Die weißen Sklaven

von


Die Sezessionisten in den englischen Kolonien Nordamerikas beantworteten den an sie gerichteten Vorwurf, Sklavenhalter zu sein mit der Anklage gegenüber der englischen Oberherrschaft mit der von ihnen organisierten Lohnarbeit selbst Unterdrücker zu sein. Domenico Losurdo beschreibt in „Freiheit als Privileg“ den Konflikt: „Die aufständischen Siedler in der Zeit der amerikanischen Revolution, später dann die Südstaatler bei ihrem Konflikt mit dem Norden beschuldigen ihre Antagonisten der Heuchelei: diese empörten sich über die schwarze Sklaverei, aber sie verschlössen die Augen vor der Tatsache, dass substanziell sklavereiähnliche Verhältnisse innerhalb der von ihnen als Modell gepriesenen Gesellschaft fortbestehen.“ [1] Das ist nach ihm „natürlich Polemik“ und damit geeignet, die furchtbare Tatsache der Sklaverei zu verharmlosen. Doch auch Adam Smith machte in Großbritannien „'Reste von Sklaverei' aus, - in den Salinen und in den Bergwerken gebe es Arbeitsverhältnisse, die der Leibeigenschaft nicht unähnlich seien.“ [2]

In sklavenähnlichen Verhältnissen leben im „Mutterland der Demokratie“ in jener Zeit vor allem Hausangestellte, Landarbeiter und Lehrlinge. Es gibt nicht einmal eine Rechenschaftspflicht bei Misshandlung des Hauspersonals, selbst bei Tötungen nicht. Und oft wird über jene Unglücklichen ein Heiratsverbot verhängt. Auch die Situation der Lehrlinge ist von vollkommener Rechtlosigkeit gekennzeichnet. Sie müssen nicht selten bis zu sieben Jahre dienen und unterliegen dabei dem Züchtigungsrecht des Meisters. Noch schrecklicher ist das Schicksal der sogenannten Arbeitsunwilligen, der Landstreicher und der als „Gesindel“ Verachteten. Für sie werden überall im Land Arbeitshäuser eingerichtet, in denen sie totaler Entrechtung ausgesetzt sind.

Es ist Friedrich Engels, der in seiner Jugendschrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ von 1845 in vielen Beispielen diese Zustände anprangert. Auch er beschreibt die Stellung des „freien“ Lohnarbeiters als eine dem Sklaven ähnliche, da er „Sklave der notwendigsten Lebensbedürfnisse und des Geldes“ ist. Und doch ist, nach Engels, das Lohnarbeitsverhältnis ein „historischer Fortschritt gegen die alte Sklaverei“, da damit zumindest „das Prinzip der Freiheit durchgesetzt ist: Das Verhältnis des Leibeignen zum Grundherrn war durch Gesetze geregelt, die befolgt wurden, weil sie den Sitten entsprachen, sowie auch durch die Sitten selbst; des freien Arbeiters Verhältnis zu seinem Herrn ist durch Gesetze geregelt, die nicht befolgt werden, weil sie weder den Sitten noch dem Interesse des Herrn entsprechen. Der Grundherr konnte den Leibeignen nicht von der Scholle losreißen, ihn nicht ohne sie, und da fast alles Majorat und nirgends Kapital war, ihn überhaupt nicht verkaufen; die moderne Bourgeoisie zwingt den Arbeiter, sich selbst zu verkaufen. Der Leibeigne war Sklave des Grundstücks, auf dem er geboren war; der Arbeiter ist Sklave der notwendigsten Lebensbedürfnisse und des Geldes, mit dem er sie zu kaufen hat - beide sind Sklaven der Sache. Der Leibeigne hat eine Garantie für seine Existenz an der feudalen Gesellschaftsordnung, in der jeder seine Stelle hat; der freie Arbeiter hat gar keine Garantie, weil er nur dann eine Stelle in der Gesellschaft hat, wenn die Bourgeoisie ihn braucht - sonst wird er ignoriert, als gar nicht vorhanden betrachtet. Der Leibeigne opfert sich seinem Herrn im Kriege - der Fabrikarbeiter im Frieden. Der Herr des Leibeignen war ein Barbar, er betrachtete seinen Knecht wie ein Stück Vieh; der Herr des Arbeiters ist zivilisiert, er betrachtet diesen wie eine Maschine. Kurz, die beiden stehen sich in allem so ziemlich gleich, und wenn auf einer Seite Nachteil ist, so ist es auf der des freien Arbeiters. Sklaven sind sie beide, nur dass die Knechtschaft des einen ungeheuchelt, offen, ehrlich ist und die des andern heuchlerisch, hinterlistig verheimlicht vor ihm selbst und allen andern, eine theologische Leibeigenschaft, die schlimmer ist als die alte.“ [3] Und so hält es auch Engels für gerechtfertigt, in den Lohnabhängige im übertragenen Sinn Sklaven zu sehen: “Die humanen Tories hatten recht, als sie den Fabrikarbeitern den Namen: white Slaves, weiße Sklaven, gaben. Aber die heuchlerische, sich versteckende Knechtschaft erkennt wenigstens das Recht auf Freiheit dem Scheine nach an; sie beugt sich der freiheitliebenden öffentlichen Meinung, und darin liegt der historische Fortschritt gegen die alte Sklaverei, dass wenigstens das Prinzip der Freiheit durchgesetzt ist - und die Unterdrückten werden schon dafür sorgen, dass dies Prinzip auch durchgeführt werde.“ [4]

Auch Karl Marx vergleicht im Abschnitt „Der Arbeitstag“ des ersten Bandes des „Kapitals“ unter dem Motto „Mutato nomine de te fabula narratur“ (Der Name ist geändert, aber die Geschichte handelt von dir, A.W.) die nordamerikanische Sklaverei mit der Lohnarbeit: „Lies statt Sklavenhandel Arbeitsmarkt, statt Kentucky und Virginien Irland und die Agrikulturdistrikte von England, Schottland und Wales, statt Afrika Deutschland.“ [5]

Und doch steht auch bei ihm – wie schon zuvor bei Engels – die Tatsache außer jedem Zweifel, dass die Abschaffung der Sklaverei ein gigantischer historischer Fortschritt war. Und so wird in der von Marx 1864 formulierten berühmten „Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation“ ausdrücklich der Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen eine Intervention der herrschenden Klassen zugunsten der Sklavenhalter im US-amerikanischen Bürgerkrieg gewürdigt: „Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heroische Widerstand der englischen Arbeiterklasse gegen ihre verbrecherische Torheit bewahrte den Westen Europas vor einer transatlantischen Kreuzfahrt für die Verewigung und Propaganda der Sklaverei.“ [6]  Und im „Kapital“ heißt es weiter: „In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird.“ [7]

In seinem 2013 erschienenen Buch „La lotta di classe – Una storia politica e filosofica“ (auf Deutsch unter dem Titel „Der Klassenkampf. Oder die Wiederkehr des Verdrängten?“ 2016 veröffentlicht) stimmt Domenico Losurdo dem ausdrücklich zu: „Mit dieser Einschätzung lag Marx voll und ganz richtig. (…) Mit der Aufhebung der Sklaverei der Schwarzen mündete der Sezessionskrieg, wenn auch nur teilweise, in die Emanzipation einer 'Rasse' bzw. einer unterdrückten Nation. (…) Aus all diesen Gründen gehörte der Sezessionskrieg in den Augen von Marx zu den wichtigsten Klassenkämpfen seiner Zeit. Die Prätention, mit der die Sklavenhalter die Identität von Arbeit und Sklaverei behaupteten bzw. bekräftigten, jener 'allgemeine Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit', erlitt eine Niederlage, deren Bedeutung die Grenzen der USA und auch der schwarzen 'Rasse' überschritt.“ [8]

Was Marx seinerzeit noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte, war die aktive Beteiligung der Schwarzen an ihrer Befreiung. Die US-amerikanische Aktivistin und Wissenschaftlerin Angela Davis hat auf sie hingewiesen: „Viele meinen, Abraham Lincoln habe die entscheidende Rolle gespielt, und tatsächlich half er, den Lauf der Dinge zu beschleunigen. Doch in erster Linie war es der Entschluss von Sklavinnen und Sklaven – Männern wie Frauen -, sich zu emanzipieren und der Union Army beizutreten, der für den Sieg über die Sklaverei sorgte. Die Sklavinnen und Sklaven selbst und gewiss auch die Abolition-Bewegung haben die Beseitigung der Sklaverei zustande gebracht.“ [9]       

Die an die Stelle der Sklaverei tretende Lohnarbeit des freien Arbeiters stellt zwar einen großen historischen Fortschritt dar, sie wird aber zugleich durch die Lohnsklaverei ersetzt. Und um dieses Abhängigkeitsverhältnis durchsetzen zu können, wird es durch Gesetze und polizeiliche Maßnahmen abgesichert, die die sogenannten Arbeitsunwilligen und Müßiggänger drangsalieren. Wer sich ihnen widersetzt, ist harten Strafmaßnahmen bis hin zur Todesstrafe ausgesetzt. Man scheut sich nicht einmal, Minderjährige deshalb aufzuhängen. Losurdo weist darauf hin, dass in England das Armengesetz, nach dem jeder als Arbeitsscheuer in ein Arbeitshaus gesperrt werden kann, der tatsächlich aber Hilfe benötigt, 1834 verabschiedet wird. Es ist jenes Jahr in dem in den England verbliebenen Kolonien die Sklaverei aufgehoben wird: „Die Ironie einerseits der Sklavenhalterideologen in den amerikanischen Südstaaten, andererseits der englischen Volksmassen gegenüber einer herrschenden Klasse, die sich rühmt, die Sklaverei in den Kolonien aufgehoben zu haben, und sie zugleich in anderer Form in der Metropole selbst wieder einführt, lässt sich so gut verstehen.“ [10] Auch die im 19. Jahrhundert aufkommende Arbeiterbewegung vergleicht denn ihren Kampf gegen die Rechtlosigkeit der Lohnabhängigen mit dem Kampf der Sklaven um ihre Befreiung. In ihrem Kampflied „Die Internationale“ heißt es deshalb: „Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger. Alles zu werden, strömt zuhauf!“

Losurdo zitiert den als „Vater des Liberalismus“ [11] geltenden Philosophen John Locke, mit dessen Forderung, dass „Kinder aus Familien, die, die ihren Nachwuchs nicht ernähren können, zur Arbeit geschickt werden“ sollen. [12] Überhaupt tun sich solche noch heute als Vordenker des Liberalismus gerühmten Persönlichkeiten wie John Stuart Mill, Alexis de Tocqueville, Jeremy Bentham, Bernard de Mandeville, Edmund Burke, Edmund-Joseph Sieyés, Adam Smith und weitere durch abwertende Bezeichnungen für die Lohnabhängigen hervor, die nur als Entmenschlichung bezeichnet werden können. Im Kapitel „Lohnarbeit und Kategorien der Sklaverei“ des 3. Abschnitts seines Buches „Freiheit als Privileg“ mit dem Titel „Die weißen Knechte zwischen Metropole und Kolonien: Die protoliberale Gesellschaft“ zitiert Losurdo einige der diffamierenden Aussagen der liberalen Denker. Da werden Lohnabhängige mit Pferden verglichen, als „instrumentum vocale“, als „Arbeitsmaschinen“, oder als „Arbeitswerkzeuge“ beziehungsweise als „zweifüßige Werkzeuge“ bezeichnet. „Nach Locke 'ist ein Hilfsarbeiter […] nicht in der Lage, besser zu denken als ein Eingeborener [a perfect natural]': weder der eine noch der andere hat bereits den 'Stand von vernünftigen Geschöpfen und von Christen' erreicht.'“ [13]

Losurdo zieht daraus den Schluss: „Nicht nur kann die Lage der weißen Knechte in Europa kaum befreit genannt werden, auch das Bild, welches uns das liberale Denken der Zeit von ihnen vermittelt, unterscheidet sich nicht sehr vom Bild des schwarzen Sklaven im Süden der Vereinigten Staaten.“ [14] Für ihn, der die Sklaverei stets als die Ursünde des Liberalismus ansah und immer aufs Neue den Widerspruch hervorhob, der darin besteht, dass sich der Aufstieg des Liberalismus als jene „Denktradition, die ins Zentrum ihrer Beschäftigung die Freiheit des Individuums stellt“ [15] zeitgleich mit der Ausbreitung der modernen Sklaverei vollzieht, ist die Tatsache, dass die Sklaverei nun in Form der Lohnarbeit ihre Fortsetzung findet von zentraler Bedeutung, wenn auch diese neue, moderne „Knechtschaft“, wie Engels und Marx stets betonten, „wenigstens das Recht auf Freiheit dem Scheine nach“ anerkennt. Ein besonderer Vorzug der hier vorgestellten Betrachtung der Lage der Unterdrückten ist, dass der italienische Historiker und Philosoph – wie noch gezeigt werden soll - sie nicht alleine nur in ihrer Rolle als Lohnabhängige im Betrieb betrachtet, sondern ihre gesamte gesellschaftliche Rechtlosigkeit schildert, denen sie als Opfer staatlicher Maßnahmen ausgesetzt sind.

Die Lage der Frauen, der Lehrlinge, des Gesindes, der Häftlinge und der Soldaten

Zwar konnten die Deklassierten im Zuge der Französischen Revolution zumindest das passive Bürgerrecht, das Wahlrecht, zunächst in Frankreich und dann auch in anderen Ländern, erringen, wobei es allein Männern zustand und mit mehr oder weniger großen Einschränkungen versehen war. Im folgenden Jahrhundert blieb es umkämpft. Doch „mit der Gewährung des passiven Bürgerrechts ist“, nach Losurdo, „der Kampf um Anerkennung nicht beendet.“ [16] In den Blick zu nehmen sind vielmehr die Lebensbedingungen der Deklassierten im umfassenden Sinn. Er zeichnet ein Gesamtbild, das auch die Situation der Lehrlinge, der Häftlinge, des Gesindes sowie der Frauen umfasst. Hierzu gehört die Verschärfung des Strafrechts bei Verstößen gegen die bürgerlichen Eigentums- und Besitzrechte, wozu auch die Ausdehnung der Todesstrafe auf immer mehr Delikte zählt, von der in erster Linie die Armen betroffen sind. Sie sind es, die die Masse der in die Kolonien, nach Australien, Französisch-Guyana und anderswohin Deportierten ausmachen. Angeklagt wird, dass den Entrechteten oft jede Privatsphäre vorenthalten wird, was vor allem für Eheleute und Kinder gilt.   

Losurdo wendet sich damit gegen den in der Arbeiterbewegung des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, vor allem in der sozialdemokratischen II. Internationale, so häufig anzutreffenden ökonomistischen Blick auf die Deklassierten, der in erster Linie auf ihre Rolle als Lohnabhängige fokussiert bleibt. Er geht vielmehr ganz ähnlich wie Engels in seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ vor, der die Gesamtsituation der Unterdrückten, so etwa ihre desolaten Wohn- Sozial- und Bildungsbedingungen mit berücksichtigte.           

Der Gewalt der bürgerlichen, liberalen Gesellschaft waren die Besitz- und Schutzlosen vor allem aber als Soldaten ausgesetzt. Ihre Rekrutierung in Großbritannien des 18. und 19. Jahrhunderts beschreibt Losurdo in „Freiheit als Privileg“ mit den Worten des britischen Historikers Edward P. Thompson aus dessen Werk „The making of the English working class“: „Die Matrosen wurden 'mit Gewalt auf den Straßen von London und Liverpool rekrutiert' und im Volk gab es keine verhasstere Institution als die press-gang, die Zwangsanwerbung,“ so dass „die Ergreifung der Matrosen in den Vierteln des Volkes (..) in mancher Hinsicht etwas gemeinsam mit der Ergreifung der Schwarzen in Afrika“ hatte. [17]

Die Situation des Soldaten als die eines des Sklaven vergleichbare wird durch die Schaffung von Heeren aus Wehrpflichtigen im 19. Jahrhundert zu einer brennenden Frage für die Arbeiterklasse, bestehen sie doch zum überwiegenden Teil aus Lohnabhängigen. Es ist der von den deutschen Gewerkschaftsführern so verachtete und zugleich von Lenin so geschätzte sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Liebknecht, der am Beginn des 20. Jahrhunderts den Militarismus im Deutschen Reich aber auch in Frankreich und Großbritannien in den Blick nimmt und in ihn beschuldigt, den ersten Weltkrieg in ganz Europas vorzubereiten. Es spricht viel dafür, dass erst die von den Angehörigen der Arbeiterklasse auf den Schlachtfeldern des Krieges erfahrene völlige Entrechtung sowie der erzwungene Kadavergehorsam gegenüber den aus dem Bürgertum bzw. dem Adel entstammenden Offizieren und schließlich die Erfahrung der permanenten Todesnähe, den entscheidenden Impuls dafür gab, diesem Gemetzel durch die revolutionäre Tat ein Ende zu setzen. Für den Sturz der alten Ordnung in Russland, in Deutschland sowie in Österreich-Ungarn war denn auch der Militarismus und die Kriegserfahrung von größerer Bedeutung als das alltäglich zu ertragende Lohnarbeitsverhältnis.

Die russischen Revolutionäre unter Führung von Lenin hatten diese Lektion sehr viel besser verstanden als die westeuropäischen Sozialisten. Die Oktoberrevolution war vor allem deshalb möglich, weil die Bolschewiki als Parole das „sofortige Angebot eines demokratischen Friedens“ ausgegeben hatten.“[18]  

Auch die deutsche Revolution von 1918 wäre ohne einen starken antimilitaristischen Impuls nicht zustande gekommen. In seinem Buch „Die Entstehung der Weimarer Republik“ zitiert Arthur Rosenberg die zentralen Forderungen der rebellierenden Matrosen auf den deutschen Kriegsschiffen „Thüringen“ und Helgoland“ vom 29. und 30. Oktober 1918: Neben der Straflosigkeit für die Aufständischen ist der erste Punkt des Programms „die einheitliche Menage für Mannschaften und Offiziere (…) Die Grußpflicht gegenüber den Offizieren außer Dienst soll abgeschafft werden. Der Arbeitsdienst und der Urlaub sollen neu geregelt werden. Unvergleichlich ist Punkt 9: 'Die Anrede Herr Kapitän usw. hat nur am Anfang eines Satzes zu dienen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fällt sie weg, und ich rede den Vorgesetzten mit Sie an.“ [19]

Dies waren auf den ersten Blick recht harmlose Forderungen, weit entfernt vom Verlangen nach Sozialisierungen oder gar einer grundsätzlich anderen Gesellschaftsordnung. Aber sie gaben dennoch den Anstoß zum Sturz des alten, brüchig gewordenen halbfeudalen Systems. Am Ende war nicht nur die bisher so mächtige Hohenzollern-Dynastie verschwunden und mit ihr die zahlreichen Könige, Fürsten und Duodezfürsten in den deutschen Landen. Der Weg war frei geworden, wenn auch nicht für den Sozialismus, so doch für eine grundlegende Parlamentarisierung Deutschlands.                   

Die Forderungen der Matrosen waren Ausdruck einer tiefen Wut über den preußischen Militarismus, die im Krieg zum Ausdruck kommende Entmenschlichung und über die entwürdigenden Hierarchien im Militärapparat, der die täglichen Lasten des Krieges, vor allem aber die Überlebenschancen in ihm extrem ungleich verteilt. Wie in einem Brennglas wurde in einem historischen Augenblick Millionen Unterdrückten überdeutlich vor Augen geführt, wer unten und wer oben ist. Der Aufstand der Matrosen war daher ein Kampf um die menschliche Würde, er war Klassenkampf.

Domenico Losurdo hat immer wieder davor gewarnt, Klassenkampf auf den binären, ökonomistischen Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital zu verengen. Er ging vielmehr von der „Mannigfaltigkeit der Kämpfe um Anerkennung und Freiheitskonflikte“ [20] aus, und dazu gehörte vor allem der Kampf gegen den Militarismus, gegen die Anmaßung der Herrschenden über Leben und Tod der Untertanen frei verfügen zu können.

Da bereits die russische Oktoberrevolution ein Jahr zuvor einen starken Impuls aus dem Antimilitarismus bezog, war es nur folgerichtig, dass einer der ersten Dekrete des Rats der Volksbeauftragten jenen „über die Herstellung der Gleichsetzung aller Militärdienstpflichtigen“ betraf, worin verfügt wurde, dass „alle Ränge und Dienstgrade in der Armee vom Gefreiten bis zum Generalsrang abgeschafft“ sind. Abgeschafft wurden außerdem „alle Vorrechte, die mit ehemaligen Rängen und Dienstgraden zusammenhängen“ sowie „alle Titulierungen und Orden“. [21] Diese Prinzipien einer Revolutionsarmee, die nur aus Gleichen bestehen sollte, war aber so wenig dauerhaft wie die hehren Ziele der einstigen französischen Revolutionäre von 1789. Spätestens im Großen Vaterländischen Krieg kehrte die Rote Armee zu den strengen Hierarchien, Titulierungen und Orden einer herkömmlichen Armee zurück.                 

 

[1] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2010, S. 91

[2] Ebenda

[3] Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW, Band 2, Berlin 1976, S. 405

[4]  Ebenda

[5] Karl Marx, Das Kapital Band 1, in: MEW, Band 23, a.a.O., S. 282

[6] Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: MEW, Band 16, S. 13

[7] Karl Marx, Das Kapital Band 1, in: MEW Band 23, a.a.O., S. 318

[8] Domenico Losurdo, Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? Köln, 2016, S. 41 f.

[9] Angela Davis, Freiheit ist ein ständiger Kampf, Münster 2016, S. 49

[10] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2011, S. 96

[11] Wikipedia, Stichwort John Locke, zuletzt abgerufen 27.03.2024

[12] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 96

[13] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 123

[14] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 124

[15] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 9

[16] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 243 f.

[17] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 101

[18] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, 15. Auflage, Berlin 1977, S. 145

[19] Arthur Rosenberg, Entstehung der Weimarer Republik, 13. unveränderte Auflage, 1971, Frankfurt am Main S. 235  

[20] Domenico Losurdo, Der Klassenkampf. Oder die Wiederkehr des Verdrängten? 2016, Köln, S. 150  

[21] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, a.a.O., S. 472

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