Die Stunde der Heuchler

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Deutsche Politiker reden von „Landraub“ und „Zivilisationsbruch“ – begangen von Russland. Sie schweigen aber über Israel und die Zerschlagung Jugoslawiens.

Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht fest: Russland begeht „Landraub“. [1] Für die Außenministerin Annalena Baerbock bedeuten die russischen Luftangriffe auf Infrastruktureinrichtungen der Ukraine einen „Zivilisationsbruch“. [2] Und Bundeskanzler Olaf Scholz sieht in Russland einen neuen „Imperialismus“ am Werk. [3] Es ist die Stunde der Heuchler. Sie alle wissen es in Wirklichkeit besser. Sie alle wissen, wer sich in der jüngsten Geschichte tatsächlich eines „Landraubs“ schuldig gemacht hat, wessen Verhalten als „Zivilisationsbruch“ gilt und wer die „imperialistische Macht“ ist, die die ganze Welt in Atem hält - dies ist natürlich der Imperialismus der USA. Es gab Zeiten, da war auch Olaf Scholz dieser Ansicht.[4]

Einen Landraub beging der kollektive Westen gegenüber Jugoslawien, indem er das Land militärisch niederrang, um ihm dann die Provinz Kosovo zu entreißen. Landraub beging auch das als Vorposten des Westens geltende Israel durch die Annexion der Golanhöhen und Ost-Jerusalems. Und was den angeblichen Zivilisationsbruch durch Russland betrifft, so ist dies eine Verirrung ohnegleichen und zugleich eine Verharmlosung der Verbrechen des deutschen Faschismus. Die geplante und im großen Stil erfolgte Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden durch das Nazi-Regime ist und bleibt der Zivilisationsbruch!

Die Annexionen der Golanhöhen und Ost-Jerusalems durch Israel

Im Sechstagekrieg besetzte 1967 das israelische Militär die syrischen Golanhöhen, das Jordanien unterstehende Westjordanland sowie Ost-Jerusalem. Von Beginn an stellte Israel klar, dass es nicht daran denkt, sich an die völkerrechtlichen Regeln zu halten, die für eine Besatzungsmacht gelten. Die arabischen Einwohner der Golanhöhen wurden systematisch vertrieben, so dass von der ursprünglichen Bevölkerung von etwa 130.000 bereits zwei Monate nach der israelischen Eroberung nur noch 6.396 übrigblieben: „194 syrische Dörfer und Bauernhöfe mit 82.709 Einwohnern wurden zerstört.“ [5] In dem entvölkerten Land siedelten sich Israelis an. 1981 erklärte Israel die Golanhöhen zu seinem Territorium. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verurteilte diesen Landraub in mehreren Entschließungen als „null und nichtig“. Doch Israel stört sich nicht daran, steht doch der Westen geschlossen hinter ihm. Und mit dieser ignoranten Haltung ist es erfolgreich: Am 25. März 2019 wurden die Golanhöhen von den USA formell als Teil Israels anerkannt.

Ein vergleichbares Schicksal erlitten die palästinensischen Einwohner Ost-Jerusalems. Das am 30. Juli 1980 vom israelischen Parlament verabschiedete sogenannte Jerusalem-Gesetz bestimmt, dass „das vereinte Jerusalem in seiner Gesamtheit die Hauptstadt Israels“ ist. [6] Auch dies erklärte der UN-Sicherheitsrat für „null und nichtig“. Doch die USA ignorierten diese Entschließung: Am 6. Dezember 2017 erkannte US-Präsident Donald Trump Jerusalem als Hauptstadt Jerusalems an. [7]    

Den in Ost-Jerusalem lebenden 340.000 Palästinensern wird die israelische Staatsbürgerschaft verweigert. Sie besitzen lediglich ein Aufenthaltsrecht. Und auch das kann ihnen entzogen werden, halten sie sich über einen längeren Zeitraum nicht in der Stadt auf. Seit 1967 wurden auf diese Weise mehr als 14.000 Palästinensern das Aufenthaltsrecht für Ost-Jerusalem entzogen, etwa nach einem Studium im Ausland. Die israelische Regierung ging jetzt noch einen Schritt weiter. Am 20. Dezember 2022 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): „Das (israelische, A.W.) Innenministerium teilte mit, der palästinensisch-französische Menschenrechtsanwalt Salah Hamouri sei am Morgen abgeschoben worden, nachdem Innenministerin Ayelet Shaked entschieden habe, wegen 'terroristischer Aktivitäten' seinen 'Aufenthalt in Israel zu widerrufen'. Hamouri sei ein Mitglied der verbotenen 'Volksfront zur Befreiung Palästinas' (PFLP). Er bestreitet das.“ Obwohl Frankreich, das Land in das Hamouri abgeschoben wurde, scharf gegen diese Maßnahme protestierte, widerrief das israelische Innenministerium seine Entscheidung nicht. Die FAZ bezichtigte daraufhin Israel eines Kriegsverbrechens: „Die Ausweisung von Zivilisten aus besetztem Gebiet ist nach der Vierten Genfer Konvention verboten und stellt ein Kriegsverbrechen dar.“ [8]

Am 30. Dezember 2022 – also nur wenige Tage nach der Weihnachtsansprache von Bundespräsident Steinmeier, in der er Russland Landraub vorwarf – befasste sich die Vollversammlung der Vereinten Nationen erneut mit dem israelischen Vorgehen in den besetzten Gebieten. In einer Entschließung rief sie den Internationalen Gerichtshof dazu auf, Israels „fortwährende Besatzung, Besiedlung und Annexion palästinensischer Gebiete“ zu prüfen: „87 Staaten hatten (…) für die Resolution gestimmt, darunter Russland und China. Dagegen stimmten insgesamt 26 Staaten, unter ihnen die USA, Deutschland und Großbritannien. Mehr als 50 enthielten sich.“ [9] Die deutsche Bundesregierung unter Außenministerin Baerbock, die ansonsten nicht müde wird zu betonen, wie wichtig ihr die Bewahrung der internationalen Rechtsordnung ist, hat mit Nein gestimmt, will also den israelischen Landraub nicht vor dem Internationalen Gerichtshof sehen. Und natürlich bleibt das Land für die deutsche Politik weiter ein enger Partner, dem es großzügig Waffen liefert – sogar U-Boote.

Die Abtrennung des Kosovo

Ein besonderer Ausdruck von Heuchelei ist das beredte Schweigen über die von Deutschland aktiv mitbetriebene Abtrennung der serbischen Provinz Kosovo von der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ), heute Serbien und Montenegro. Nachdem es dem unter Führung der USA zusammengeschlossen Westen nicht gelungen war, die Regierung in Belgrad zu bewegen auf das Kosovo zugunsten der dortigen albanischen Bevölkerungsmehrheit zu verzichten, begann am 24. März 1999 unter der Bezeichnung „Allied Force“ ein militärischer Angriff auf Jugoslawien, an dem sich 14 NATO-Staaten beteiligten. Ein UN-Mandat dafür gab es nicht. Teil dieser Allianz war auch das von einer SPD/Grünen-Koalition regierte Deutschland. Frank-Walter Steinmeier war zu dieser Zeit Chef des Bundeskanzleramtes unter Gerhard Schröder und Olaf Scholz Abgeordneter für die SPD im Bundestag. Beide sollten sich daher an diese Ereignisse erinnern können.

In dem Luftkrieg überfiel die NATO mit Jugoslawien ein militärisch hoffnungslos unterlegenes Land. Gegenüber standen sich ein Staat „mit einem jährlichen Verteidigungsbudget von schätzungsweise 1,5 Milliarden US-Dollar und 110.000 aktiven Soldaten und ein Bündnis mit einem Jahresbudget von 450 Milliarden US-Dollar und einer Personalstärke von vier Millionen Aktiven (…).“ [10] Der Luftkrieg dauerte mehr als zehn Wochen, vom 24. März bis zum 10. Juni 1999, und war von einer Brutalität wie sie nach 1945 in Europa bis dahin nicht mehr vorstellbar war: „Am Ende beteiligten sich über 900 Flugzeuge aus 14 Nationen, die in über 38.000 Einsätzen mehr als 28.000 Bomben und Flugkörper über das Gebiet der BRJ abwarfen.“ [11]

Jugoslawien verteidigte sich geschickt und tapfer, doch am Ende musste seine Armee in diesem ungleichen Kampf nachgeben und sich aus dem Kosovo zurückziehen. Der Preis, den das Land für seinen Widerstand zu zahlen hatte war hoch: Nach offiziellen bundesdeutschen Angaben wurden bei 90 Angriffen 500 jugoslawische Zivilisten getötet. Allein 73 Menschen kamen bei der Beschießung eines Flüchtlingskonvois auf der Straße bei Dakovica ums Leben.  Und beim Beschuss der Eisenbahnbrücke über die Grdelica-Schlucht wurde ein Personenzug getroffen und dabei 20 Passagiere getötet. Die Regierung der BRJ schätzte die Zahl der serbischen und anderen nicht-albanischen Opfer während des Kosovokriegs auf 2000 bis 3000 Getötete und etwa 5.000 Verletzte. [12] Hinzu kamen die vielen gefallenen jugoslawischen Soldaten. Das NATO-Kriegsbündnis hatte hingegen keinen einzigen Verlust zu beklagen!

Bei den Tag und Nacht geflogenen Luftangriffen wurde vor allem zivile Infrastruktur ins Visier genommen. Der Widerstandswille der Bevölkerung sollte gebrochen werden. Zerstört wurden Straßen, Bahngleise, Brücken – hier vor allem die wichtigen über die Donau – sowie Elektrizitäts- und Wasserwerke und große Produktionsstätten, etwa die Zastava-Automobilwerke in Kragujevac. Als besonders verheerend erwies sich der Angriff auf das Chemie-Großkombinat Pancevo in einem Vorort Belgrads. Große Mengen giftiger und krebserregender Stoffe traten aus. Die Schwaden aus den brennenden Fabriken hüllten Pancevo in eine Giftwolke. Systematisch bombardiert wurden auch Einrichtungen der Medien, wobei das Belgrader TV-Zentrum und der Fernsehturm zerstört wurden. Es sollte das jugoslawische Fernsehen ausgeschaltet werden.

Es dauerte Jahre bis die wichtigsten Infrastrukturen wieder aufgebaut waren. Vor allem der Neubau der Brücken über die Donau kostete viel Zeit und Geld. Der Belgrader Fernsehturm konnte erst 2010 seinen Betrieb wieder aufnehmen. Ruinen von Brücken, Bürogebäuden und Fabriken stehen noch heute überall im Land.

Das Kosovo erklärte am 17. Februar 2008 unter der schützenden Hand der westlichen Staaten einseitig seine Unabhängigkeit. Deutschland zählte zu den ersten Ländern, die die Republik völkerrechtlich anerkannten und diplomatische Beziehungen aufnahmen. Der Protest des traditionell mit Serbien verbundenen Russlands gegen die einseitige Unabhängigkeitserklärung wurde ignoriert. Diese offene Missachtung russischer Interessen sollte ein entscheidender Schritt in der Entfremdung zwischen Russland und dem Westen sein. Das Kosovo ist heute ein treuer Vasallenstaat des Westens und insbesondere der USA. Unmittelbar nach dem Einmarsch der NATO-Truppen begann das US-Militär 1999 dort mit der Errichtung des Camps Bondsteel in der Nähe der Stadt Ferizaj. Der Stützpunkt – benannt nach dem Vietnamkriegsveteranen James Leroy Bondsteel - ist heute eine der größten US-Basen im Ausland.    

Kein gleiches Recht für den Donbass

Doch was für das Kosovo gilt, nämlich das Recht der dort lebenden albanischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung, hat nach Ansicht des Westens weder für die von Russen bewohnte Krim noch für die im ukrainischen Donbass lebende russischsprachige Bevölkerung Bedeutung. Die Referenden über die staatliche Autonomie des Donbass in der Oblast Lugansk und der Oblast Donezk vom 11. Mai 2014 wurden als bloßes russisches Manöver abgetan. Dazu passt allerdings nicht, dass Präsident Putin noch am 7. Mai 2014 aufgerufen hatte, die Volksbefragungen zu verschieben, um einen nationalen Dialog in der Ukraine zu ermöglichen.[13] Nachdem dies abgelehnt worden war, forderte er einen „Dialog auf Augenhöhe“ zwischen der Regierung in Kiew und den separatistischen Kräften im Osten, dies sei der Schlüssel zur Verringerung der Spannungen. Moskau verweigerte die Anerkennung der Unabhängigkeit von Lugansk und Donezk und setzte stattdessen auf Verhandlungen. Auf diese Weise kam es zu den beiden Minsker Abkommen, die zwischen der Ukraine und Russland unter Vermittlung von Deutschland und Frankreich ausgehandelt wurden. Inzwischen hat die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel allerdings offen eingestanden, dass diese Verhandlungen nur zu dem Zweck geführt wurden, um der Ukraine Zeit für ihre Aufrüstung zu verschaffen, und so die beiden abtrünnigen Gebiete mit Gewalt in den ukrainischen Staatsverband zurückzwingen zu können. [14]      

Erst nach acht Jahren Bürgerkrieg mit 14.000 Toten, darunter ca. 9.000 Einwohner aus Lugansk und Donezk,[15] sowie der offenen Erklärung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Minsker Abkommen nicht umsetzen zu wollen, wurde die Unabhängigkeit der beiden Separatistengebiete am 21. Februar 2022 von Moskau anerkannt. Mit der Begründung sie verteidigen zu wollen, begann wenige Tage später der großangelegte russische Angriff auf die Ukraine. Die daraufhin erfolgte Zerstörung ukrainischer Infrastruktur wird vom Westen zu einem Kriegsverbrechen - und geht es nach Baerbock - gar zu einem Zivilisationsbruch erklärt. Ganz anders fällt hingegen die Bewertung des Kriegs der NATO-Staaten gegen die Bundesrepublik Jugoslawien aus. Die damaligen Zerstörungen gelten noch heute aus Sicht des Westens als völlig legitimes Vorgehen, um das Selbstbestimmungsrecht der Albaner im Kosovo durchzusetzen.

Es ist schon so wie es der russische Präsident Putin gegenüber Bundeskanzler Scholz am 15. Februar 2022 sagte: „'Aber wir haben doch bereits Krieg in Europa erlebt! Dieser Krieg wurde von der Nato gegen Jugoslawien entfesselt', und noch dazu, erinnerte er, sei das ohne Mandat der Vereinten Nationen geschehen. 'Das ist ein sehr schlechtes Beispiel' fügte er Scholz gegenüber an, 'aber dieses Beispiel hat es gegeben.'“ [16]

 

[1] Frank-Walter Steinmeier, Weihnachtsansprache 2022

[2] Baerbock geißelt Putins Krieg als „Zivilisationsbruch“ – ein Begriff, der aufhorchen lässt, in: Stern vom 29.11.2022

[3] Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der 77. Generaldebatte vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20.09.2022 in New York

[4] Vgl. Andreas Wehr, Der Krieg um die Ukraine – Streit zwischen zwei Räubern? vom 25.10.2022

[5] Wikipedia. Golanhöhen, Stand 04.01.2023

[6] Vgl. Jonathan Kuttab, The Legal Status of Jerusalem, in: Palestine-Israel Journal Vol 2 No 2, 1995

[7] Vgl. zu dieser Entscheidung der USA: Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags 2 – 3000 – 009/18, Völkerrechtliche Bewertung der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels.

[8] Israel weist palästinensischen Menschenrechtler aus - Erstmals wird ein in Ostjerusalem geborener Mann wegen „Terrorvorwurfs“ nach Frankreich abgeschoben, in FAZ vom 20.12.2022

[9] Netanjahu kritisiert Resolution - UN fordern IGH-Gutachten zu Siedlungspolitik, in FAZ vom 02.01.2023

[10] Hans-Peter Kriemann, Hineingerutscht? Deutschland und der Kosovo-Krieg, Göttingen 2021, S. 330

[11] Hans-Peter Kriemann, Hineingerutscht? a.a.O., S. 338

[12] Wikipedia, Kosovokrieg,  Stand 04.01.20223

[13] Vgl. Ukraine-Separatisten beharren auf Referendum, in: Deutsche Welle vom 08.05.2014

[14] Vgl. „Absolut unerwartet“: Putin enttäuscht von Merkels Ukraine-Äußerungen, in Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) vom 09.12.2022

[15] Diese Zahlen nennt Ulrich Heyden, in: Der längste Krieg in Europa seit 1945, Hamburg 2022, S. 18

[16] Putins historische Verirrungen – Ein Krieg wie kein anderer, in: Tagespiegel vom 26.02.2022

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