Der lange Weg zum Brexit - Wie es zur Entscheidung über den Austritt Großbritanniens aus der EU kam
- Andreas Wehr
Mehr als drei Jahre sind seit der Entscheidung der Briten über den Austritt des Landes aus der Europäischen Union vergangen und noch immer ist ungewiss, wann der Austritt tatsächlich erfolgt. Möglich ist sogar, dass er am Ende gar nicht stattfindet.
Das Brexit-Votum hatte einen langen Vorlauf. Der Volksabstimmung vom 23. Juni 2016 ging eine politische Auseinandersetzung über die EU voraus, die bis weit in die neunziger Jahre zurückreicht. In diesen Jahren bildeten sich die Kräfte heraus, die es schließlich der konservativen Regierung unter David Cameron unmöglich machte, das Verlangen nach einem Referendum zu ignorieren.[1]
Entscheidend war die Unterzeichnung des Lissaboner Vertrags auch durch die britische Regierung. Die mit ihm einhergehenden weiteren Einschränkungen der Souveränitätsrechte der Mitgliedsländer stärkten die Austrittsbefürworter. Dieser Zusammenhang sollte von den deutschen Linken bedacht werden, waren sie doch ebenfalls einstmals Gegner des Lissaboner Vertrags. Heute hingegen ist aber die Partei DIE LINKE in ihrer Ablehnung des Brexits nicht von den übrigen Bundestagsparteien zu unterscheiden.
„Eine immer engere Union der Völker Europas“
Gibt es angesichts der unterschiedlichen, ja sogar gegensätzlichen Motive der Austrittsbefürworter ein verbindendes, zentrales Thema? Unter den Forderungen von David Cameron für die Verhandlungen mit der EU im Frühjahr 2016, bei der es darum ging, das Referendum über die EU im letzten Augenblick noch abzuwenden, befand sich auch diese:
„Es müsse verbindlich vereinbart werden, dass das vertraglich verankerte Ziel einer immer engeren Union nicht länger für Großbritannien gelten solle.“ Es ging dabei um die Frage der nationalen Souveränität. „Eine immer engere Union der Völker Europas“ ist seit dem Vertrag von Maastricht von 1992 der Leitspruch der EU. Damit unterstreicht sie ihren Willen, einen politischen Zusammenschluss zu erreichen, in dem die Mitgliedsländer weitgehend aufgehen. Auf dem Weg dahin wurde mit Maastricht die bisherige Europäische Gemeinschaft (EG) von der Europäischen Union (EU) abgelöst. Dazu wurde ein eigenständiger Vertrag über die Europäische Union (EUV) geschaffen, in dem – ganz ähnlich wie in den nationalstaatlichen Verfassungen – allgemeine, grundsätzliche Angelegenheiten geregelt sind. Mit der Festlegung eines Europatags am 9. Mai, der Verständigung auf die blaue Flagge mit den zwölf goldenen Sternen im Kreis und der Europahymne, zu der man Beethovens Ode an die Freude erwählte, sollte mit Hilfe von Symbolen der Anspruch auf eine gewisse Staatlichkeit unterstrichen werden. Hinzu kam eine eigene Unionsbürgerschaft. Im Vertrag von Maastricht wurde nicht nur der Weg hin zu einer gemeinsamen Währung, dem Euro, festgelegt, geschaffen wurden auch die Grundlagen für eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik und für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik.[1]
Für Großbritannien hatte der konservative Premierminister John Major den Vertrag von Maastricht unterschrieben. Anders als in Frankreich und in Dänemark gab es im Vereinigten Königreich keine Volksabstimmung darüber. Und doch sollte „Maastricht“ auch für Großbritannien den Beginn einer neuen Debatte um die Bedeutung der nationalen Souveränität darstellen, an deren Ende jetzt der Austritt steht. Seit der Auseinandersetzung um den EG-Beitritt 1973, die erst mittels einer Volksabstimmung beendet werden konnte, war die Kritik an der europäischen Integration weitgehend verstummt.[2] Die weitreichenden Festlegungen von Maastricht auf einen Weg in die politische Union weckten aber neuen Widerstand. Unterschiedlichste Gruppen von EU-Gegnern fanden im „Congress for Democracy“ und in der „Referendum Party“ des Milliardärs James Goldsmith zusammen. Bei den Unterhauswahlen von 1997 erhielt diese Partei gut 800.000 Stimmen und wurde damit viertstärkste Kraft. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts gelang jedoch der Einzug in das Unterhaus jedoch.
Der Ausarbeitung einer Verfassung für die Union Anfang der 2000er Jahre standen in Großbritannien viele skeptisch gegenüber. Und so kündigte Tony Blair an, das Volk über den 2003 vorgelegten Verfassungsvertrag abstimmen zu lassen. Doch nach dessen Ablehnung in Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Sommer 2005 war dies hinfällig geworden. Der zwei Jahre später vorgelegte Lissabonner Vertrag war allerdings so gut wie identisch mit der gescheiterten Verfassung, weshalb die Forderung nach einer Volksabstimmung in Großbritannien erneut aufkam. Der 2005 zum Vorsitzenden der Konservativen gewählte David Cameron sah hierin eine gute Gelegenheit, um als Oppositionsführer die Labour-Regierung unter Druck setzen zu können. Noch bevor der Lissabonner Vertrag fertig ausgehandelt war, gab er im September 2007 in einem Artikel in der Tageszeitung Sun die „eiserne Garantie“ ab, als Premierminister eine Volksabstimmung über den kommenden Vertrag abhalten zu lassen.[3]
Zwei Jahre später, am 4. November 2009, nahm Cameron diese „eiserne Garantie“ aber zurück. Was waren die Gründe dafür? Zum Zeitpunkt der Ratifizierung des Vertrags in Großbritannien war er nur Oppositionsführer und konnte ihn daher nicht blockieren. Er konnte nur hoffen, dass er noch nicht ratifiziert sein würde, sollte er nach den anstehenden Unterhauswahlen im Mai 2010 Premierminister werden. In einem Brief hatte er daher den tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus gebeten, den Ratifizierungsprozess in dessen Land bis zum Mai 2010 aufzuhalten.[4] Doch Klaus setzte am 3. November 2009 in Prag seine Unterschrift unter die Ratifikationsurkunde. Damit war der Vertrag in allen damals 27 Mitgliedsländern ratifiziert und konnte am 1. Dezember 2009 in Kraft treten. Cameron blieb nichts anderes übrig, als sein Versprechen zurückzunehmen.
Dieser Rückzug kostete Cameron möglicherweise die Mehrheit bei den Wahlen im Mai 2010. Um dennoch Premierminister zu werden, war er deshalb gezwungen, eine Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten einzugehen, einer Partei, die traditionell als die proeuropäischste Großbritanniens gilt. Sein europapolitischer Spielraum war damit stark eingeschränkt. Unter vielen Konservativen war angesichts dieses „Verrats“ ihres Parteiführers der Unmut groß. Sie sammelten sich in der Bruges-Group, einer Vereinigung, die entschieden gegen die EU eintritt.[5] Die Ereignisse um die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags spielten zudem der bis dahin weitgehend unbeachtet gebliebenen UK Independence Party unter Nigel Farage in die Hände: Ihre Umfragewerte begannen zu steigen.
Das Werben um eine Volksabstimmung
Nachdem die konservativen Kritiker das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch in Großbritannien nicht hatten verhindern können, änderten sie ihre Strategie. Sie verlegten sich nicht länger auf einen Kampf gegen die EU-Politik des eigenen Premierministers, sie suchten jetzt das Bündnis mit Persönlichkeiten außerhalb des eigenen Lagers, mit Gewerkschaftern und Labour-Politikern. Einigendes Band sollte dabei nicht mehr die Gegnerschaft gegenüber der EU sein. In dem im März 2011 begründeten Bündnis „People’s Pledge“ (Volksbegehren) sollten sich vielmehr alle versammeln können, die eine Volksabstimmung über die weitere Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU, eine „in-out poll“, verlangten. Man legte Wert auf Neutralität. Und so unterschrieben auch viele, die zwar für eine weitere Mitgliedschaft ihres Landes eintraten, zugleich aber, angesichts der mit dem Lissabonner Vertrag verbundenen Einbußen an nationalen Souveränitätsrechten, ein Referendum verlangten, da aus ihrer Sicht nur das Volk über solch existenzielle Fragen entscheiden dürfe.[6] „People not politicians should decide our future with the European Union“ lautete der Slogan der sich als überparteiliche Grass-Roots-Bewegung verstehenden Initiative.
Ziel war es, eine der beiden großen Parteien des Landes – also die Konservativen oder Labour dazu zu bringen, eine solche Volksabstimmung über die weitere Mitgliedschaft abzuhalten. Nach Lage der Dinge kam dafür aber nur die Konservative Partei infrage, da sich Labour spätestens seit der Amtszeit Blairs auf ein bedingungsloses Ja gegenüber der EU festgelegt hatte. Der gewerkschaftliche, linke, euroskeptische Flügel war längst an den Rand gedrängt worden.
Um ihr Anliegen durchzusetzen, begann „People’s Pledge“ in ausgewählten Wahlkreisen Abstimmungen zu organisieren, mit denen die dortigen Abgeordneten verpflichtet werden sollten, die Forderung nach einem landesweiten Referendum zu unterstützen. Das Kalkül war, dass nach ersten Erfolgen sich schnell weitere Abgeordnete bereitwillig dem Verlangen anschließen würden, um nicht erst durch eine Mehrheit im eigenen Wahlkreis dazu gezwungen zu werden. Die Taktik ging auf. Bereits bei den ersten Abstimmungen in einigen Wahlkreisen lag die Beteiligung über der an Unterhauswahlen und deutlich höher als bei Wahlen zum Europäischen Parlament. Wahlkreis um Wahlkreis wurde so der Druck vor allem auf die regierenden Konservativen größer. Nach spektakulären Erfolgen in Thurrock in Essex sowie in Cheadle und Hazel Grove im Süden Manchesters sprach schließlich Cameron im September 2012 erstmals über die Notwendigkeit eines neuen Abkommens („fresh settlement“) mit der EU und eines neuen Konsenses mit Blick auf die künftige EU-Mitgliedschaft Großbritanniens. Im Januar 2013 konkretisierte er seine Pläne in einer Ansprache in der Agentur Bloomberg und versprach, im Falle seiner Wiederwahl 2015 noch im selben Jahr ein Referendum über die Mitgliedschaft abzuhalten. Kurz darauf gaben die liberalen Koalitionspartner ihren Widerstand dagegen auf, und auch die Labour Party erklärte, sie würde sich nach einem Wahlsieg nicht gegen die Abhaltung eines solchen Referendums wehren.
Cameron gewann die Parlamentswahlen vom 7. Mai 2015. Noch im Herbst des Jahres begannen die Verhandlungen mit der EU über die Forderungen der Regierung nach modifizierten Bedingungen für die Mitgliedschaft des Landes. Dabei ging es vor allem, wie beschrieben, um ein britisches Opt-out bei den Zielbestimmungen der Union aber auch um Änderungen bei der Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Zustrom von Millionen Arbeitskräfte aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten hatte nämlich zu einer Überlastung der sozialen Infrastruktur Großbritanniens geführt. Auch waren die britischen Lohnabhängigen einem wachsenden Konkurrenzdruck billiger und williger Arbeitskraft aus anderen EU-Ländern ausgesetzt.
Die Verhandlungen mit der EU erbrachten aber nur magere Ergebnisse. Die Anhänger des „People’s Pledge“ ließen sich davon nicht von ihrer Forderung nach einem Referendum abbringen. Premierminister David Cameron war gezwungen, der Abhaltung einer solchen Volksabstimmung zuzustimmen. Als Termin dafür wurde der 23. Juni 2016 festgesetzt.
[1] Zur Entstehung und zum Inhalt des Vertrags von Maastricht vgl. Andreas Wehr, Die Europäische Union, 2015, S. 49-93
[2] »Euroscepticism had been largely extinguished in 1975, when the country voted by two to one to remain in the EEC (der EG, A. W.). The last members were stamped out when Michael Foot’s anti EEC-Labour Party was crushed in 1983. After that, the issue disappeared from the public arena.« In: Hannan, 2016, S. 25
[3] »Today, I will give this cast-iron guarantee: if I become PM a Conservative government will hold a referendum on any EU treaty that emerges from these negotiations. No treaty should be ratified without consulting the British people in a referendum.« Zitiert nach: Hannan, 2016, S. 33
[4] Klaus hat weiteren Grund gegen Lissabon-Ratifizierung. in: Der Standard vom 23.9.2009, http://derstandard.at
[5] Der Name geht auf eine euroskeptische Rede von Margaret Thatcher zurück, die sie im September 1988 in der belgischen Stadt Brügge hielt.
[6] »We settled on the name ›People’s Pledge‹, and were careful to avoid the more familiar Eurosceptic faces at our launch. Prominent among our early supporters were Labour’s Natascha Engel and Keith Vaz. Within five days, we had 42,000 registered supporters and 3,000 volunteers.« in: Hannan, 2016, S. 37
Der Artikel beruht auf dem Text des Abschnitts „Der Brexit – Anfang vom Ende der EU?“ meines Buches Europa, was nun? Trump, Brexit, Migration und Eurokrise, PapyRossa Verlag Köln 2018