, Die Konstitution der Französischen Republik, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 7, Berlin 1960, S. 505

[15] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 199

[16] Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 198

[17] Bernie Sanders: Was die Demokraten jetzt tun müssen, in: Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) vom 30.11.2020;  

[18] Knut Pankin, Ein System mit Vorerkrankungen. Warum die USA schwer mit der Corona-Wirtschaftskrise zu kämpfen haben, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 2020, S. 2; http://library.fes.de/pdf-files/bueros/usa/16249.pdf

[19] Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 7, Berlin 1960, S. 56

[20] Vgl. dazu Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg. Köln, 2017

[21] Hans Kelsen, a.a.O., S. 117f. Hans Kelsen schrieb das Buch „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ 1929 unter dem Eindruck der Herrschaft des italienischen Diktators Benito Mussolini sowie des Aufstiegs von Führerparteien gleich in mehreren europäischen Ländern, vor allem aber in Deutschland.  

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