Der westliche Marxismus 2

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Rezension in der "Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z.", Ausgabe 126 – Juni 2021

Domenico Losurdo, Der westliche Marxismus – wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, PapyRossa Verlag, Köln 2021, 280 Seiten, 19,90 Euro

Der italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo gehörte zu den wenigen marxistischen Theoretikern, die die Auflösung des sozialistischen Staatensystem in Europa 1989/91 nicht als Scheitern, sondern als Niederlage des Sozialismus ansahen. Während Scheitern ein total negatives Urteil impliziert, bedeutete Niederlage für Losurdo ein partiell negatives Urteil, das auf einen bestimmten historischen Kontext Bezug nimmt und es ablehnt, die Realität zu verdrängen. [1] Er fragte, wie man bei der Annahme eines Scheiterns „das Aufkommen und die weitere Entwicklung des Sozialstaats im Westen überhaupt verstehen“ [2] könne, schließlich sei beides ohne Kenntnis des „revolutionären Zyklus, der vom Jakobinismus zum Kommunismus“ [3] hinführte, nicht nachvollziehbar. Noch fragwürdiger wird die Kategorie des Scheiterns, blickt man über die westlichen Gesellschaften hinaus. Mit ihr würde man die Realität von Ländern wie Vietnam und Kuba, vor allem aber des Riesenlandes China verdrängen, die sich weiterhin auf den Sozialismus berufen.  

Für Losurdo konnte es zudem keinen Zweifel an der Legitimität des „Roten Oktober“ geben, folgte dieser doch als humanitäre Antwort auf das Versagen der demokratisch-liberalen Systeme im ersten Weltkrieg. Erst die „Wende Lenins“ öffnete den Ausweg aus dieser Nacht. Von der russischen Revolution sollte die Initialzündung für einen weltweiten Umsturz ausgehen: „Die Oktoberrevolution war zum Sieg gelangt, indem sie im Westen zur sozialistischen und im Osten zur antikolonialen Revolution aufrief.“ (60)

Doch die Revolution im Westen blieb aus. Im Osten und Süden hielt sich hingegen der revolutionäre Impuls. In Ostasien erstarkte er in den 1930er-Jahren im Abwehrkampf gegen den japanischen Imperialismus. Revolutionen in China, Korea und Vietnam wurden so möglich. Auch in Lateinamerika, in der arabischen Welt und in Teilen Afrikas blieb der Impuls des Roten Oktober lebendig. Sichtbarster Ausdruck davon war die kubanische Revolution 1959.               

Nach Losurdo wurde diese Entwicklung von der großen Mehrheit der Theoretiker des westlichen Marxismus „mit Argwohn betrachtet“: „Über die nationale (und koloniale) Frage begann sich in der Epoche des Imperialismus eine spürbare Unterscheidung zwischen westlichem und östlichem Marxismus abzuzeichnen.“ (59)

Der Autor sieht dabei den Ausgangspunkt des westlichen Marxismus in dem Frühwerk Georg Lukàcs und vor allem in den Schriften von Ernst Bloch nach Ende des ersten Weltkriegs. Was Lukàcs angeht, so unterscheidet Losurdo allerdings zwischen dessen Schrift „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von 1923 und dem Buch aus dem Jahr 1924, das Lukàcs Lenin gewidmet hat. Darin sei „die revolutionäre Rolle der `vom Kapitalismus unterdrückten und ausgebeuteten Nationen´ analysiert und präzise beschrieben“ (140) worden. In der Tradition des westlichen Marxismus stehen dann später die wichtigsten Vertreter der Frankfurter Schule. Losurdo setzt sich in diesem Zusammenhang ausführlich mit Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno auseinander.

In den sechziger und siebziger Jahren schien es für einen geschichtlichen Augenblick so, als würde der westliche Marxismus den antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungsbewegungen endlich jenen Stellenwert einräumen, der ihnen zukommt. Linke Intellektuelle und kommunistische Parteien solidarisierten sich mit den kubanischen Revolutionären und mit den Kämpfern der Nationalen Befreiungsfront Algeriens. In der Mobilisierung gegen den von den USA geführten Vietnamkrieg wurde die antiimperialistische Solidarität schließlich zu einer mächtigen Bewegung. Auch der Protest der Palästinenser gegen die israelische Okkupationspolitik wurde zu einem Anliegen westlichen Linker. In den achtziger Jahren waren es dann die Sandinisten Nicaraguas und die Zapatisten in Mexiko denen ihre Solidarität galt.

Doch die Liaison des westlichen Marxismus mit den sich real vollziehenden Kämpfen der Dritten Welt um ihre antikoloniale und nationale Befreiung hielt nur wenige Jahre. Als sich diese Länder „den Mühen der Ebenen“ zuwendeten, als sie den ökonomischen Aufbau begannen und sich die revolutionäre Begeisterung zugleich abschwächte, zogen sich viele westliche Linke desinteressiert und oft auch enttäuscht zurück. Nicht wenige entwickelten sogar eine tiefe Feindseligkeit diesen Ländern gegenüber, entsprachen sie doch nicht länger mehr ihren hehren Idealen. So war es kein Zufall, dass das Buch „Über den westlichen Marxismus“ von Perry Anderson, dem britischen Trotzkisten und langjährigen Herausgeber der Zeitschrift New Left Review, 1976, in dem Todesjahr Maos und dem damit eingeleiteten Ende der chinesischen Kulturrevolution, erschien, hatten doch viele westliche Linke in der Kulturrevolution die Alternative zu der als bürokratisch und verknöchert verworfenen sowjetischen Entwicklung gesehen. Losurdo zieht aus all dem den Schluss: „Obwohl der westliche Marxismus durch eine Vielzahl von Positionen gekennzeichnet ist, die von einem überzeugten, jedoch auf theoretischer Ebene oft fragilen Antikolonialismus bis hin zu einem ausgesprochenen Philo-Kolonialismus reichen, hat er insgesamt sein Rendezvous mit der weltweiten antikolonialen Revolution verpasst.“ (140)

Das Unverständnis bzw. die Geringschätzung für die Kämpfe in der Dritten Welt durchziehen die gesamte Geistesgeschichte des westlichen Marxismus. Losurdo nennt dafür viele Bespiele. Es sind die Werke von mehr als einem Dutzend Philosophen, Schriftstellern und Politikern, die er als Beweise anführt. Die Liste reicht von Hannah Arendt bis Slavoj Zižek. Keineswegs alle dieser Autoren können als Marxisten bezeichnet werden, und doch nahmen sie alle Einfluss auf den westlichen Marxismus. Ausführlich setzt sich Losurdo mit Ernst Bloch auseinander. In ihm erkennt er den Begründer einer „Religion des Westens“. Auf einer christlich-jüdischen Tradition aufbauend, schwingen in seinem Werk „nicht selten messianische Motive mit (die Erwartung eines 'Kommunismus', mit dem jeglicher Konflikt und Widerspruch verschwinden sollte, damit eine Art 'Ende der Geschichte').“ (258) Auf die christlich-mythischen Wurzeln des Blochschen Denkens hatte auch Hans-Heinz Holz - zusammen mit Domenico Losurdo viele Jahre Herausgeber der Zeitschrift Topos – hingewiesen: „Immerhin fühlen sich die Theologen von Blochs Denken angezogen“, erklärte Holz bereits 1967. [4] Es war dann dieser große Philosoph, der viele Theoretiker der Studentenrevolte beeinflusste – unter ihnen Rudi Dutschke.   

Vielen enttäuschten Linken erschien so ihr Enthusiasmus und ihr Engagement für die chinesische, koreanische, kubanische und vietnamesische Revolution am Ende als vergeblich. Die „Vergeblichkeit“ aber ist ein treuer Begleiter christlich-jüdischen messianischen Denkens, schließlich ist ja auch das Reich des Erlösers „nicht von dieser Welt“.

Der westliche Marxismus ist nach Losurdo in den Jahren nach 1989/91 ohne viel Aufsehen verstorben. Seine früheren Exponenten wandten sich der alten und neuen „Religion des Westens: ex Occidente lux et salus!“ (141) zu. In Deutschland haben nicht wenige, die einstmals gläubig nach Peking, Pjöngjang, Havanna, Tirana, ja selbst nach Phnom Penh blickten, Karriere bei den Grünen gemacht, etwa Reinhard Bütikofer. Als Student war er Mitglied des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW). Heute verteidigt er als Mitglied des Kuratoriums der Berliner Dependance des US-amerikanischen Aspen-Instituts die US-amerikanische imperialistische Menschenrechtspolitik. Und als grüner Europaparlamentarier gehört er zu den entschiedensten Feinden der Volksrepublik China.

Am Schluss seines Buches gibt Domenico Losurdo einige Hinweise darauf, wie der „westliche Marxismus“ wieder auferstehen könnte. Da es sein letztes, vor seinem Tod im Juni 2018 fertiggestelltes Buch ist, können diese Hinweise auch als sein Vermächtnis verstanden werden. Er empfiehlt, dass sich ein erneuerter westlicher Marxismus in seinem Weltverständnis an Gesellschaften wie der chinesischen orientieren solle: „Der Messianismus fehlt (…) weitgehend in einer Kultur wie der chinesischen, die in ihrer tausendjährigen Entwicklung vor allem durch ihre Aufmerksamkeit für die weltliche und soziale Realität gekennzeichnet ist.“ (258) Überwunden werden müsse auch die Vorstellung, dass der globale Süden lediglich die „Peripherie“ eines Zentrums darstellt, das unverrückbar im Westen liegt. Die unterschiedlichen Marxismen der Kulturen und Länder der Welt müssen vielmehr sowohl in ihrer Eigenständigkeit als auch als Teile des Ganzen verstanden werden, entsprechend der Hegelschen These, dass das Wahre das Ganze ist. Dies ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die uns der Hegelianer Domenico Losurdo hinterlassen hat.       

 

[1] Vgl. Andreas Wehr, Scheitern oder Niederlage? In Z 123 (September 2020), S. 159 ff.

[2] Domenico Losurdo, Flucht aus der Geschichte, Essen, 2009, S. 90 f.

[3] Ebenda

[4] Ernst Bloch, Auswahl aus seinen Schriften. Zusammengestellt und eingeleitet von Hans Heinz Holz, Frankfurt am Main, 1967, S. 30

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