„Die Selbstgerechten“ von Sahra Wagenknecht

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Vortrag am 26.11.2021 im MEZ Berlin

 

„Die Selbstgerechten“ - ein Buch, das Furore gemacht hat !

Kritiker von Sahra Wagenknecht behaupten:

Ein Buch zur Unzeit, da es kurz vor dem Nominierungsparteitag zu den Bundestagswahlender Partei DIE LINKE in NRW veröffentlicht wurde.   

Inhalte des Buches seien gegen den Kurs der Partei gerichtet – das Buch sei „parteischädigend“.

Die wenigsten dieser Kritiker aber dürften das 345 Seiten starke Buch überhaupt gelesen haben.

Die Veröffentlichung des Buches „Die Selbstgerechten“ hat Sahra Wagenknecht endgültig zur Unperson in der Partei DIE LINKE gemacht.

Sahra Wagenknecht aber ist die mit Abstand bekannteste und zugleich beliebteste Politikerin der Partei DIE LINKE. Eine Zeitlang war sie sogar populärer als Angela Merkel.

Die Ausgrenzung von Sahra Wagenknecht aus der Führung der Partei DIE LINKE hat bereits 2018 begonnen. Auf dem Leipziger Parteitag der Linkspartei im Juni 2018 wurde sie wegen ihres Kurses in der Migrationsfrage massiv angegriffen. Vor allem die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach tat sich dabei hervor. Ende des Jahres 2018 erkrankte Sahra und trat schließlich im Frühjahr 2019 vom Amt der Fraktionsvorsitzenden zurück.  

Sahra war im Bundestagswahlkampf nicht Spitzenkandidatin – stattdessen waren es Janine Wissler und Dietmar Bartsch. Die weitgehend unbekannte Janine Wissler war auf vielen Plakaten zu sehen. Bekannte fragten mich, wer das eigentlich ist.  

Wahlplakate mit Sahra dagegen waren nicht zu sehen – für viele Bürger aber ist sie weiterhin die einzige bekannte und beliebteste Persönlichkeit der Linkspartei. Einige Parteiorganisationen fuhren deshalb extra in die Parteizentrale nach Berlin, um dort noch einige alte Werbe-Plakate mit Sahra abzuholen. Auch hier in Charlottenburg waren keine Plakate der Linkspartei mit dem Porträt von Sahra Wagenknecht zu sehen.
Oder habt ihr hier welche wahrgenommen?

Sahra wurde während des Wahlkampfs von ihrer eigenen Partei nicht in Talkshows und Interviews geschickt.

Die Ausgrenzung von Sahra stand mit Sicherheit im Widerspruch zur breiten Mitgliedschaft der Partei – die aber wurde nicht gefragt. Sahra ist weit über die Partei hinaus bekannt und beliebt. Ihr Newsletter allein hat 45.000 Abonnenten. Zum Vergleich: Die Linkspartei hat inzwischen nicht einmal mehr 60.000 Mitglieder. Auf Facebook hat Sahra mehr als 553.000 Follower. Ihr You Tube-Kanal hat 281.000 Abonnenten. Das meistbeachtete Video hat fast eine Million Zuschauer.

Und überall dort wo sie im Wahlkampf auftrat, füllte sie die Plätze - wie etwa in Erfurt und in Rostock.

Das Verhalten der Parteiführung kann nur als sektiererisch bezeichnet werden.

Und dies war mit Sicherheit ein Grund für die desaströse Niederlage der Partei DIE LINKE bei den Bundestags-Wahlen und bei den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.

Ganz anders fiel das Ergebnis der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei der am gleichen Tag stattgefundenen Gemeinderatswahl in Graz aus. Dort erreichte die KPÖ knapp 29 Prozent und wurde damit stärkste Partei. Elke Kahr, die Spitzenkandidatin der Grazer KPÖ, sagte über das im Vergleich dazu klägliche Ergebnis der deutschen Linkspartei: "Der Fehler der Linken in Deutschland ist sicherlich, dass sie wie viele andere europäische linke Parteien, linke Politik nur abstrakt macht - nicht nahe den Menschen."

Wie recht sie doch hat!          

 

Diese Niederlage der LINKEN bei den Bundestagswahlen sollte aber besonderer Anlass sein, sich mit den Inhalten des Buches zu befassen - Was steht tatsächlich drin?

Hier will ich eine Vorbemerkung machen: Es handelt sich um ein sehr umfangreiches Buch, das unterschiedlichste Aspekte behandelt - ich kann mich daher hier nur auf einige wenige Aussagen des Buches beschränken, die aber - aus meiner Sicht – besonders wichtig sind.

Sahra provoziert, in dem sie einige der in der Partei DIE LINKE weit verbreiteten Gewissheiten grundsätzlich in Frage stellt. Sie kritisiert den bei Linken, Grünen, aber inzwischen auch in Teilen der SPD verbreiteten Linksliberalismus - sie bezeichnet ihn sogar als größten Erfolg Maggy Thatchers - S. 98 ff.[1]

Maggy Thatcher war Premierministerin in UK sowie Wegbereiterin des Neo-Liberalismus - und sie hat sogar die Labour-Party mit ihrem Kurs beeinflusst.

Hierzu drei Zitate aus Sahras Buch:

  1. "Dieses Buch ist ein Plädoyer für eine liberale, tolerante Linke. Die Linksliberalen um die es im Folgenden geht, also die Linksliberalen im modernen Wortsinn, sind genau besehen weder links noch liberal. (...)“
  2. „Linksliberale nehmen für sich in Anspruch, für Vielfalt, Weltoffenheit, Modernität, Klimaschutz, Liberalität und Toleranz zu stehen. Allem, was nach linksliberalem Verständnis rechts ist, wird hingegen der Kampf angesagt: Nationalismus, Rückwärtsgewandtheit, Provinzialität, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Islamophobie. ...“
  1. „Besondere Bedeutung in linksliberalen Debatten nehmen Fragen der Abstammung, des Geschlechts und der sexuellen Orientierung ein und überlagern die Diskussion sozio-ökonomischer Probleme bei Weitem. Außerdem geht es viel um Sprache und Regeln korrekter Ausdrucksweise. Der Linksliberalismus ist das Weltbild der Lifestyle-Linken (…)“

Die Ausbreitung dieses linksliberalen Denkens aber bedeutet nach Sahra Wagenknecht zugleich einen Verlust an Gleichheit und Sicherheit - S. 134 ff.

Ich zitiere: „Den gesellschaftlichen Wandel der zurückliegenden Jahrzehnte einseitig in eine große Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte umzudeuten ist die Lebenslüge der Gewinner, mit der die Entwicklung schöngeredet wird, die für die Mehrheit der Menschen weit mehr Verluste als Verbesserungen gebracht hat.“

Und weiter: „Was der Linksliberalismus als Abschied von der Gleichförmigkeit und dem Konformismus der Massenkonsumgesellschaft feiert, war für die meisten Menschen mit mittleren und niedrigen Bildungsabschlüssen der Verlust an Gleichheit, Sicherheit und materiellem Wohlstand. (...)

Denn es waren gerade die öffentlichen Angebote im Bildungsbereich und die starken gesetzlichen Solidarsysteme, die die Abhängigkeit vom familiären Background verringerten und damit vor allem den Menschen individuelle Freiräume und neue Lebenschancen eröffneten, die sich nicht auf ein ressourcenstarkes familiäres Hinterland stützen können. Mit der Erosion der Sozialstaaten und dem neuen Bildungsprivileg ist genau das wieder verloren gegangen.“

 

Wagenknecht bezeichnet den Linksliberalismus deshalb – sicherlich polemisch zugespitzt – als „neu verpackten Neoliberalismus“ - S. 137

Zitat: „Genau besehen ist die linksliberale Erzählung also nichts als eine aufgehübschte Neuverpackung der Botschaften des Neoliberalismus. (...) So wurde aus Egoismus Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus zerstörten Sicherheiten der Abschied von Normalität und Konformität, aus der Globalisierung Weltoffenheit und aus Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land Weltbürgertum.“

Auf diese Weise sind neue Mauern zwischen oben und unten entstanden - S. 135

Auch hierzu ein Zitat: „Während die Außengrenzen für Nicht-Staatsbürger poröser wurden, sind die Grenzen zwischen den sozialen Schichten zu Mauern geworden, die sich immer schwerer überwinden lassen. Die gefeierte Offenheit der 'offenen Gesellschaft' ist also ein Euphemismus. Offen steht der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft vor allem der Weg nach unten, weil die sozialen Netze nicht mehr tragen. Aufstiegshoffnungen dagegen scheitern an der erfolgreichen Abschottung der wohlhabenden Milieus.“

Und weiter: „Für die Mehrheit der Bevölkerung“ aber „hat in den letzten Jahrzehnten keine Liberalisierung stattgefunden, sondern für sie ist eine bereits erreichte Liberalität wieder verloren gegangen.“

 

Selbst die Emanzipation der Frauen war oft nur eine Emanzipation für Akademikerinnen - S. 136

Hierzu schreibt Sahra: „Für Frauen ohne Hochschulabschluss und erst recht für Frauen ohne Abitur hat die Emanzipation dagegen kaum oder gar nicht stattgefunden.“

Über diese Aussagen kann und muss diskutieren werden. Aus meiner Sicht aber hat Sahra Wagenknecht hier wichtige Gründe für den Abstieg der Partei DIE LINKE benannt.

 

Da ist zunächst der Verlust der Rolle der „Kümmerer-Partei“ vor allem im Osten.

Es war leicht für die AfD, sich dort die alte Rolle der PDS anzumaßen, obwohl die Alternative für Deutschland gar keine wirkliche Alternative ist, sondern in Wirklichkeit eine Abspaltung des konservativen, reaktionären Flügels der CDU/CSU. Viele ihrer führenden Repräsentanten kommen aus den Unionsparteien (wie Gauland, Höcke und andere).

Die AfD ist zudem eine durch und durch neoliberale Partei - sie steht für Privatisierungen, für weniger Staat, für mehr Markt! Sie fordert zudem mehr Rüstungsausgaben und verteidigt die NATO.

 

Bei den Wahlen sind viele ehemalige Linke-Wähler zur SPD gewechselt bzw. zu ihr zurückgekehrt.

Von den Sozialdemokraten erwarten sie soziale als auch innere Sicherheit. Bei uns in Berlin punktete Franziska Giffey im Abgeordnetenhauswahlkampf mit dem Slogan „Ganz sicher Berlin“. Giffey und Olaf Scholz, aber auch Manuela Schwesig vermitteln eben nicht den Eindruck, Lifestyle-Linken zu sein. Sie haben vielmehr verstanden: Man darf sich nicht von den Alltagserfahrungen der sozial Deklassierten entfernen.

Vor allem deshalb gab es einen großen Wanderungsverlust von der Linken zur SPD: Nicht weniger als 600.000 Wähler wechselten bei der Bundestagswahl zu den Sozialdemokraten!

 

Es gibt aber auch eine starke Abwanderung zu den Grünen.

Bei den Bundestagswahlen haben in den Großstädten Viele statt der Linkspartei mit den Grünen lieber gleich das Original gewählt.

In einer Wahlauswertung hat Sahra Wagenknecht die Anbiederung an die Grünen scharf kritisiert: Man versuche, „grüner als die Grünen“ zu wirken. (FR vom 28.09.2021)

Und: „Wir laufen Gefahr, zu einer Partei des weitgehend gut situierten akademischen
Fridays-for-Future-Milieus zu werden. Menschen ohne akademische Ausbildung oder außerhalb der Großstädte wählen uns kaum noch.“ (Die Welt, Interview vom 28.09.2021)

 

Das Ergebnis: Der Anteil der Arbeiter unter den Anhängern der Partei DIE LINKE beträgt heute nur noch 5 Prozent!

Spitzenreiter ist hier die SPD mit 26 Prozent, gefolgt von der AfD mit 21 Prozent. Selbst der Anteil der FDP ist mit 9 Prozent höher! DIE LINKE kann sich daher eigentlich nicht mehr als eine linke Partei bezeichnen.

 

Ein Vorzug des Buches „Die Selbstgerechten“ ist, dass Sahra Wagenknecht darin die Gegenwart mit anderen Phasen der Geschichte der Bundesrepublik vergleicht. Sie benennt etwa die millionenfache Aufstiegserfahrung vor allem in den sechziger und siebziger Jahren - S. 65

Ich zitiere: „Die Aufstiegserfahrung bezog sich anfangs noch kaum auf die Möglichkeit für Kinder aus dem Arbeitermilieu ein Gymnasium besuchen und studieren zu können. Diese Chance gab es für eine größere Zahl erst Ende der sechziger Jahre.

Zunächst wesentlich prägender war die Möglichkeit, mit einer soliden Berufsausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung einen Lebensstandard zu erreichen, der Zugang zu den meisten Annehmlichkeiten der damaligen Konsumgesellschaft eröffnete, vom eigenen Auto über Fernseher und Waschmaschine bis zur Urlaubsreise.“

Es entstand dadurch ein Gefühl der Sicherheit durch Normalität - S. 65 f.

Hierzu noch ein Zitat: „Eine wichtige Rolle spielte auch ein für viele völlig neues Gefühl sozialer Sicherheit. Die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte allmählich steigende Löhne und vielfach auch eine berechenbare Karriere ... Und alle lebten mit der Erwartung, dass es ihren Kindern dereinst noch besser gehen würde als ihnen selbst.“

Und: „Öffentlicher Wohnungsbau und Eigenheimförderung, aber auch die Bereitstellung von Werkswohnungen sorgten zudem für sozial durchmischte Wohnviertel, in denen der Facharbeiter, der Postbeamte und der leitende Angestellte eines mittelgroßen Betriebs nicht selten Nachbarn in der gleichen Reihenhaussiedlung waren.

Insofern gab es zwar nie eine 'nivellierte Mittelstandsgesellschaft', aber es gab in allen westlichen Ländern eine Epoche, in der es tatsächlich für alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärtsging. Sie endete in den achtziger Jahren.“

Bessere Zeiten haben aber nicht nur die Lohnabhängigen in der alten Bundesrepublik kennengelernt, dies gilt auch für viele einstige DDR-Bürger. Das bleibt jedoch in ihrem Buch leider unerwähnt.

 

Dies sind kollektive Erinnerungen an bessere Zeiten, die auch Bertolt Brecht in seinen „Flüchtlingsgesprächen“ anspricht.

Geschrieben hat Brecht den Text in dunklen Zeiten - im finnischen Exil, während des Krieges. In den Gesprächen lässt er den deutschen Emigranten Ziffel „seinen Unwillen gegen alle Tugenden“ zum Ausdruck bringen:

„Eine Zeitlang hat‘s ausgesehen, als ob die Welt bewohnbar werden könnte, ein Aufatmen ist durch die Menschen gegangen. Das Leben ist leichter geworden. Der Webstuhl, die Dampfmaschine, das Auto, das Flugzeug, die Chirurgie, die Elektrizität, das Radio, das Pyramidon kam, und der Mensch konnte fauler, feiger, wehleidiger, genusssüchtiger, kurz, glücklicher sein. Die ganze Maschinerie diente dazu, dass jeder alles tun können sollte. Man rechnete mit ganz gewöhnlichen Leuten in Mittelgröße. Was ist aus dieser hoffnungsvollen Entwicklung geworden? Die Welt ist schon wieder voll von den wahnwitzigsten Forderungen und Zumutungen. Wir brauchen eine Welt, in der man mit einem Minimum an Intelligenz, Mut Vaterlandsliebe, Ehrgefühl, Gerechtigkeitssinn und so weiter auskommt, und was haben wir?“  (Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, 1989, Suhrkamp Verlag, Seite 121 f.)

Brecht wusste um die große Bedeutung von Erinnerungen an bessere Zeiten, da sie die Verhältnisse zum Tanzen bringen können.

Die Menschen revoltieren nämlich in der Regel nicht, weil sie ein abstraktes Zukunftsprogramm durchsetzen wollen, sondern weil sie die einmal erlebten, besseren Zeiten zurückhaben möchten. Sie stellen die einfache, aber umstürzlerische Frage: Weshalb geht heute nicht mehr, was doch gestern noch möglich war?

Ich selbst als siebtes Kind einer Arbeiterfamilie habe eine solche bessere Zeit in den 70er-Jahren erlebt: Realschule - Ausbildung zur Reisebürokauffrau – Umzug nach Berlin – Abitur an der Volkshochschule, abends nach der Arbeit – Studium der Biologie – Stipendium für die Dissertation zur Molekulargenetikerin – Beamtin am Robert-Koch-Institut – danach im Bundesinstitut für Risikoforschung. Heute ist eine solche Entwicklung kaum noch vorstellbar!

Sahra Wagenknecht verweist auch darauf, dass die durch den Sozialabbau zunehmende Verunsicherung von Millionen Menschen politische Folgen hat.  Angst macht illiberal – S. 200 f.

Dazu schreibt sie: „Es ist lange bekannt, dass autoritäre Denkmuster und der Wunsch nach autoritärer Herrschaft keine festen Persönlichkeitsmerkmale sind. Menschen werden intoleranter, wenn sie verunsichert sind und sich bedroht fühlen. Die Bedrohung kann ihre soziale Lage betreffen, ihr Lebensumfeld oder ihre Werte und ihre moralische Ordnung.

Je größer die Verunsicherung und je akuter die Bedrohung empfunden wird, desto unduldsamer wird der Umgang mit Andersdenkenden, vor allem dann, wenn sie mit der Bedrohung in Verbindung gebracht werden.     

Wenn die Gefahr das eigene Leben betrifft, verändern sich Einstellungen besonders schnell und besonders radikal. Corona hat es in extremer Form bestätigt: Eine Gesellschaft in Angst ist keine liberale Gesellschaft. ...

Und zwar auch deshalb, weil - ich zitiere – "die linksliberalen Kulturkämpfe das sicherste Mittel sind, die sozialökonomisch linke Mehrheit zu spalten und Mauern des Misstrauens und der Feindseligkeit zwischen den akademischen Milieus und der nicht-akademischen Bevölkerung aufzubauen. Mauern, die sicherstellen, dass aus gesellschaftlichen Mehrheiten für mehr sozialen Ausgleich, stärkere Sozialstaaten, die Einhegung der Märkte und eine vernünftige De-Globalisierung garantiert keine politischen Mehrheiten werden.“

 

Der politische Rechtstrend wird durch diese Verunsicherung gestärkt - S. 201

Sahra schreibt dazu: „Was es gibt, ist ein politischer Rechtstrend, der darin besteht, dass rechte Parteien stärker und einflussreicher werden. Dieser Rechtstrend ist nicht harmlos und alles andere als ungefährlich. ...

Und weiter: Der unregulierte globalisierte Kapitalismus ist für große Teile der Bevölkerung eine soziale und kulturelle Zumutung. Aber solange die politische Linke keine glaubwürdige progressive Erzählung und kein überzeugendes politisches Programm anbietet, das nicht nur die wachsende Zahl weniger wohlhabender Akademiker anspricht, sondern auch den sozialen Interessen und Wertvorstellungen der Arbeiter, der Servicebeschäftigten und auch der traditionellen Mitte entgegenkommt, werden immer mehr Menschen aus diesen Schichten sich entweder von der Politik abwenden oder auf der anderen Seite des politischen Spektrums  eine neue Heimat suchen. Und irgendwann wird zumindest ein Teil von ihnen beginnen, auch so zu sprechen und zu denken, wie auf dieser Seite gesprochen und gedacht wird. Wem die Verrohung der Diskurse Angst macht und wer den Rechtstrend tatsächlich umkehren will, der muss aufhören, allein um die Lufthoheit über den Seminartischen zu kämpfen.“

 

Die Impfgegnerin Sahra Wagenknecht

Problematisch ist die vor kurzem von Sahra verkündete Ablehnung, sich nicht gegen Corona impfen zu lassen.

In einem am 3. November von der Neuen Osnabrücker Zeitung mit ihr geführten Interview sieht sie sich – ich zitiere: "im Streit um Corona-Impfungen zu Unrecht als Impfgegnerin diffamiert und wehrt sich dabei auch gegen Kritik aus der eigenen Partei: "Ich habe nicht gegen die Impfung geworben, sondern ausdrücklich Älteren und Risikogruppen geraten, sich impfen zu lassen." Und sie erklärt: "Ich habe mich dagegen gewandt, dass Ungeimpfte moralisch geächtet und finanziell erpresst werden und jetzt als Sündenbock für die Versäumnisse der Politik herhalten sollen." Sie ist der Meinung, dass es – ich zitiere: "im Kern ... bei diesen Empörungsritualen kaum um das jeweilige Thema, sondern in erster Linie darum (geht), mich anzugreifen und öffentlich in ein schlechtes Licht zu setzen. Es ist Parteiposition der Linken, dass wir eine Impfpflicht ablehnen. Dass wir kostenlose Tests fordern. Nichts anderes habe ich vertreten“.

Auf die Frage des Interviewers, warum es in Ihren Augen nicht solidarisch sei, wenn er sich impfen lassen würde und dann von ihm ein geringeres Impfrisiko ausgeht, antwortete Sahra: "Die Impfung schützt vor allem vor schweren Verläufen. Das ist wichtig, aber eine andere Frage ist, ob Geimpfte sich infizieren und das Virus weitergeben können. Dass sie das tun, belegen aber nicht nur neuere Studien, sondern auch die aktuelle Situation" und "Wer sich schützen möchte sollte sich impfen, aber es muss eine individuelle Entscheidung bleiben."

Freiheit scheint für Sahra das Wichtigste zu sein. Auf die Frage des Interviewers, welche Strategie sie für den kommenden Corona-Winter empfehle, wenn sie dem Impfen so skeptisch gegenüberstehe und damit auch andere beeinflusse, antwortet sie: "Ich stehe dem Impfen nicht skeptisch gegenüber, aber ich habe Bedenken angesichts völlig neuartiger genetischer Impfstoffe, deren Langzeitfolgen aktuell niemand kennt."

Damit schließt sich Sahra den Kritikern von "gentechnisch veränderten Organismen" (GMO) an. Dazu gehören vor allem "Organic Farming" betreibende Landwirte und deren Kunden.

Sahras Position zur Impfung widerspricht nicht nur der wissenschaftlich unumstrittenen Erkenntnis, dass zwar auch Geimpfte das Virus weitergeben können - diese Wahrscheinlichkeit aber bei Ungeimpften ungleich größer ist. Es ist daher ein Selbstschutz der übergroßen Mehrheit der bereits Geimpften gegenüber einer Minderheit der Impf-Verweigerer wenn die Ungeimpften durch 2G-Regelungen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden. Mit indirektem Impfzwang bzw. Schikane der Ungeimpften und ihre Erklärung zu "Sündenböcken" hat das alles nichts zu tun. Hier irrt Sahra.

Die Frage der Impfung ist keineswegs nur eine Frage, die man individuell nur ganz allein für sich beantworten sollte. Die eigene Impfung ist nämlich immer auch ein Beitrag zum Schutz anderer, damit diese nicht erkranken oder gar sterben. Sie ist Ausdruck gelebter Solidarität vor allem gegenüber den Schwächsten der Gesellschaft, den Alten und jenen, die unter Vorerkrankungen leiden.

Es ist erstaunlich, dass all dies für Sahra hier nicht zählt. Sie selbst hat doch in dem hier besprochenen Buch ein Kapitel mit den Worten "Warum wir Gemeinsinn und Miteinander brauchen" überschrieben. (S. 205) Darin spricht sie über "Verpflichtungen", die sich "aus Mitverantwortung" ergeben". Beschworen werden "Gemeinsinn, Solidarität, Mitverantwortung für das Gemeinwesen."  

Diese hehren Forderungen passen nicht zu ihren Aussagen zur Corona-Impfung. Kann es daher sein, dass Sahra in dieser Frage selbst eine "Selbstgerechte" ist?            

 

Dennoch kann man allen – und hier vor allem den Kritikern von Sahra Wagenknecht -nur empfehlen, das Buch „Die Selbstgerechten“ zu lesen.

So hat auch Pablo Graubner - Mitglied der DKP, ehemals Mitglied des Parteivorstands - in der Wochenzeitung Unsere Zeit für das Buch geworben. Er schrieb: „Den verbliebenen Marxisten in der BRD sei dieses Buch (…) empfohlen (…) als weiterer Baustein der linkspopulären Debatte, in der Domenico Losurdo die Frage stellte, „Warum die Linke fehlt“ (…)

Dem kann ich mich nur anschließen!

Sahras Buch ist ein Appell, sich endlich um die Vielen zu kümmern, die nicht im Licht stehen!

Wie heißt es doch so zu treffend bei Bertolt Brecht:

„Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht.

Und man sieht nur die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“

Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper

 

[1] Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf das Buch von Sahra Wagenknecht „Die Selbstgerechten“, Campus-Verlag, 2021

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