Der Niedergang des Wahlrechts

von

Der Marxismus Domenico Losurdos - Über den Zusammenhang seines Denkens (Teil 13)

Nach einer Epoche des erfolgreichen Kampfes um das Wahlrecht mit dem Ergebnis seiner Ausweitung auf diskriminierte ethnische Gruppen, auf Frauen, Einwanderer und sozial Deklassierte, Erfolge, die untrennbar mit der Oktoberrevolution 1917 und der Niederringung des Faschismus 1945 verbunden sind, ist mit dem Sieg des Neoliberalismus, zunächst in Großbritannien 1979 mit Thatcher und dann 1981 unter Reagan in den USA, weltweit die erneute Einschränkung der Demokratie und damit ein Niedergang des Wahlrechts zu konstatieren. Auf eine lange Phase der Emanzipation folgte eine der De-Emanzipation, die mit der Niederlage des europäischen Sozialismus weiteren Schwung erhielt und bis heute andauert. Losurdo beschreibt diese Phase in seinem Bonapartismus-Buch unter der Überschrift „Das zwanzigste Jahrhundert und der neue Sieg des Soft-Bonapartismus“: „Wie das 20. Jahrhundert beim Eingreifen in den Ersten Weltkrieg und danach im Laufe seiner Entwicklung mit einer Demonstration der Überlegenheit des amerikanischen Modells begann, so endet es mit einem neuen strahlenden Sieg des modernen Bonapartismus, in dessen Zentrum ein leader steht, stark dank seiner – einer Volksabstimmung ähnlichen – Investitur durch das Volk, ebenso durch höchst umfangreiche Machtbefugnisse, die er ausübt und die er mit dem Ausnahmezustand über die Maßen ausweiten kann, stark durch den Heiligenschein, der ihm von daher zuwächst, dass er der Sprecher der heiligen Mission der Freiheit ist, stark durch die Möglichkeit, über einen gigantischen Apparat der Propaganda und der verborgenen Überredung zu verfügen. Diesen Sieg unmittelbar mit dem Vormarsch der Demokratie zu identifizieren, bedeutet, unkritisch die Ideologie des Krieges und die Ideologie des Imperiums der Freiheit zu unterschreiben, die stets die Geschichte der Vereinigten Staaten begleitet und zu deren weltweitem Aufstieg den Takt angegeben hat und in unseren Tagen den Triumph des Soft-Bonapartismus besiegelt.“ [1]  

Demokratie als Markt

Bezeichnend für den Niedergang der Demokratie ist ihre Reduktion auf das Marktgeschehen, ein zentraler Angelpunkt liberalen Denkens seit Benjamin Constant: Nur wer sich am Markt bewährt und durchsetzt, ist auch der Demokratie würdig, so lautet zusammengefasst die Botschaft. Losurdo referiert die Gedanken Ludwig von Mises, wenn er schreibt: „Der Markt ist die authentische und friedfertige Demokratie, in deren Bereich 'jeder Pfennig einen Stimmzettel darstellt' und wo jedes Mandat jeden Augenblick vom Verbraucher rückgängig gemacht werden kann, der eben deswegen der wahre 'Herr der Produktion' ist.“ [2] In Fortführung dieses Gedankens folgt für Joseph Schumpeter für die Wahrnehmung der politischen Rechte und der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, dass „die Fähigkeit (dazu) bemessen wird nach der Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen.“ [3] Beliebt ist bei den neoliberalen Theoretikern auch die Metapher der Aktiengesellschaft. „Natürlich haben nach Burke 'alle Menschen gleiche Rechte', aber es gilt auch, dass die 'Dividende' 'proportional' zum eingezahlten Kapital verteilt wird.“ [4] In einer Zeit, in der das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts nicht mehr offen infrage gestellt werden kann, wird nach Losurdo „die Gestalt des Bürgers oder des Menschen zu der des Aktionärs oder des Verbrauchers verflacht“. [5] Im Ergebnis „werden die unteren Klassen, die danach streben, ihr Recht auf Leben und auf die Würde einer menschlichen Existenz garantiert zu sehen, auf eben dieselbe Welt der Warenverteilung zurückverwiesen, die zu überwinden sie gehofft hatten.“ [6]  

Der Metapher des Marktes entspricht auch der Beschränkung der Demokratie lediglich auf einen friedlichen Wettbewerb unterschiedlicher Führer und Leitungsgruppen: „In diesem Sinne ist die Demokratie das Analogon des Marktes auf der politischen Ebene, mit seiner Konkurrenz und der Vielfalt von Wahlmöglichkeiten, die dieser mit sich bringt.“ [7] Ihre Reduktion auf formale Kriterien und auf die Einhaltung bloßer Spielregeln bedeutet zugleich, dass die Essenz der Gesellschaft, die realen sozialen Verhältnisse, jenseits von ihr und damit unberührt bleibt, so dass sie mittels des gleichen und allgemeinen Wahlrechts nicht infrage gestellt werden kann. Und sollte dies dennoch einmal versucht werden, so kann „sich die bestehende Macht auf den Ausnahmezustand berufen, um die Spielregeln außer Kraft zu setzen (…)“ [8], indem sie Zuflucht zu einem „Soft-Bonapartismus“ nimmt.

In einem Gegensatz zur bloß formalen Demokratie, die sich allein auf die Festlegung der Spielregeln beschränkt, um einen regelmäßigen Wechsel zwischen den Eliten bei der Erledigung der Staatsgeschäfte zu gewährleisten, steht die von Losurdo als „substanziell“ bezeichnete Demokratie. [9] Dabei handelt es sich um eine Regierungsform, in der Politik und Wirtschaft nicht mehr strikt voneinander getrennt sind, und die sich an den Interessen der breiten Bevölkerungsmehrheit, an Vollbeschäftigung und sozialer Sicherheit, ausrichtet. Eine ganze Reihe von Verfassungsordnungen westeuropäischer Staaten, die nach 1945, auf „dem Gipfel der Emanzipationsbewegung des 20. Jahrhunderts“, erkämpft wurde, ist vom Willen zur Schaffung jener „substanziellen Demokratie“ geprägt. Dies gilt für die italienische Verfassung [10] wie für das deutsche Grundgesetz, in dem die Sozialstaatsklausel des nicht veränderbaren Artikels 20 Abs.1, wonach die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist“, der entscheidende Ansatzpunkt für eine Auslegung darstellt, wonach das Grundgesetz offen auch für eine grundlegende Änderung der Wirtschaftsordnung in Richtung einer sozialistischen ist. Diese Sozialstaatsklausel weist der „im demokratischen Staat repräsentierten Gesellschaft die Möglichkeit zu, ihre eigenen Grundlagen umzuplanen“. [11]          

Spätestens mit Ende des Ersten Weltkrieges konnte für die maßgeblichen liberalen Denker kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass an der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts kein Weg mehr vorbeiführt. Losurdo zitiert hier den deutschen Soziologen Max Weber: „Heute (kann) nur das gleiche Wahlrecht am Ende von Wahlrechtskämpfen stehen. (…) „Das 'gleiche' Wahlrecht ist die logische und unausweichliche Konsequenz aus der Gleichheit vor dem 'Schicksal' und vor dem 'Tode', die in den Schützengräben zur Wirklichkeit wurde; im Ausgleich dafür wird auch der 'letzte Mann' die paritätische Teilnahme am Wiederaufbau der Nation fordern können und wollen, während er jeden kurzatmigen Ersatz und jede andere Lösung mit Verachtung zurückweisen wird. Als 'Staatsbürger' wird der Soldat 'in den Krieg geschickt, ohne Unterschied des Besitzes und des Diploms'“ [12]  

Mehrheits- statt Verhältniswahlrechts

Kann daher das Wahlrecht als solches nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden, so konzentrierten sich die liberalen Denker fortan darauf, seine Ausgestaltung zu bestimmen, um es möglichst ins Leere laufen zu lassen. Und hier ging und geht es in erster Linie darum, das Mehrheits- an Stelle des Verhältniswahlrechts zu setzen. Zitiert wird von Losurdo Hayek, für den es „nicht offenkundig (ist), dass die Proportionalvertretung aufgrund ihres in höherem Maße demokratischen Aspektes vorzuziehen sei“. Auch Schumpeter wird angeführt, für den das Verhältniswahlrecht „ein Faktor der Instabilität sei“. [13] Für Losurdo liegt auf der Hand, weshalb die beiden österreichischen liberalen Theoretiker zu diesem Schluss kommen: „Die Verurteilung des Verhältniswahlrechts ist das Resultat der Kritik und des Unbehagens, die nach den kolossalen revolutionären Umwälzungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgen, in Italien wie in Österreich zum Ausdruck kommen.“ [14] Und auch heute dient das Mehrheitswahlrecht nach dem Prinzip „the winner takes all“ dazu, die aus liberaler Sicht negativen, da egalitären Folgen von Wahlen zu blockieren. Traditionell findet es in Großbritannien Anwendung. In Frankreich bestimmt es seit dem Staatsstreich De Gaulles 1958 die Politik. Im Ergebnis können sich in Großbritannien aussichtsreiche linke Wahlalternativen erst gar nicht bilden, da sie von vorherein chancenlos gegenüber den dominierenden Parteien Labour und Konservative sind. Oder sie werden, wie in Frankreich, systematisch benachteiligt, wo antikapitalistische Parteien regelmäßig gezwungen sind, mit Parteien der Mitte wahltaktische Bündnisse einzugehen, um überhaupt parlamentarisch vertreten sein zu können. In Japan garantiert das Mehrheitswahlrecht der Liberaldemokratischen Partei (LDP) seit nunmehr 70 Jahren das Machtmonopol. Mit Ausnahme kurzer Unterbrechungen stellt sie seit 1955 die Regierung. Zu Richtungswechseln in der Politik Japans kommt es dort allenfalls nach Machtverschiebungen innerhalb der herrschenden LDP.   

Gibt es aber in der Geschichte Frankreichs wie auch Japans Phasen, in denen das Verhältniswahlrecht angewandt wurde, und wird daher dort immer wieder über seine erneute Einführung diskutiert, so gilt das nicht für Großbritannien sowie die Vereinigten Staaten, die in ihrer gesamten parlamentarischen Geschichte nur das Mehrheitswahlrecht mit dem Einmalwahlkreis kennen. Die Aufrechterhaltung dieses Systems ist denn auch die entscheidende Grundlage für die Stabilität der bürgerlichen Herrschaft dort.

In den USA legt jeder Bundesstaat für sich „das Wahlverfahren, Zuschnitt der Distrikte für das Repräsentantenhaus, Registrierung der Wähler, Gestaltung der Wahlzettel, Zeitraum und Art der Abstimmung (…)“ fest. [15] Bundesweit einheitlich und damit zwingend geregelt ist aber, dass die Abstimmung in Einer-Wahlkreisen stattfinden muss, was bedeutet, dass die Partei des unterlegenen Kandidaten regelmäßig leer ausgeht. So kommt es zu erheblichen Verzerrungen bei der Abbildung des Wählerwillens. Aufgrund dieses strikten Einer-Wahlkreissystems besitzen in den Vereinigten Staaten Demokraten und Republikaner faktisch ein Monopol auf die politische Macht, sowohl auf der Ebene der parlamentarischen Vertretung als auch bei der Präsidentenwahl.

Losurdo bezeichnet Republikaner und Demokraten als „zwei Fraktionen ein und derselben Partei“: „Was die Ideologie oder besser die gemeinsame Nationalreligion angeht, die sie zum Ausdruck bringen, scheinen die beiden Haupt- und (…), gewissermaßen offiziellen Konkurrenten des Wahlkampfes weniger zwei verschiedene Parteien zu vertreten als vielmehr, unter normalen Bedingungen, zwei verschiedene Fraktionen derselben Partei. Die Behauptung kann übertrieben erscheinen. Aber schon bei Tocqueville kann man lesen: 'Man könnte sagen, dass es politische Vereinigungen gibt, nicht aber Parteien im eigentlichen Sinn. Die Männer sind alles, die Prinzipien wenig'.“ [16] Eine Beobachtung, die auch für die Gegenwart gilt: Donald Trumps siegt bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2024 zwar als republikanischer Kandidat, die Siege waren aber nicht etwa Ausdruck einer Überlegenheit der Partei gegenüber den Demokraten, sondern ganz persönliche Erfolge. Die Republikanische Partei war lediglich das Vehikel, um ihm den Einzug in das Weiße Haus zu ermöglichen. Vorausgegangen war ihre erfolgreiche Unterwanderung durch Trumps eigens dafür kreierte Bewegung „Make America Great Again“ (MAGA). Er selbst hatte bis dahin nie ein republikanisches Mandat inne. Er stand vielmehr anfangs den Republikanern fern und spielte mit dem Gedanken, als unabhängiger Kandidat ins Rennen zu gehen.            

Aufgrund des Monopols von Demokraten und Republikaner bei der politischen Führung der USA haben Kandidaten anderer, dritter Parteien nur in seltenen Fällen eine Chance. Dritte Parteien werden darüber hinaus durch weitere Diskriminierungen behindert: „Bewerber anderer Parteien, wie der Grünen, Libertären oder Sozialisten und unabhängige Kandidaten müssen (…) nachweisen, dass sie in den vorherigen Wahlen zwischen 5 und 15 Prozent der Stimmen für dasselbe Amt erhielten, oder eine bestimmte Zahl von Unterstützungsunterschriften vorlegen.“ [17] Die Chancenlosigkeit dieser Parteien ist denn auch der Grund dafür, dass Sozialisten und selbst Kommunisten regelmäßig bei Wahlen die Demokratische Partei unterstützen, auch versuchen Linke immer wieder als Kandidaten der Demokraten Mandate zu erringen. Die USA sind daher ein Land, in dem sich der Gegensatz zwischen der besitzenden Klasse und den vielfältig Diskriminierten im politischen Parteienspektrum nicht abbildet. Mit den Demokraten und den Republikanern gibt es lediglich zwei bürgerliche Parteien die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts an der Macht abwechseln. Das gilt auch für die gegenwärtige Situation, in der der Gegensatz zwischen den beiden Parteien auf den ersten Blick unversöhnlich erscheint. So erhielt nicht nur Donald Trump, sondern auch die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris hohe Zuwendungen der Wallstreet als auch von Investoren aus dem Silicon Valley. Die USA bieten daher weiterhin das Bild eines „Einparteiensystem mit Wettbewerbscharakter“, wie es Domenico Losurdo formulierte.

In seinem 2014 veröffentlichten Buch „La sinistra absente – Crisi, societá della spettacolo, guerra  (auf Deutsch erschien es 2017 unter dem Titel „Wenn die Linke fehlt… Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“) greift Domenico Losurdo seine Gedanken zum US-amerikanischen Wahlsystem aus seinem   Buch „Demokratie oder Bonapartismus“ von 1993 auf: „Weil der Wettstreit nicht das grundlegende Einparteiensystem in Frage stellen soll, darf er sich nicht auf zu viele Kandidaten erstrecken, möglichst nur zwei zulassen. Die Antwort darauf ist das Zweiparteiensystem, das oft als Ausdruck der höheren Weisheit und des stärkeren Realitätssinns der Angelsachsen und ihrer 'Demokratieerfahrung' gedeutet wird. In Wirklichkeit ist in der Geschichte der USA in manchen kritischen Momenten das Zweiparteiensystem von der herrschenden Klasse mit Gewalt durchgesetzt worden. Bei den Kommunalwahlen von 1917 waren die Sozialisten auf der Woge des Kampfes gegen den Krieg zu einer der Spitzenparteien geworden: Ihr Bürgermeisterkandidat in New York hatte 22 Prozent der Stimmen bekommen, zehn Sozialisten waren in die Legislative des Staates New York gewählt worden, in Chicago waren die Stimmen für die Sozialisten bis auf 34,7 Prozent geklettert. Es wurde kritisch für das Zweiparteiensystem. (…)“ Es „festigte sich wieder dank der Repression, die sich gegen diejenigen entlud, die mangelnder Loyalität oder patriotischen Eifers verdächtigt wurden, und die besonders die Sozialistische Partei traf: Ihr Kandidat zur Präsidentschaftswahl, Eugene V. Debs, wurde eingesperrt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt (…).“ [18]

Zur Illustration, dass sich an dieser Praxis auch Jahrzehnte später nichts Wesentliches geändert hat, verweist Losurdo auf einen Vorgang aus dem Jahr 2012: „Neben anderen trat bei den Präsidentschaftswahlen 2012 Jill Stein für die Green Party an: Sie versuchte, wegen ihres Ausschlusses von den Fernsehdebatten einen öffentlichen Protest in Gang zu setzen, doch sie wurde sofort von der Polizei daran gehindert. In einem Land, wo der Wahlkampf sich in erster Linie als Fernsehduell abspielt, werden die Teilnehmer de facto von den großen monopolistischen Gruppen bestimmt, die die Sender und die Medien kontrollieren, also vom Großen Geld: Wir befinden uns eben unter plutokratischem oder plutonomischem Regime.“ [19]

Das fest gefügte System der Zweiparteienherrschaft verhindert in den USA so die Entstehung einer dritten Kraft, einer sozialistischen Partei. Zwar können sich unter dem Dach der Demokraten immer mal wieder Politiker durchsetzen, die eine zumindest sozialdemokratische Agenda verfolgen, so gelang es etwa Berni Sanders bei der Nominierung zu den Präsidentschaftswahlen 2017 die vom Establishment der Demokraten unterstütze Kandidatin Hillary Clinton zumindest herauszufordern, und der Sieg des linken Zohran Mandani bei den Wahlen zum New Yorker Bürgermeister 2025 konnte gegen die einflussreichen Vertreter des großen Geldes in der Stadt errungen werden, doch am Charakter der Demokratischen Partei als eine der beiden Parteien der Bourgeoisie ändert sich dadurch nichts.  Angela Davis hat die Aufgabe der antikapitalistischen Kräfte in den USA realistisch beschrieben: „In meinen Augen können die existierenden politischen Parteien natürlich nicht unser Hauptkampfplatz sein, aber dennoch könnte der Wahlkampf als Ort der Organisation genutzt werden. In den USA brauchen wir seit Langem eine unabhängige politische Partei – eine antirassistische, feministische Arbeiterpartei.“ [20]

Ein System der Bestechung

Nach Losurdo wird das politische System der Vereinigten Staaten aber nicht alleine nur von einem festen Kartell zweier fast gleicher Parteien bestimmt: „In Ländern, in denen der Prozess der Aushöhlung der Parteien weiter fortgeschritten ist, sieht man sich in der Tat der machtvollen Rückkehr der zensusbedingten Diskriminierung gegenüber: Die Partei hat die Kontrolle über die Informations- und Kommunikationsstränge verloren. Sie hat auch die Kontrolle über die Auswahl der Spitzenkandidaten verloren (...). Die Parteien sind zudem dabei, die Kontrolle über die Wahlkämpfe zu verlieren. Das Fernsehen und der Computer haben eine neue Klasse von elektronischen Spezialisten geschaffen (...). Die Wahlkampagnen geben das traditionelle Handwerkszeug der Massendemokratie auf: Freiwillige, Wahlversammlungen, Fackelzüge, Flugblätter, Plakattafeln, Autoaufkleber. Die politische Aktion, die sich früher einmal auf den Aktivismus stützte, stützt sich heute auf die Verfügbarkeit finanzieller Mittel.“ [21] Und immer noch mit Blick auf die Vereinigten Staaten: „Die Beobachter sind sich einig in der Feststellung der entsetzlich hohen Kosten der Wahlkampagnen in neuerer Zeit. (…) 'Das Ergebnis geht immer mehr dahin, den Zugang zur Politik auf diejenigen Kandidaten zu beschränken, die persönliches Vermögen haben oder Geld von politischen Aktionskomitees erhalten', das heißt an erster Stelle von den Lobbys. Wie das häufig als Beispiel angeführte amerikanische Modell funktioniert, ist klar: 'Es kostet hundert Millionen, das Weiße Haus zu erobern', und das höchste Amt im Lande wird in Wirklichkeit mit einem Strom von 'Geld gekauft'.“ [22]

Kandidaten, sowohl der Republikaner als auch der Demokraten, lassen sich ihre Wahlkämpfe in erster Linie von steinreichen Magnaten und vermögenden Stiftungen finanzieren. Der Präsidentschaftswahlkampf 2024 stellte in diesem System der indirekten Bestechung und Korruption einen neuen Rekord auf. Zwei Monate vor der Wahl meldete die Washington Post, dass die 50 größten Geldgeber bereits 1,5 Milliarden Dollar in diesem Wahlkampf gespendet, oder sollte man nicht besser sagen, investiert hatten. [23]

Sowohl Kamala Harris als auch Donald Trump profitierten dabei in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß von den Spenden Vermögender. Wall Street und Investoren aus Silicon Valley bevorzugten dabei Harris, indem sie ihr für den Wahlkampf einen Fonds von fünf Millionen Dollar pro Tag zur Verfügung stellten. Unter den größten Einzahlern fand sich sowohl der Milliardär Michael Bloomberg, der mindestens 19 Millionen Dollar gab, als auch der Geschäftsführer des sozialen Netzwerks Linkedin Reid Hoffman mit 14 Millionen Dollar. Dabei war auch der Finanzspekulant George Soros. Sein Sohn Alex, verlobt mit der ehemaligen Clinton-Beraterin Huma Abedin, veröffentlichte im Wahlkampf ein gemeinsames Foto von sich und Harris und schreib dazu: „Sie ist die beste und qualifizierteste Kandidatin, die wir haben.“ [24] Und im September 2024 hieß es: „Treiberin der Materialschlacht ist neuerdings Kamala Harris. Seit Mitte Juli hat sie Spenden im Rekordvolumen von 600 Millionen Dollar an Land gezogen. (…) Allein im August nahm sie 361 Millionen ein.“ [25]

Auf Seiten von Donald Trump sorgte vor allem die Unterstützung von Elon Musk, des reichsten Menschen der Welt, für öffentliches Aufsehen: „Nach Unterlagen, die bei der US-Wahlbehörde Federal Election Commission eingereicht wurden, hat er zwischen Juli und September 2024 fast 75 Millionen Dollar zur Unterstützung von Trump ausgegeben.“ [26] Als Dank dafür versprach Trump, ihm unter seiner Präsidentschaft eine wichtige Funktion bei der Überprüfung staatlicher Ausgaben und beim Bürokratieabbau zu übertragen. Auf diese Weise konnte sich Musk dann selbst seine vielfältigen geschäftlichen Interessen staatlicherseits absichern.

Sowohl Demokraten als auch Republikaner sind durch die Finanzierung ihrer Wahlkämpfe längst in einem System der Bestechung und Korruption durch Milliardäre und Großunternehmen verstrickt. Auch hierin gleichen sie als letztlich zwei Fraktionen ein und derselben Partei.

Die Vermögenden, und hier vor allem die immer zahlreicher werdenden Milliardäre, bestimmen aber nicht nur über die Nominierungen der Kandidaten, finanzieren ihre Wahlkämpfe und nehmen maßgeblichen Einfluss auf die Politik der Gewählten. Aufgrund der Tatsache, dass sie - bis auf wenige Ausnahmen - die Kontrolle über die Massenmedien innehaben, besitzen sie die Herrschaft über die Ideologien, denen sich nahezu alle gesellschaftlichen Kräfte unterordnen müssen, seien es Parteien, Gewerkschaften und sogar die Kirchen. Dies trifft in erster Linie auf die USA zu, gilt aber auch in zunehmendem Maße für alle Länder des Westens. Das ist auch der eigentliche Grund für den überall zu beobachtenden Niedergang der europäischen Sozialdemokratie. In Ländern wie Frankreich, den Niederlanden sowie in Europas Osten ist sie inzwischen nahezu verschwunden. Zwar gibt es sie noch in Großbritannien, Deutschland, Spanien und Italien, doch sind die dortigen Sozialdemokraten längst auf eine liberale Linie eingeschwenkt. Hinzu kommt, dass sie sämtlich ihre traditionelle antimilitaristische Haltung aufgegeben haben. So ist die SPD schon lange nicht mehr die Partei der Entspannungspolitik Willy Brandts, die für ein friedliches Europa unter Einschluss von Russland plädiert. Im Zuge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist sie vielmehr zu einem vehementen Befürworter der Aufrüstung im Rahmen der NATO geworden.

Nach Losurdo ist daher „die Analyse zu vertiefen durch die Untersuchung der im Inneren der Metropole des Kapitals eingetretenen Ereignisse. Um sie zu verstehen, beginnen wir mit einer Beobachtung von Marx und Engels in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts: 'Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zur Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind'.“ [27] Losurdo zitierte diese Passage einige Jahre später erneut in seinem Buch „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ und unterstrich damit, welche Bedeutung er diesem Text von Marx und Engels beimisst. [28]

Bereits 1928 schrieb der Verfassungsrechtler und linke Sozialdemokrat Otto Kirchheimer über die Grenzen des Wahlrechts in Deutschland: „Durch die Revolution von 1918 fielen die letzten Reste eines Klassenwahlrechts. Im Reich war schon durch die Bismarcksche Verfassung das allgemeine gleiche Wahlrecht erreicht. Auch das langersehnte Prinzip des Verhältniswahlrechts kam zustande. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister, ihre vollständige Abhängigkeit von den Volksvertretern, wurde Verfassungsgrundsatz. Hierin erblickten viele die endgültige Abschaffung des alten Systems. (…) Was wir als erstes Prinzip des bürgerlich-parlamentarischen Staates aufgezeigt haben, ist tatsächlich gefallen. Das Zensuswahlrecht war das naivste Mittel, größere Wählerschichten fernzuhalten. Es wäre jedoch eine zu oberflächliche Betrachtungsweise, wenn wir uns damit begnügen wollten, zu konstatieren, dass ein Mittel, die proletarischen Schichten von der energischen Vertretung ihres Klasseninteresses fernzuhalten, verschwunden ist, ohne uns darum zu kümmern, ob das erstrebte Ziel heute nicht durch andere Mittel erreicht wird.“ Als wichtigstes „Mittel“ nennt Kirchheimer hier „die Presse“. So dass das Bürgertum „anstelle der offenen eine verschleierte Machtstellung bezogen“ hat. Es hat das allgemeine gleiche Wahlrecht gewährt, um es gleichzeitig durch seine finanzielle Machtstellung der wichtigsten Wirkungen zu berauben.“ [29]

1928 konnte noch die Presse als das wichtigste Instrument der Bourgeoise im Klassenkampf angesehen werden. Das Radio war noch kaum verbreitet, es gab kein Fernsehen und kein Internet. Aber heute verfügen die Herrschenden über extrem weitreichende Mittel der ideologischen Beeinflussung, der Desinformation und Manipulation durch die sozialen Medien mittels Facebook, X, Instagram, Youtube und viele weitere Medien. Zwar können sich dort in gewissem Maße auch kapitalismuskritische Stimmen in gewissen Nischen zu Wort melden, doch dies fällt kaum ins Gewicht.

Am Ende seines Bonapartismus Buches beschreibt Losurdo die Massenmedien als einen Apparat der „den Prozess der politischen Enthauptung der unteren Klassen beschleunigt und verstärkt.“ [30] Er kommt schließlich zum ernüchternden Resümee: „Der Prozess der Emanzipation, der in den letzten beiden Jahrhunderten das allgemeine gleiche Wahlrecht errungen hat (ein Kopf, eine Stimme), die proportionale Vertretung im Namen des 'gleichen repräsentativen Wertes' jeder einzelnen Stimme gefordert hat (…), das wenngleich geschönte und getarnte Monopol des Reichtums über die repräsentativen Organen in Frage gestellt hat, politische Rechte und soziale und wirtschaftliche Rechte miteinander verbunden und die Demokratie gesehen und als Emanzipation der Klassen, der 'Rassen' und der niedergehaltenen Völker gefeiert hat, dieser Prozess scheint einen harten Rückschlag erlitten zu haben. In diesem Sinne haben wir es mit einer Phase von De-Emanzipation zu tun, mit einer von denen, die den langen und gewundenen Weg der Demokratie kennzeichnet, deren Überwindung jedoch im Augenblick noch nicht abzusehen ist.“ [31]

 

[1][1] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumpf und Niedergag des allgemeinen Wahlrechts, Köln 2008, S. 348

[2] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 285

[3] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 286

[4] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 294

[5] Ebenda

[6] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 296

[7] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 289

[8] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 290

[9] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 320

[10] Vgl. dazu Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006, S.250-282

[11] Wolfgang Abendroth, Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Ernst Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S.127

[12] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 213

[13] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 307

[14] Ebenda

[15] Stephan Bierling,„Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie, München 2024, S. 112

[16] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S.

[17] Stephan Bierling, Die Unvereinigten Staaten, a.a.O. S. 112

[18] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, S. 70 f.

[19] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, a.a.O., S. 72

[20] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, Münster 2016, S. 18

[21] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 356

[22] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 356 f.

[23] Großspenden im US-Wahlkampf, in: Tagesspiegel vom 09.11.2024

[24] Ebenda

[25] Die Macht der Wahlkampf-Spender, in: Berliner Morgenpost vom 13.09.2024

[26] Musk hilft Trump mit 75 Millionen Dollar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.10.2024

[27] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 378. Das Zitat von Marx und Engels findet sich in Marx-Engels-Werke (MEW), 1955-89, Band. 3, S. 46

[28] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, S. 92

[29] Otto Kirchheimer, Bedeutungswandel des Parlamentarismus, in: Otto Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt am Main, 1976, S. 60 ff.

[30] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 386

[31] Ebenda

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