Der EU-Retter
- Andreas Wehr
Artikel in Junge Welt vom 16.02.2016
Alle warnen vor dem Zerfall Europas. Die Voraussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, »Scheitert der Euro – scheitert Europa«, liegt erst wenige Monate zurück, da werden bereits neue Gefahren beschworen. Nun ist es die Flüchtlingskrise und die Zerstrittenheit der Mitgliedsländer über die Wege zu ihrer Lösung, die die Politiker vom Ende der EU sprechen lassen. Da wollen Linke nicht nachstehen. Das am 9. Februar in der Berliner Volksbühne vorgestellte »Manifest für die Demokratisierung Europas« des »Democracy in Europe Movement 2025« (DiEM 25) warnt: »Die EU wird entweder demokratisch sein, oder sie wird zerfallen!«¹
Es ist eine bunte Mischung von Kräften, die sich hinter diesem Manifest versammelt. Bei seiner Präsentation hatten die üblichen Aktivisten der Alter Summits (Treffen der europäischen sozialen Bewegungen), Sozialforen, Euro-Märsche, von Blockupy und von Stiftungen auf den Podien Platz genommen. Nur wenige Politiker der europäischen Linken waren dabei, kaum Gewerkschafter, einige Sozialdemokraten, aber auffallend viele aus dem Spektrum der europäischen Grünen. Gewürzt wurde die Teilnehmerliste durch Namen wie den des italienischen Neomarxisten Toni Negri, des österreichischen Journalisten Robert Misik, des postmodernen Philosophen Slavoj Žižek und des englischen Minimalmusikers Brian Eno. Als Überraschungsgast trat sogar die SPD-Politikerin Gesine Schwan auf. Auffällig war, dass weder ein Politiker aus der griechischen Linkspartei Syriza noch aus der von ihr abgespaltenen Laiki Enotita, Volkseinheit, dabei war. Und das, wo doch der Initiator des Manifests und Star des Volksbühnen-Events kein anderer als der ehemalige griechische Finanzminister Gianis Varoufakis war.
Welches Bild haben nun die Unterzeichner des Manifests von der Europäischen Union, dass sie fürchten, sie könne zerfallen? Die EU stellt für sie eine »außerordentliche Leistung« dar: »Sie hat europäische Völker, die unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Kulturen pflegen, in Frieden zusammengeführt und damit bewiesen, dass es möglich ist, einen gemeinsamen Rahmen der Menschenrechte auf einem Kontinent zu errichten, auf dem vor noch nicht allzu langer Zeit mörderischer Chauvinismus, Rassismus und Barbarei herrschten. Die Europäische Union hätte der sprichwörtliche Leuchtturm sein können, sie hätte der Welt zeigen können, wie aus jahrhundertelangen Konflikten und Bigotterie Frieden und Solidarität entstehen können. (…) In den Nachkriegsjahrzehnten, in denen die EU erbaut wurde, wurden nationale Kulturen in einem Geist des Internationalismus, der Überwindung von Grenzen, gemeinsamen Wohlstands und eines steigenden Lebensstandards wiederbelebt, alles Entwicklungen, die die Europäer einander näher brachten.« Doch damit sei es jetzt vorbei, denn, so wörtlich im Manifest: »Im Herzen des Integrationsprozesses lag ein Schlangenei.«
Folgt man dem Text des Aufrufs, so verlief die Geschichte der EU wie folgt: »Ökonomisch betrachtet, begann die EU als ein Kartell der Schwerindustrie (später bezog sie noch die Bauern mit ein), das entschlossen war, die Preise zu diktieren und die Gewinne des Oligopols durch die Brüsseler Bürokratie zu verteilen. Das im Entstehen begriffene Kartell und seine in Brüssel beheimateten Verwalter fürchteten den Demos und verachteten die Idee einer Regierung durch das Volk.
Geduldig und methodisch wurde der Prozess der Entscheidungsfindung entpolitisiert, mit dem Ergebnis, dass der Demos langsam, aber stetig aus der Demokratie verschwand und jegliche politische Entscheidungsfindung in einen alles überwuchernden pseudotechnischen Fatalismus gehüllt wurde. Die nationalen Politiker wurden gut dafür entlohnt, dass sie dabei mitmachten, die Kommission, den Rat, den Finanzministerrat Ecofin, die Euro-Gruppe und die EZB (Europäische Zentralbank, jW) in politikfreie Zonen zu verwandeln. Wer sich diesem Prozess widersetzte, bekam das Etikett ›Europagegner‹ verpasst und galt als eklatanter Außenseiter. So nahm der Betrug im Herzen Europas seinen Anfang und führte zur institutionellen Verpflichtung auf eine Politik, die heute deprimierende Wirtschaftsdaten und vermeidbare wirtschaftliche Not hervorbringt.«
Doch diese Sicht auf die Geschichte der EU ist eine Legende. Sie entspricht nicht der Realität. Als die Europäischen Gemeinschaften (EG) 1957 gegründet wurden, drohten nicht mehr »mörderischer Chauvinismus, Rassismus und Barbarei« der deutschen Faschisten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag zwölf Jahre zurück, diesseits und jenseits des Rheins standen Truppen der USA, und die Bundesrepublik war 1955 Mitglied der NATO geworden. Zwar drohte tatsächlich ein Krieg, aber nicht einer zwischen Deutschland und Frankreich, sondern zwischen West und Ost. Man befand sich in der Hochzeit des Kalten Krieges, der jederzeit zu einem heißen Konflikt werden konnte. Die EG leisteten einen entscheidenden Beitrag dazu, den kapitalistischen Westen wirtschaftlich gegen den sozialistischen Osten zusammenzuschweißen. Die feste Einbindung der BRD in das westliche Militärbündnis und ihre Aufnahme in die politische Gemeinschaft des Westens war daher nicht Ergebnis, sondern vielmehr Voraussetzung ihrer wirtschaftlichen Integration im Rahmen der EG, der heutigen EU.
Und was die im Manifest so gelobte »Solidarität« und den »gemeinsamen Wohlstand« der Anfangszeit angeht, sei hier an die Aussage des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France in der Nationalversammlung aus Anlass der Ratifizierung der Römischen Verträge am 18. Januar 1957 erinnert: »Um schließlich zum Kern zu kommen, das Projekt des Gemeinsamen Marktes, so wie es uns vorgestellt wird, oder wenigstens, so wie man es uns wissen lässt, ist auf den klassischen Liberalismus gegründet, nach dem die Konkurrenz ohne Wenn und Aber alle Probleme löst.«² Dieser Liberalismus prägt die EU von ihren Anfängen bis heute. Die vier Binnenmarktfreiheiten für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen stellen quasi die Verfassung der EU dar. Auf diesen »Freiheiten« beruht auch das System des Euros. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaften richtete sich zugleich gegen die sozialpolitischen Erfolge der Arbeiterbewegungen in Frankreich, Italien, Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs. So wurde die Sozialstaatsklausel des deutschen Grundgesetzes vor allem durch die europäische Einigung eingeschränkt.
Es lag daher nicht »ein Schlangenei im Herzen des Integrationsprozesses«, wie uns Varoufakis und andere glauben machen wollen. Es ist vielmehr der unter ganz normalen kapitalistischen Bedingungen ablaufende europäische Integrationsprozess selbst, der dieses Monster EU hervorgebracht hat.
Verrat der europäischen Idee
Da die Autoren diese Zusammenhänge ignorieren, nehmen sie zur Begründung ihrer Kritik an der EU Zuflucht zu Theorien des Verrats und der Verschwörung: »Doch leider trennen eine gemeinsame Bürokratie und eine gemeinsame Währung heute die europäischen Völker, die trotz unterschiedlicher Sprachen und Kulturen auf dem Weg zur Einigung waren. Eine Verschwörung kurzsichtiger Politiker, ökonomisch naiver Beamter und in Finanzdingen inkompetenter ›Experten‹ unterwirft sich sklavisch den Beschlüssen der Finanz- und Industriekonzerne, entfremdet die Europäer einander und schürt eine gefährliche europafeindliche Stimmung. Stolze Völker werden gegeneinander aufgestachelt. Nationalismus, Extremismus und Rassismus erwachen wieder.« Und an anderer Stelle heißt es: »Im Zentrum unserer zerfallenden EU liegt ein böser Betrug: Ein durch und durch politischer, undurchsichtiger und autokratischer Entscheidungsprozess wird zu einem ›unpolitischen‹, ›rein technischen‹, ›prozeduralen‹ und ›neutralen‹ Verfahren erklärt. Dessen Zweck ist es, die Europäer daran zu hindern, eine demokratische Kontrolle über ihre Währung, ihre Finanzen, ihre Arbeitsbedingungen und ihre Umwelt auszuüben.«
Es fehlt hier jedes Verständnis für den engen gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen Basis und Überbau, genauer zwischen einer monopolkapitalistischen Ökonomie als gesellschaftlicher Grundlage und dem darauf fußenden rechtlichen, politischen und kulturellen Überbau des bürgerlichen Staats, zu dem auch die EU als zwischenstaatliches Gebilde gehört. Marxisten bezeichnen dieses gesamte System als »Staatsmonopolistischen Kapitalismus«. Zwar ist es der Arbeiterbewegung und anderen fortschrittlichen Kräften immer wieder gelungen, Breschen in den bürgerlichen Staatsapparat zu schlagen, um sich dort zu verankern und anschließend weiteres Terrain zu erobern, doch eine vollständige Demokratisierung des staatlichen Überbaus ist nur möglich, wenn sie mit der Umwälzung der materiellen Basis der Gesellschaft, d. h. mit der Aufhebung des kapitalistischen Eigentums, zumindest an den Monopolunternehmen, einhergeht.
Eine solche, grundlegende Veränderung kann nur von der nationalen, einzelstaatlichen Ebene ausgehen. Die EU bietet dagegen fortschrittlichen Bewegungen keinen Raum. Der Kampf um Demokratie und soziale Rechte kann in ihr nicht erfolgreich geführt werden, da eine europäische Öffentlichkeit so gut wie nicht existiert. Es fehlt dafür schon an einer gemeinsamen Sprache. Es gibt keine europaweiten Medien, in denen die gesellschaftlichen Debatten grenzüberschreitend geführt werden könnten. Es fehlt an parteipolitischer und gewerkschaftlicher Zusammenarbeit. Bei den europäischen Parteien handelt es sich nicht um solche im klassischen Sinne. Es sind lediglich »Parteienparteien«, bloße Zusammenfassungen der jeweils nationalen Organisationen auf europäischer Ebene. Auch die Gewerkschaftsbewegungen der Mitgliedsländer arbeiten weitgehend isoliert voneinander. Unterschiedliche Traditionen, Organisationsformen und Rechtsordnungen behindern ein einheitliches Auftreten.
Warnung vor »Renationalisierung«
Nach Ansicht der Autoren des Manifests »zerfällt« heute dieses »ineffiziente, autoritäre, illegitime und antidemokratische Europa«, und die Europäer »werden vor die falsche Wahl« gestellt: »Rückzug in den Kokon unserer Nationalstaaten« oder »Unterwerfung unter Brüssels demokratiefreie Zone«. Aber beide Konsequenzen, die »Rückkehr zum Nationalstaat« oder das »Festhalten an der gegenwärtigen EU sind schrecklich für Europa, Europäer und Europeanists«. Scharfe Kritik übt das Manifest dabei an einem »Rückzug in den Nationalstaat«: »Dieser Prozess (der Erneuerung der autoritären Macht in der EU, A. W.) läuft unbemerkt ab und sorgt dafür, dass sich Europas Völker in der Krise nach innen und gegeneinander wenden und vorhandene chauvinistische und fremdenfeindliche Tendenzen sich verstärken. Die Privatisierung der Angst, die Furcht vor dem ›anderen‹, die Nationalisierung von Ambitionen und die Renationalisierung der Politik können eine toxische Auflösung gemeinsamer Interessen bewirken, unter der Europa nur leiden wird.«
Diese pauschale und undifferenzierte Kritik am Nationalstaat muss verwundern, denn als ehemaliger griechischer Finanzminister müsste es Varoufakis eigentlich besser wissen. Hat er doch am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, wenn ein schwaches Land wie Griechenland der Gewalt der EU-Kernstaaten, mit Deutschland an der Spitze, ausgeliefert ist, wenn es zu einer Halbkolonie degradiert wird. Einen »Kokon«, besser noch einen nationalen Schutzschild durch die Geltendmachung der Option des Austritts aus der Euro-Zone, hätte Griechenland in dieser Situation bitter nötig gehabt!
Demokratie als »Gegengift«
Das Manifest verlangt eine »unverzügliche Demokratisierung« der EU: »Der Realitätssinn verlangt, dass wir uns vornehmen, in einem realistischen Zeitrahmen bestimmte Ziele als Meilensteine zu erreichen. Deshalb setzt sich DiEM 25 vier Durchbrüche in regelmäßigen Zeitabschnitten zum Ziel, um bis 2025 zu einem vollkommen demokratischen, funktionierenden Europa zu gelangen. (…) Wir müssen uns zur Einigkeit entschließen, um dafür zu sorgen, dass Europa die Wahl trifft, die auf der Hand liegt: echte Demokratie!«
Doch auch nur der kleinste Fortschritt auf Ebene der EU setzt voraus, dass sich zuvor die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsländern ändern. Dafür gibt es aber heute keinerlei Anzeichen. Oskar Lafontaine hat in der jungen Welt vom 14. Oktober 2015 auf diese aussichtslose Situation, bezogen auf die Euro-Zone, hingewiesen: »Das Warten auf eine linke Mehrheit in allen 19 Mitgliedsstaaten ist ein Warten auf Godot, ein politischer Selbstbetrug, insbesondere deshalb, weil auch die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas das neoliberale Politikmodell übernommen haben.«³ Für die in der Finanzkrise unter Druck der europäischen Kernstaaten geratenen Länder wie Griechenland, Zypern, Portugal und womöglich auch bald Spanien und Italien, bedeutet das, sich auf die eigenen Kräfte verlassen zu müssen und dabei auch einen Austritt aus der Euro-Zone nicht länger auszuschließen. Im »Plan B«, den Varoufakis im September 2015 zusammen mit Oskar Lafontaine, Zoe Konstantopoulou, Jean-Luc Mélenchon und Stefano Fassina veröffentlicht hatte, ist diese Austrittsoption enthalten. Im Manifest des DiEM25 ist hiervon aber keine Rede. Und so war es denn wohl auch kein Zufall, dass Varoufakis seine Teilnahme an der Veranstaltung der Initiatoren von »Plan B« am 23./24. Januar in Paris abgesagt hatte.
Realitätsfremde Forderungen
»Auf die Frage, was wir wollen und wann wir es wollen, antworten wir: Sofort: Volle Transparenz bei der Entscheidungsfindung. Innerhalb von zwölf Monaten: Die aktuelle Wirtschaftskrise mit den bestehenden Institutionen und im Rahmen der bestehenden EU-Verträge angehen, Innerhalb von zwei Jahren: Eine verfassunggebende Versammlung.«
Die verlangte Transparenz bei der Entscheidungsfindung ist darunter noch die konkreteste Forderung. Sie soll per Livestream aus bisher geschlossenen Sitzungen, etwa des Rats, und durch die Veröffentlichung von Protokollen, z. B. der Sitzungen des Gouverneursrats der Europäischen Zentralbank, erreicht werden. Außerdem sollen »alle Dokumente im Zusammenhang mit wichtigen Verhandlungen (zum Beispiel TTIP, ›Rettungs‹-Kredite, über den Status Großbritanniens), die alle Facetten der Zukunft der Europäer betreffen, ins Netz gestellt werden«. Es sollen sich auch »alle Lobbyisten registrieren lassen und dabei die Namen ihrer Kunden angeben, wieviel Geld sie erhalten und wann sie sich mit (gewählten und nicht gewählten) Vertretern Europas getroffen haben«. All diese Forderungen sind zu begrüßen. Sie sind aber nicht besonders originell, werden sie doch seit Jahren von Nichtregierungsorganisationen und auch Parteien erhoben.
Weniger konkret sind dann schon die Vorhaben, mit denen man die aktuelle Wirtschaftskrise innerhalb der nächsten zwölf Monate angehen will. Hier beschränkt sich das Manifest auf die Nennung von lediglich fünf Themen: Staatsschulden, Banken, Investitionsschwäche, Migration und wachsende Armut. Vier davon, Migration wurde erst in die letzte Fassung des Manifests aufgenommen, entsprechen Kapitelüberschriften des Buches »Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Euro-Krise« von Gianis Varoufakis sowie den Ökonomen Stuart Holland (Großbritannien) und James K. Galbraith (USA), das im Frühjahr 2015 auf Deutsch erschien. Im Zentrum dieses Bandes steht der Plan, die Schulden der Banken der einzelnen Mitgliedsstaaten in eine riesige Badbank auf europäischer Ebene in den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu transferieren, um so die »tödliche Umklammerung von Banken und Staaten aufzulösen«.⁴ Doch diese Forderung ist vollkommen unrealistisch, da die Übertragung der Schulden der nationalen privaten Banken auf den ESM so ziemlich das letzte wäre, was die Politik in Berlin, Paris und anderen Hauptstädten anstrebt. Jetzt wird man also mit einer Wiedervorlage der Positionen dieses Buches, nun als Forderungen der DiEM 25, rechnen dürfen.
Ähnlich realitätsfremd ist auch die Forderung, innerhalb von zwei Jahren eine »Verfassunggebende Versammlung« einzuberufen. Wie diese zustande kommen soll, erfährt man nicht. Mitgeteilt wird allein: »DiEM 25 wird für eine Verfassunggebende Versammlung werben, die aus Vertretern besteht, die über transnationale Listen gewählt werden.« Weitreichend sollen hingegen ihre Kompetenzen sein: »Die Versammlung, die daraus hervorgehen wird, wird die Befugnis haben, über eine künftige demokratische Verfassung zu entscheiden, die innerhalb eines Jahrzehnts die bestehenden Europäischen Verträge ersetzen wird.«
Die Idee einer europäischen Verfassung ist ein alter Hut. Der »Vertrag über eine Verfassung für Europa« scheiterte 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden. Und keine Regierung in der EU denkt daran, dieses Thema wieder aufzugreifen. Jede Änderung der Europäischen Verträge fällt zudem in die Kompetenz der Staaten. Das war auch bei der gescheiterten Verfassung so. Der Entwurf des Europäischen Konvents wurde seinerzeit in einer EU-Regierungskonferenz überarbeitet und verändert. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Mitgliedsstaaten jemals ihre Zuständigkeit dafür aus der Hand geben könnten.
Klassenneutrales Manifest
Wer soll nun den Wandel auf europäischer Ebene herbeiführen? Die Autoren des Manifests maßen sich an, für die europäischen Völker zu sprechen: »Wir, die Völker Europas, haben die Pflicht, uns die Kontrolle über unser Europa von nicht rechenschaftspflichtigen ›Technokraten‹, Politikern, die ihre Komplizen sind, und dubiosen Institutionen zurückzuholen. Wir kommen aus allen Teilen des Kontinents und sind vereint durch unterschiedliche Kulturen, Sprachen, Akzente, parteipolitische Ausrichtung, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensüberzeugungen und unterschiedliche Vorstellungen, wie eine gute Gesellschaft aussieht. Wir bilden DiEM 25 in der Absicht, von einem Europa nach dem Motto ›Wir, die Regierungen‹ und ›Wir, die Technokraten‹ zu einem Europa nach dem Motto ›Wir, die Völker Europas‹ zu gelangen.« Hierzu passt die Aussage von Varoufakis, wie sie auf faz.net vom 10. Februar wiedergegeben wird: »Es gehe ihm nicht darum, eine neue Partei zu gründen aus einem bestimmten Land heraus. Vielmehr gehe es um eine grenzüberschreitende Bewegung, die allen demokratischen Kräften offen stehe – Linken, Grünen, Sozialisten und Liberalen.« Es ist diese Klassenneutralität, die Giannis Milios, lange Zeit Chefökonom von Syriza, polemisch auf den Punkt brachte: »Varoufakis ist ein liberaler Clown. Der meint, weil wir eine Krise haben, gibt es keinen Klassenkampf mehr, weil wir eine Krise haben, sind die Interessen von Unternehmern und Arbeitern gleich. Ein solcher Politiker hat mit der Linken wenig zu tun.«⁵
Wozu das Ganze?
Was ist nun Funktion des Manifests der Bewegung DiEM 25? Als Initiative pro Europäische Union, die sie trotz aller Radikalität ihrer Forderungen ist, bleibt sie anschlussfähig an Positionen etwa von Jürgen Habermas, Daniel Cohn-Bendit oder an die des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Sie und noch viele andere mehr haben ganz ähnliche Forderungen nach einer Stärkung der EU und der gleichzeitigen Entmachtung der Mitgliedsstaaten erhoben.⁶ Der Auftritt der deutschen Sozialdemokratin Gesine Schwan bei der Präsentation des Manifests in der Volksbühne zeigt hier die Richtung, mit wem die Zusammenarbeit gesucht wird. Damit unterscheidet sich DiEM 25 klar von der »Plan B«-Initiative von Lafontaine und anderen, die eine Stärkung der nationalen Souveränitätsrechte ausdrücklich vorsieht.
Nicht zuletzt dient DiEM 25 dazu, die in der Krise um Griechenland bekanntgewordene »Marke Gianis Varoufakis« in der Öffentlichkeit möglichst lange präsent zu halten. Doch ob sich das Stück, das in der Volksbühne seine Premiere erlebt hat, angesichts der beschriebenen Unbestimmtheit und Illusionen lange auf den Brettern halten wird, darf bezweifelt werden.
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Anmerkungen
1 http://diem25.org/de/ Die im Artikel nicht gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf diesen Text.
2 Zitiert nach Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung. Stuttgart, 2004, S. 355
3 Oskar Lafontaine: Zersplitterung überwinden, in: junge Welt vom 14.10.2015
4 Vgl. Andreas Wehr: Links ist das nicht, Rezension des Buches in junge Welt vom 29.6.2015
5 Ein Gespräch mit Giannis Milios in junge Welt vom 25.9.2015
6 Vgl. Andreas Wehr: Der Europäische Traum und die Wirklichkeit. Über Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen. Köln 2013 – auch im jW-Shop erhältlich