Die Massen sind schuld! Wie in der Jungen Welt der linke Antifaschismus entsorgt wird
- Andreas Wehr
In der Beilage der Tageszeitung Junge Welt vom 29./30.April/1. Mai 2017 wurde unter der Überschrift „Der Fetisch ῾Identität῾“ ein Artikel des Soziologen Helmut Dahmer veröffentlicht, der es wert ist, kommentiert und kritisiert zu werden.[1]
Der Autor wird von der Jungen Welt als Herausgeber der kommentierten deutschen Ausgabe der Schriften Leo Trotzkis sowie als früherer Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Psyche vorgestellt. Die prominente Aufmachung des Beitrags, auf zwei Seiten des Blattes, zusammen mit einem großem Fotos einer Demonstration von Rechtsradikalen, sowie die Tatsache, dass der Artikel in einer Ausgabe veröffentlicht wurde, von der aus Anlass des 1. Mai mehr als 100.000 Exemplare kostenlos verteilt wurden, spricht dafür, dass er ganz offensichtlich als geeigneter Text angesehen wurde, um für die junge Welt zu werben. Der Beitrag sagt daher denn auch viel über die Ausrichtung einer Zeitung aus, die sich selbst als antikapitalistisch, ja gelegentlich sogar als kommunistisch bezeichnet.
Die aufmerksame Lektüre des Artikels stellt den Leser auf eine Geduldprobe, bewegt sich doch die Argumentation des Autors auf den unterschiedlichsten Ebenen: der psychologischen, historischen, ökonomischen und politischen, und das oft gleichzeitig: Erschwert wird die Textanalyse zudem durch die Abwesenheit einer klaren Gliederung, durch Endlossätze, vor allem aber durch eine suggestive Form der Darstellung, die durch reichlichen Gebrauch von Bildern und Metaphern sowie von Überschriften wie „Kollektiv als Fata Morgana“, “Unstillbarer Hunger“ und „Fauler Zauber“ erzeugt wird. Um den Beitrag dechiffrieren zu können, bedarf es daher Zeit und Ausdauer.
Dahmer erläutert im zweiten Absatz, was er unter Identität versteht: „Identität ist, näher besehen, das Resultat eines Identifizierungsprozesses, der der Wahrnehmung von Veränderungen entgegenarbeitet, sie nicht aufzuheben vermag, sie aber zu ignorieren sucht. Im Strom der Zeit bleibt nichts mit sich identisch, aber in unserer Praxis tun wir notgedrungen so, als ob es Identitäten gäbe. So leben wir in einer Welt von lauter fingierten Identitäten, Feststellungen oder eben ῾Tatsachen῾.“ Hiermit ist bereits das Entscheidende des Aufsatzes gesagt, das im späteren Verlauf des Textes, unterschiedlich akzentuiert, immer wieder auftaucht: Identität ist Selbsttäuschung. Und dieser Selbsttäuschung unterliegen viele. Damit der Leser das akzeptiert, wird er vom Autor einfühlsam in den Gedankengang mit einbezogen, indem Dahmer das suggestive „wir“ gebraucht. Mit anderen Worten: Kaum jemand kann sich dem entziehen, und ein jeder von uns bedarf der Aufklärung über diese Selbsttäuschung.
Der oben zitierte Absatz enthält zugleich eine politische Botschaft, die äußerst aktuell ist, denn was ist die „Welt von lauter fingierten Identitäten, Feststellungen oder eben ῾Tatsachen῾“ anderes als jene der „fake news“, wie sie gegenwärtig als das Feindbild von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Medien unter Anklage gestellt wird? Und gegen diese „fake news“ gilt es – nach Dahmer – entschieden zu kämpfen.
Wer aber verbreitet diese Vorstellungen von Identitäten? Für Dahmer sind es vor allem die Identitären: „Einige Protagonisten der gegenwärtig wieder erstarkten xenophob-autoritären Strömung, die sich im Gefolge der Finanzkrise von 2008 gegen die als ῾Elite῾ bezeichneten Parteipolitiker der parlamentarischen Demokratien richtet und Demagogen hervorbringt, die dem kollektiven Narzissmus Futter geben, bezeichnen sich selbst als ῾Identitäre῾.“ Tatsächlich gibt es eine „Identitäre Bewegung“, die als intellektuelle rechtsradikale Strömung aus Frankreich und Österreich kommend, auch in Deutschland einige Anhänger gefunden hat. Diese „Bewegung“ ist hier aber kaum wahrnehmbar. Ein Interview dazu in der jungen Welt trug denn auch die Überschrift: „Berliner Aktivisten nur in zweistelliger Zahl. Nur wenige Menschen beteiligen sich an den sogenannten Identitären in der Hauptstadt“[2]. Dahmer kann wohl kaum diese politisch bedeutungslose Gruppe gemeint haben, wenn er permanent von „den Identitären“ spricht, denen er die Fähigkeit zuschreibt, Massen beeinflussen und lenken zu können.
Ihm geht es denn auch nicht um die konkrete Kritik dieser konkreten Bewegung. Seine Identitären sind vielmehr ganz pauschal jene, die sich des „Vergehens“ schuldig machen, den Menschen zu versichern, dass ihre Lebensweise schon ihre Richtigkeit hat: „Die nationalistischen Demagogen versichern ihren Anhängern, dass sie so, wie sie nun einmal geworden sind, immer schon ganz in Ordnung waren, dass ihre Lebensweise die einzig wahre ist, dass sie sich keineswegs mit anderen vergleichen oder sich gar anderen zuliebe irgendwie ändern müssen. Sie vereidigen sie auf den Status quo. Soziale Position, Geschlechts-, Alters- und Berufsrolle sollen eindeutig und ein für alle Mal fixiert werden. Den vielen Habenichtsen wird weisgemacht, sie hätten doch auch etwas zu eigen, nämlich sich selbst, ihre ῾Identität'“. An anderer Stelle heißt es: „Die ῾Identitären῾ klammern sich an ein vermeintlich Bestehendes, das stets schon im Vergehen (oder längst schon vergangen) ist, vielleicht aber auch gar nie bestanden hat. Sie fürchten jene relative Freiheit, die die kapitalistische Moderne mit sich brachte: die Freiheit, sich von Ort, Praxis und Tradition zu distanzieren, von einer Identität zu einer anderen und zu einer dritten überzugehen und, ohne die jeweils aufgehobene Identifizierung zu verleugnen, sie allesamt zu relativieren. Die sich an ihre Identität klammern, fürchten, was ihre Chance wäre: vom Pfahl- zum Weltbürger, also zum Menschen, zu werden.“
Wie diese Identitären vorgehen wird an Beispielen dargestellt: „Sie suggerieren den Wählern, die das nur allzu gern hören, man könne die Migration von Millionen Mitmenschen, die verzweifelt bessere Lebensverhältnisse suchen, ignorieren oder aufhalten, und man könne sich auf Dauer um die längst überfällige Umverteilung des Weltreichtums herumdrücken. Sie nutzen die aufgestaute Unzufriedenheit mit den bestehenden Ungleichheitsverhältnissen und mit dem sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel, der die meisten überfordert, um mit Hilfe der vielen Frustrierten selbst an die Macht zu kommen.“
Man vergleiche einmal diese Aussagen mit den täglichen Parolen von Unternehmerverbänden und bürgerlichen Parteien, mit denen sie für ihre „Reformen“ trommeln. Sie liegen auf einer Ebene mit der sattsam bekannten Anklage „mangelnder Mobilität“ gegenüber den zu „Reform“ und „Modernisierung“ unwilligen abhängig Beschäftigten, den sogenannten „Arbeitsplatz- bzw. Besitzstandswahrern“, die es sich – wie es so abschätzig heißt - auf dem „sozialen Ruhekissen“ oder im „gewerkschaftlich geschützten Mief“ gemütlich gemacht haben. Mit einer solchen Sprache hat man den Sozialstaat erst rhetorisch sturmreif geschossen, um ihn anschließend umso leichter einreißen zu können. Dass Dahmer diese Parolen nun um einige modische linke Floskeln ergänzt, etwa „die Freiheit, sich von Ort, Praxis und Tradition zu distanzieren, von einer Identität zu einer anderen und zu einer dritten überzugehen“ oder die notwendige Aufnahme von „Millionen Mitmenschen“, ändert nichts an der Stoßrichtung seiner Aussagen, die sich sehr gut in das neoliberale Argumentationsschema einpassen.
Der Vorwurf der Verweigerung gegenüber der „kapitalistischen Moderne“ und des sich „Klammerns an ein vermeintlich Bestehendes“ wird heute denn auch vor allem gegenüber gewerkschaftlichen und linken Bewegungen erhoben, die die Unterprivilegierten ermuntern, für ihre sozialen „Besitzstände“ zu kämpfen und sich der „kapitalistischen Modernisierung“ zu verweigern, da sie doch stets nur mit einer Erhöhung des Ausbeutungsgrads der Arbeit einhergeht. Und tatsächlich wird das heute beispielsweise Jean-Luc Mélenchon in Frankreich und Sahra Wagenknecht in Deutschland vorgeworfen.
Die Frontstellung bei Dahmer ist damit klar. Es sind die dumpfen Massen, die sich unter Anleitung von nicht näher bestimmten Identitären der Moderne verweigern. Unter der Überschrift „Kollektiv als Fata Morgana“ werden sie ins Visier genommen. Es gilt sie zu belehren und wie Kinder an die Hand zu nehmen, denn das Verständnis der grausamen aber eben unvermeidbaren kapitalistischen Moderne überfordert sie nun einmal. Und so taucht im Text die behauptete Überforderung der Massen bzw. ihr Unverständnis für Zusammenhänge immer wieder auf. Mal ist die Rede von den „enormen Abstraktionsleistungen“, die abgefordert, aber nicht erbracht werden. Dann heißt es: „Und Menschen, die von Abstrakta beherrscht werden (von ῾der Wirtschaft῾, ῾den Märkten῾, ῾der Politik῾) entwickeln einen unstillbaren, regressiven Hunger nach der Ersetzung solcher Abstrakta durch Konkreta.“ Schließlich: „Abstrakte Begriffe werden durch pseudokonkrete ersetzt, die feindliche und unverständliche Welt wird versimpelt, verbiedert und auf diese Weise angreifbar gemacht.“
Es begegnet uns hier die altbekannte Verachtung der Massen, wie sie dem Liberalismus seit je eigen ist.[3] In einem aktuellen Beitrag der Zeitung Le Monde diplomatique beschreibt die amerikanische Journalistin Angela Nagle unter der Überschrift „Die Angst vor den Vielen. Über die alten und neuen Verächter der Massen“, wie in Reaktion auf die Wahl von Donald Trump US-Liberale ihre Wut über die ungebildeten Massen, denen sie die Niederlage von Hillary Clinton anlasten, freien Lauf lassen: „Demoralisierte US-Liberale, die sich immer noch nicht vom Debakel der Präsidentschaftswahl erholt haben, träufeln den Balsam metaphysischer Überlegenheit auf ihre Wunden.“ Angela Nagle zitiert „herablassende Töne“ in „angesehenen (links)liberalen Medien. So reagierte die Zeitschrift Foreign Policy auf die Erfolge der populistischen Rechten in Großbritannien und den USA mit der Veröffentlichung eines Essays, der den vielsagenden Titel trug: ῾Es ist Zeit, dass die Eliten gegen die ignoranten Massen aufstehen῾. Und auf der Internetplattform History News Network stellte in der Frühphase des republikanischen Vorwahlkampfes ein Autor die schmerzliche Frage: ῾Wie dumm sind wir eigentlich?῾“[4]
Über die mehrheitliche Entscheidung der Briten für den Austritt ihres Landes aus der EU schrieb der Sozialwissenschaftler Michael R. Krätke verächtlich: „Die Hasskampagne der Europafeinde, die in den letzten Wochen ihr gesamtes Feuer auf die ῾verdammten Ausländer῾ und Immigranten richteten, hat gewirkt, zumindest in England und Wales. (…) Auf einer Welle von Bullshit sind die Briten in die größte politische Krise ihrer Nachkriegsgeschichte gesteuert. In diesem Referendum haben Fakten keine Rolle gespielt, die Wahlbürger wurden für dumm verkauft.“[5]
Die „Identitären“ bzw. die von Dahmer als Verderber gekennzeichneten „Trumps aller Länder“ nutzen demnach „die aufgestaute Unzufriedenheit mit den bestehenden Ungleichheitsverhältnissen und mit dem sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel, der die meisten überfordert, um mit Hilfe der vielen Frustrierten selbst an die Macht zu kommen. Sie richten die Unzufriedenheit der zerstreuten Wählermasse gegen die etablierten großen Parteien, die die Ungleichheit der Lebensverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Hunger und Luxus, Ohnmacht und Macht im nationalen und im internationalen Rahmen nur verwalten und beschönigen, statt diese Verhältnisse zu verändern.“
Auf diese Weise werde auch Faschismus heute wieder möglich: „Dieser Ausweg aus einer wirtschaftlichen und mentalen Krisensituation ist in Europa, vor allem in Deutschland und Österreich, unter dem Namen Faschismus nur allzu bekannt.“ Die hier von Dahmer zugrunde gelegte Faschismusdefinition stellt die Massen als die eigentlich Verantwortlichen für dessen Erfolg dar: „Als in dem Jahrhundert zwischen 1820 und 1920 die große Mehrheit der Bevölkerung der kapitalistischen Gesellschaften ihren Selbständigkeitsstatus einbüßte und sich in ein Heer von abhängig Beschäftigen verwandelte, begann die Ära der massenfeindlichen Massenbewegungen, die Sigmund Freud 1920 als erster analysiert hat. In ihnen rotten sich die Lohnabhängigen, die keine Chance mehr sehen, sich und ihre Familien aus eigener Kraft zu erhalten und vielleicht auch ein Stück vom guten Leben zu ergattern, zusammen und bilden unter Preisgabe von Autonomie und Eigensinn neuartige Gefolgschaften, die bereit sind, um der Realisierung einer gemeinsamen Phantasie von ῾kollektiver Größe῾ willen ihren Führern nicht nur nach Stalingrad oder El-Alamein zu folgen, sondern auch in deren Menschenschlachthäusern Dienst zu tun.“
Mit keinem Wort erwähnt hier der Autor, dass das „Jahrhundert zwischen 1820 und 1920“ in ganz Europa vor allem aber den fulminanten Aufstieg der Arbeiterbewegung sah. Auch auf sie trifft die Aussage zu, dass sich in ihnen „Lohnabhängige“ organisieren, „die keine Chance mehr sehen, sich und ihre Familien aus eigener Kraft zu erhalten und vielleicht auch ein Stück vom guten Leben zu ergattern.“ Die Nähe zur Dämonisierung der bedrohlichen Masse durch die bürgerliche Totalitarismustheorie, die Faschismus mit Kommunismus gleichsetzt, ist unübersehbar. Dem entspricht, dass Dahmer unter der Überschrift „Fauler Zauber“ die „kollektive Identität“, einer der Schlüsselbegriffe der Arbeiterbewegung, kurzerhand mit „biologischer Rede“ verbindet: „Der vermeintliche Substanzbegriff ῾Identität῾ ist auf diese Weise allmählich entzaubert und zu einem Funktionsbegriff geworden. Ähnlich steht es mit den Begriffen kollektiver Identität. Längst ist die biologische Rede von den ῾Volkscharakteren῾ als fauler Zauber entlarvt.“
Mit einer linken Faschismusdefinition hat das alles nichts zu tun. Diese stellt vielmehr die Verantwortung der herrschenden Klasse in den Mittelpunkt. Bespielhaft dafür ist die Definition, die Georgi Dimitrow auf dem VII. Weltkongress der Komintern vorgetragen hat, wonach der Faschismus „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ist.[6]
Neben der „kollektiven Identität“ seien nach Dahmer auch Nationen nur „Funktionsbegriffe“: „Und in den achtziger und neunziger Jahren dämmerte es Soziologen und Historikern im Zeichen der 'Drittwelt'- und Balkankriege, dass auch die Nationen nur Funktionsbegriffe sind, es sich dabei also um ῾erfundene῾ (Benedict Anderson), imaginäre Gemeinschaften handelt. Als Feinde der Aufklärung versperren sich die ῾Identitären῾ von heute solchen Reflexionen. Sie glauben an die Substanz ihrer nationalen oder auch europäischen ῾Ethnokultur῾, so wie andere Glaubensgemeinschaften an die ῾unbefleckte Empfängnis῾, die heilige Wandlung oder an die Auferstehung des Fleisches glauben. Je fragwürdiger eine Doktrin ist, desto fanatischer wird sie von ihren Nutznießern verteidigt.“
Dahmer beruft sich bei seinen Aussagen zur Nation auf den britischen Historiker Benedict Anderson und hier offensichtlich auf dessen bekanntestes Werk Die Erfindung der Nation, ein Buch, das häufig von Kritikern der Nation angeführt aber ganz offensichtlich nur selten gelesen wird. Wie Dahmer genügt den meisten allein die Nennung des Titels. Wirft man aber auch nur einen Blick in dieses Werk, so wird man leicht erkennen, dass Anderson keineswegs ein Gegner der Nation ist. Warum sollte er es auch sein, handelt doch sein Buch vor allem vom Kampf der Völker Südostasiens – und hier vor allem des vietnamesischen Volkes – um seine nationale Selbstbestimmung, den er vorbehaltlos unterstützt. Benedict Anderson setzt auch keineswegs Nationalismus und Rassismus gleich, ganz im Gegenteil: „Der Nationalismus denkt – darauf kommt es hier an – in historisch schicksalhaften Begriffen, während der Rassismus von immerwährenden Verunreinigungen träumt, die sich vom Ursprung der Zeiten an in einer endlosen Folge ekelerregender Kopulationen fortpflanzen: (...) Die Ideologien, in denen die Phantasien des Rassismus ihren Ursprung haben, sind in Wirklichkeit eher solche der Klasse (Hervorhebung durch den Verfasser, A.W.) als der Nation: Vor allem die Ansprüche der Herrschenden auf ihr Gottesgnadentum und der Aristokraten auf ῾blaues῾ oder ῾weißes Blut῾ und ihre Herkunft.“[7]
Für einen erfolgreichen Kampf gegen den nach Dahmer heute wieder drohenden neuen Faschismus fehle es derzeit an einer starken „innergesellschaftliche Opposition“. Die „gibt es gegenwärtig nicht. Das ist eine Langzeitfolge des Massenterrors der totalitären Regime und des 'Kalten Krieges' der Nachkriegszeit. Zu den „totalitären Regimen“ zählt er also ganz offensichtlich auch die Sowjetunion. Auch hier wieder die Nähe zur Totalitarismustheorie.
Was also tun? Hier die Antwort des Autors: „Anstelle von Massenorganisationen, die sich nicht nur gegen den Strom richten, sondern ihn umzulenken suchen, gibt es heute nur eine wache Minderheit kritischer Intellektueller und politischer Kleingruppen, die (mehr oder weniger) in der Lage ist zu verstehen, was vorgeht.“ Zu dieser „wachen Minderheit kritischer Intellektuelle“ gehört selbstverständlich Dahmer selbst. Und zu den politischen Kleingruppen zählt er wohl die junge Welt, die seinen Artikel an prominenter Stelle abdruckte.
Diese „wache Minderheit“ soll nun die Massen immunisieren: „Diese Minderheit hat eine Überlebenschance nur dann, wenn sie es versteht, den politischen Dialog mit der desorientierten, zerstreuten Masse aufzunehmen und sie gegen die Sirenengesänge der deutschen und österreichischen Trumps, Erdogans, Orbáns, Putins und ihrer Gefolgsleute zu immunisieren.“
Putin zusammen mit Trump, Erdogan und Orbán in einem Atemzug, das liest man (noch) nicht täglich in der nach eigenen Angaben „linken, marxistisch orientierten Tageszeitung“.
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[1] Der Artikel findet sich unter: https://www.jungewelt.de/artikel/309855.der-fetisch-identit%c3%a4t.html
[2] Junge Welt vom 17. Mai 2017, S. 8
[3] Vielfältige Beispiele der liberalen Verächtlichmachung der Massen finden sich bei Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2010, und hier vor allem im Abschnitt „Der Kampf der Arbeitsinstrumente in der Metropole um Anerkennung und die Reaktion der Gemeinschaft der Freien“, S. 235 ff.
[4] Angela Nagle, Die Angst vor den Vielen. Über die alten und neuen Verächter der Massen, in: Le Monde diplomatique, April 2017, S. 12 f.
[5] Michael R. Krätke, Voller Hass und ohne Plan: Ein Land im Schockzustand, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2016, S. 34
[6] Georgi Dimitrow: Bericht auf dem VII. Weltkongress der Komintern, 2. August 1935. In: Georgi Dimitrow – Ausgewählte Werke. Fremdsprachenverlag Sofia, 1960, S. 94. Online unter: http://www.mlwerke.de/gd/gd_001.htm
[7] Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 1996, S. 129