Ein „deutscher Sonderweg“?

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Die Geschichte der Herrenvolk-democracy kann nicht geschrieben werden, ohne auf den deutschen Faschismus einzugehen, der sie in einer beispiellos völkermörderischen Art und Weise zu verwirklichen trachtete. Indem der Nazismus mit den europäischen Juden sowie den Roma und Sinti ganze Religions- und Volksgruppen auszurotten trachtete und zudem slawische Völker wie Polen und Russen als minderwertige Menschen, als so genannte Untermenschen abwertete, hat er eine Brutalität offenbart, die man zuvor im liberalen, aufgeklärten Europa des 20. Jahrhunderts für undenkbar hielt.       

In seinem 2010 erschienenen Buch „Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?“, setzt sich Losurdo daher auch mit der Frage auseinander, inwieweit der deutsche Nazismus auch auf Ideologien beruht, die zuvor in anderen Ländern entstanden waren: Wir „müssen uns eine Frage stellen: ist es möglich, die Entstehung des Nazismus zu verstehen, indem man sich ausschließlich auf Deutschland konzentriert?“ [1] Er verweist in diesem Zusammenhang auf den französischen Philosophen und Politiker Alexis de Tocqueville, den er mit der Aussage zitiert: „Wer nur Frankreich gesehen und untersucht hat, wird niemals etwas – so wage ich zu behaupten – von der Französischen Revolution verstehen.“ [2] Und auch den deutschen Faschismus verstehe man nach Losurdo nicht, wenn man seinen internationalen Kontext ignoriert.

Untersucht werden von ihm vor allem die ideologischen Verbindungen, die es zwischen dem US-amerikanischen Rassismus und der NS-Ideologie gab. Losurdo zitiert dazu aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“, der darin das „Amerikanertum“ als „Ausdruck eines 'jungen, rassisch ausgesuchten Volkes'“ beschreibt. [3] „Nachdem er betont hat, dass 'die Verschmelzung von höherer Rasse mit niederer' zerstörerische Konsequenzen habe, fährt Adolf Hitler in 'Mein Kampf' fort: 'Die geschichtliche Erfahrung bietet hierfür zahllose Belege. Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, dass bei jeder Blutsvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam. Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teil aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischen, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten.'“ [4]

Da war es nur folgerichtig, wenn Hitler die USA in der Staatsbürgerfrage als Vorbild eines künftigen NS-Staats nennt: „'Indem die amerikanische Union gesundheitlich schlechten Elementen die Einwanderung grundsätzlich verweigert, von der Einbürgerung aber bestimmte Rassen einfach ausschließt, bekennt sie sich in leisen Anfängen bereits zu einer Auffassung, die dem völkischen Staatsbegriff zu eigen ist.'“ [5] So nehmen die Vereinigten Staaten, nach Losurdo, „jene Unterscheidung von 'Staatsbürgern' ('Reichsbürgern'), 'Staatsangehörigen' und 'Ausländern' vorweg, die von den Nürnberger Gesetzen 1935 sanktioniert werden wird. Aber schon vor der Machtergreifung unterstreicht Hitler, dass weder 'der Neger' noch der 'Jude oder Pole, Afrikaner oder Asiat' deutscher Staatsbürger werden darf.“ [6]  

Es ist der Chefideologe der NSDAP, Alfred Rosenberg, der in seinem Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ vom Vorbild der Vereinigten Staaten schwärmt, dieses „'herrlichen Landes der Zukunft', dem das Verdienst zukomme, den glücklichen 'neuen Rassestaatsgedanken' formuliert zu haben, den es jetzt umzusetzen gilt, 'mit junger Kraft' und mittels der Vertreibung und Deportation der 'Nigger und Gelben'. In Deutschland sollen offensichtlich vor allem die Deutschen jüdischer Herkunft den Platz der Afroamerikaner einnehmen.“ [7]

Auch die Sprache der Nationalsozialisten wird vom US-amerikanischen Rassismus stark beeinflusst. Losurdo weist darauf hin, dass der Begriff „Untermensch“, von den Nationalsozialisten gebraucht als Diffamierung und Herabsetzung von Juden, Slawen und Farbigen, eine Übersetzung des amerikanischen „Under Man“ ist. Bereits 1922 veröffentlichte der US-amerikanische Autor Lothrop Stoddard das Buch „The Menace of the Under Man“, das auf Deutsch unter dem Titel „Der Kulturumsturz - Die Drohung des Untermenschen“ drei Jahre später erschien und sofort große Wirkung entfaltete. 1940 bereist der Autor das nationalsozialistische Deutschland und wird dort mit großen Ehren empfangen, er begegnet Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Hermann Göring. „Der Kampf auf Leben und Tod gegen den 'Under man' ist für Stoddard Teil eines eugenischen Rassenprogramms von größerer Tragweite. Es geht darum, 'to cleance the race of its worst impurities' - 'die Rasse von den schlimmsten Verunreinigungen zu säubern'; notwendig ist eine Politik der 'race cleansing', der 'race purification' - 'der rassischen Säuberung', der 'rassischen Reinigung'. (…) Damit sind wir bei einem anderen Schlüsselwort der Naziideologie, das meistens synonym mit 'Rassenhygiene' übersetzt wird.“ [8]              

Ein weiterer im 3. Reich hochgeschätzter Autor ist der US-amerikanische Magnat der Autoindustrie, Henry Ford. Seine Rolle bei der Inspiration der deutschen faschistischen Führer beleuchtet Losurdo in seinem 1996 erschienenen Buch „Il revisionismo storico. Proble e miti“ (Auf Deutsch 2007 unter dem Titel „Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen“ veröffentlicht). Zur Bekämpfung der jüdisch-bolschewistischen Verschwörung ruft Ford „eine Zeitschrift mit hoher Auflage, den 'Dearborn Independent', ins Leben: die dort abgedruckten Artikel werden im November 1920 in Buchform mit dem Titel Der internationale Jude veröffentlicht, das sofort zum Bezugspunkt für den internationalen Antisemitismus wird (…). Später werden Nazibonzen ersten Ranges wie von Schirach und sogar Himmler erklären, von Ford inspiriert worden oder von ihm ausgegangen zu sein. Besonders Himmler behauptet, erst nach der Lektüre des Buches von Henry Ford 'die ganze Gefährlichkeit des Judentums' erkannt zu haben: 'Es war für uns Nationalsozialisten die Offenbarung'. Darauf folgte die Lektüre der Protokolle der Weisen von Zion: 'Diese beiden Bücher wiesen uns den Weg, den wir zu beschreiten hatten, um die gequälte Menschheit von dem größten Feinde aller Zeiten, dem internationalen Juden, zu befreien'. Im Übrigen habe – nach Himmler – das Buch von Ford zusammen mit den Protokollen sowohl für seine als auch für die Formierung des Führers eine 'ausschlaggebende' Rolle gespielt.“ [9] Henry Ford erhielt 1938 zu seinem 75. Geburtstag den von Hitler geschaffenen Verdienstorden vom Deutschen Adler, der ausländischen Staatsbürgern verliehen wurde, die sich um das Deutsche Reich besonders verdient gemacht hatten. Ford revanchierte sich mit einer Spende von 35.000 Reichsmark zum Geburtstag des Führers am 20. April 1939. [10]

Losurdo ist weit davon entfernt, den Einfluss US-amerikanischer Rassisten auf die Entstehung des deutschen NS-Regimes zu überschätzen oder ihm gar die Alleinverantwortung für das Geschehen zu überantworten. Die Gedankenwelt der Nationalsozialisten schöpfte vielmehr aus unterschiedlichsten Quellen: Aus völkischen, militaristischen, religiösen, und gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Bewegungen und Ideologien. Und natürlich blickte „der Nazismus nicht mit undifferenzierter Bewunderung auf die nordamerikanische Republik: zum Beispiel können wir bei Hitler und Rosenberg hasserfüllte Äußerungen über die Rolle lesen, die den Juden dort zugeschrieben wurde. Außerdem ist die ideologische Beeinflussung, mit der wir uns hier beschäftigen, keine Einbahnstraße. Stoddard hat in Deutschland studiert, wurde tief von Nietzsche beeinflusst und prägt den Begriff 'Under Man' als Gegenstück zu dem von dem deutschen Philosophen gerühmten 'Übermenschen' (…).“ [11] Aber „eindeutig sind die Lehrer des Nazismus nicht nur Deutsche gewesen, wie es dagegen die Theorie vom deutschen Sonderweg nahezulegen sucht!“ [12]

Wenn aber heute immer wieder von einem deutschen Sonderweg gesprochen wird, vor dem zu warnen sei, da dies eine mögliche Abkehr des Landes von seiner Integration in den Westen bedeutete, so ist dies eine durchsichtige Strategie, die lediglich auf die Sicherung der Gefolgschaft Deutschlands gegenüber den USA zielt. In abstoßender Weise wird dabei das Schamgefühl der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen missbraucht. [13]  

Das Aufkommen des Rassismus, und hier vor allem die Wiederbelebung des Antisemitismus in den westlichen liberalen Demokratien beiderseits des Atlantiks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kann nur verstanden werden, wenn man es als Reaktion des angesichts der russischen Revolution um seine Macht fürchtenden Bürgertums begreift. Für Lothrop Stoddard stand fest: „Diese Weltanschauung des Untermenschen nennt man heute Bolschewismus.“ [14] Für die Nationalsozialisten war der Marxismus und damit der Kommunismus nichts anderes als eine Ausgeburt des Weltjudentums. Die Vernichtung der Juden und die Eliminierung des Marxismus sowie des Kommunismus, zunächst im Machtbereich des Dritten Reiches und dann in den überfallenen Ländern, war daher aus Sicht der Nazi-Ideologie notwendig. Bereits in „Mein Kampf“ hatte Hitler 1924 geschrieben: „Der Marxismus stellt sich als der in Reinkultur gebrachte Versuch der Juden dar, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens die überragende Bedeutung der Persönlichkeit auszuschalten und durch die Zahl der Masse zu ersetzen.“ [15]

Nach dem Ende des Dritten Reiches beeilten sich die Verteidiger des liberalen Westens das Element des Antisemitismus in der bürgerlichen antikommunistischen Ideologie unsichtbar werden zu lassen. Angesichts von mehr als sechs Millionen ermordeter Juden hatte sich dieser menschenverachtende Rassismus vollständig diskreditiert. Übrig blieb der übliche bürgerliche Antikommunismus vor allem von jenen, die gestern noch glühende Antisemiten waren. So erhielt das 1954 errichtete Hauptgebäude der Berliner Freien Universität, die ja als Konkurrenz für die kommunistisch beeinflusste Berliner Universität im Ostteil der Stadt gegründet worden war, ausgerechnet den Namen Henry Fords, des Autors des Buches „Der internationale Jude“. Bis heute hat sich kein prominenter Politiker daran gestoßen!  

Hitler als letzter Konquistador

Bereits in seinem Werk „Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage zwischen Revolution und Reaktion“ von 1989, stellte Losurdo die Entstehung des deutschen Nazismus in einen internationalen Kontext: „Korrekter wäre es, unserer Meinung nach, von den internationalen Ursprüngen und Entwicklungen jener gegen die Demokratie und die Gleichheit gerichteten Bewegung zu sprechen, die dann ihren vollkommensten und unmenschlichsten Ausdruck im Nazismus findet.“ [16] Und in dem 2016 Buch veröffentlichten Buch „Un mondo senza guerre. L´idea di pace“ (auf Deutsch erschien es 2022 unter dem Titel „Eine Welt ohne Krieg. Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart“) stellt Losurdo die Frage: „Was war das Dritte Reich gewesen, wenn nicht der Versuch, die koloniale Tradition wieder aufzunehmen und zu radikalisieren, die 'kolumbianische Epoche' zu verlängern und zu erneuern – unter dem Banner der überwältigenden 'Überlegenheit der Kräfte' des Westens, als deren Vorkämpfer sich Hitler gegenüber den Kolonialvölkern, zu denen auch die 'Eingeborenen' Osteuropas zählten, aufschwang?“ [17]

Bei der Wiederaufnahme der deutschen Kolonialpolitik nach 1933 blickten die Nationalsozialisten, so Losurdo, in erster Linie nicht mehr in Richtung des globalen Südens, etwa nach Afrika oder Südostasien, sondern nach Osten: „Nach dem Scheitern der Politik Wilhelms II., die darauf abzielte, ein überseeisches Kolonialreich zu errichten, das im Gefolge der Seeblockade, die England gleich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhängt hatte, sofort isoliert worden war, strebte Hitler die Errichtung eines kontinentalen Kolonialreichs in Osteuropa an. (…) Der Krieg gegen die 'Eingeborenen' Osteuropas wird mit dem Krieg gegen die Indianer, gegen die Rothäute Nordamerikas verglichen; im einen wie im anderen Falle wird die stärkere Rasse siegen.“ [18]

In „Mein Kampf“ hatte Hitler die Richtung vorgegeben: „Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Russland und die ihm untertanen Randstaaten denken. (…) Das Riesenreich im Osten ist reif für den Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Russland wird auch das Ende Russlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.“ [19]    

Und in „Hitlers Tischgesprächen im Führerhauptquartier“ heißt es unter dem Datum des 26. Juli 1942 zu seinen Kolonialplänen: „Der Chef (gemeint ist Hitler, A.W.) bemerkte beim Abendessen: Er habe den Ausgleich mit England auf der Basis gesucht, dass Kolonien für uns gar nicht notwendig seien. Allein schon das Problem der Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen Großdeutschland und solchen etwa in Afrika gelegenen Kolonien mache Schwierigkeiten. Denn die Aufrechterhaltung einer solchen Verbindung erfordere Flotten- und noch mehr Flugzeugstützpunkte. In diesem Zeitpunkt sei unsere Lage dafür weltstrategisch denkbar ungünstig. Die Verbindung nach den besetzten Ostgebieten dagegen sei ohne Schwierigkeiten zu schaffen; denn sie lasse sich allein schon durch den Bau von Straßen und Eisenbahnen hinreichend bewerkstelligen. Ein unabweisbares Bedürfnis nach Kolonien könne er in Anbetracht der Ostgebiete mit ihren außerordentlichen Rohstoffmöglichkeiten nicht anerkennen.“ [20]        

Zeitgleich mit dem Dritten Reich führen auch Italien und Japan Kolonialkriege: „Die Initiative zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs ergreifen nicht umsonst drei Länder, die erst spät einen Platz beim kolonialen Bankett erobert haben und die sich durch den anwachsenden Antikolonialismus in ihrem Ehrgeiz frustriert und direkt bedroht fühlen: so sucht Japan seinen 'Lebensraum' in Asien, Italien in Äthiopien, in Albanien und anderswo, Deutschland in Osteuropa und auf der Balkanhalbinsel. Am Vorabend des offiziellen Beginns des Zweiten Weltkriegs, noch vor dem Angriff auf Polen und auf die UdSSR, zerteilt Hitler die Tschechoslowakei und erklärt ausdrücklich Böhmen-Mähren zu einem 'Protektorat' des Dritten Reichs: die Sprache und die Institutionen der kolonialen Tradition werden klar und deutlich in Anspruch genommen und ihr Anwendungsbereich auf Osteuropa ausgedehnt.“ [21]

Anders als es in der Geschichtsschreibung meist behauptet wird, beginnt der Zweite Weltkrieg nach Losurdo als „Kolonialkrieg (gegen die Kolonien und die Gebiete, die die Aggressorstaaten in Kolonien verwandeln wollen): man denke an die italienische Eroberung Äthiopiens, an die japanische Eroberung Chinas und an die deutsche (wenn auch durch das Münchner Abkommen legalisierte) Invasion der Tschechoslowakei. Das eurozentrische Vorurteil hindert uns daran, einen Tatbestand zu bemerken, der jedoch einem Führer der Dritten Welt wie Mao Tsetung nicht entgeht, der im Mai 1938 schreibt: 'Zur Zeit befindet sich ein Drittel der Weltbevölkerung im Krieg; bedenkt einmal: Italien, dann Japan, Abessinien, dann Spanien, dann China. Die Bevölkerung der Krieg führenden Länder beträgt jetzt 600 Millionen, fast ein Drittel der Weltbevölkerung […] Wen wird es jetzt treffen? Ohne Zweifel wird Hitlers Krieg gegen die Großmächte folgen'.“ [22]

Und was „die besondere Barbarei des Dritten Reichs“ angeht, so liegt sie „in seinem Versuch, die kolonialistische und rassistische Tradition gerade in dem Augenblick zu übernehmen und zu radikalisieren (und sogar für Osteuropa geltend zu machen), in dem diese Tradition von der gigantischen Emanzipationsbewegung im Kielwasser der Oktoberrevolution in eine schwere Krise gestürzt wird.“ [23]  

England und die USA als Vorbilder

Nach Losurdo ist „Hitlers Modell Englands Kolonialreich“ und „er hat eine sehr hohe Meinung von dessen zivilisatorischer Funktion und Mission“. Er zitiert dazu aus den Tischgesprächen im Führerhauptquartier: „'Seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches hat es in Europa keinen Staat gegeben, der England überragt hätte'; für den Zeitpunkt des Triumphs der Achsenmächte zeigt sich Hitler sogar besorgt über den 'Anarchiezustand, der in Indien nach dem Rückzug der Engländer eintreten wird'; die Ukraine ist das 'neue Reich von Indien', und ihre Einwohner, wie die Einwohner Osteuropas im Allgemeinen, werden des Öfteren 'Eingeborene' genannt; auch die Italiener werden vom Führer aufgefordert, sich in Ägypten und in Afrika an das englische Kolonialmodell zu halten.“ [24]

Hitler kommt immer wieder auf die englische Kolonialherrschaft über Indien zu sprechen. Am 3. März 1942 heißt es dazu in den Tischgesprächen: „Ich vertrete den Standpunkt der britischen Tories: Wenn ich ein freies Land unterwerfe, nur um ihm die Freiheit wiederzugeben, wozu das? Wer Blut vergossen hat, hat auch das Recht, die Herrschaft auszuüben. Die indische Freiheit würde keine 20 Jahre dauern. Die Engländer machen sich heute Vorwürfe, sie hätten das Land falsch regiert, weil das Land keine Begeisterung zeigt. Gemacht haben sie es richtig. Aber es ist ungescheit, Begeisterung zu erwarten. Wenn die Engländer nicht die Herren wären, gäbe es dort keine 380 Millionen Inder. England hat Indien ausgebeutet. Aber die englische Herrschaft hat Indien auch schon genützt.“ [25]          

Hitler sieht sich hinsichtlich des Kolonialismus in einer Kontinuität mit dem liberalen Großbritannien: „Was für England Indien war, wird für uns der Ostraum sein. Wenn ich dem deutschen Volk nur eingeben könnte, was dieser Raum für die Zukunft bedeutet.“ [26] Und wie die Engländer und die US-Amerikaner sah er die Deutschen selbstverständlich als Herrenvolk an: „Den größten Unsinn, den man in den besetzten Ostgebieten machen könne, sei der, den unterworfenen Völkern Waffen zu geben. Die Geschichte lehre, dass alle Herrenvölker untergegangen seien, nachdem sie den von ihnen unterworfenen Völkern Waffen bewilligt hatten.“ [27]  

Der Versuch des Dritten Reichs auf dem europäischen Kontinent ein gigantisches Kolonialreich errichten zu wollen, führt nach Losurdo zur Barbarei, denn „Osteuropa ist nicht das von den Weißen eroberte Amerika und auch nicht das Afrika der goldenen Jahrhunderte des Sklavenhandels. Der wilde Indianer und der schwarze Sklave befinden sich dort nicht im Naturzustand; man muss sie produzieren, indem man Jahrhunderte der Geschichte und der Künstlichkeit (vom Gesichtspunkt des nazistischen Sozialdarwinismus aus) auslöscht und die Gesetze und den Adel der Natur wiederherstellt: der Versuch, der kolonialen Tradition im Osteuropa des 20. Jahrhunderts wieder Leben zu verleihen, führt zu einem gigantischen Programm der Deemanzipation und zu unerhörten Gräueltaten und Barbareien.“[28] Es handelt sich nach dem italienischen Historiker und Philosophen beim Nazismus „um eine Bewegung, der es gelungen war, das schlechteste Erbe der reaktionären Bewegung zusammenzufassen und in bisher noch nie dagewesene aktive Unmenschlichkeit zu verwandeln, ein Erbe, das sich in Europa in drei aufeinanderfolgenden Wellen herausgebildet hatte: nach der französischen Revolution, nach der achtundvierziger Revolution und nach dem französisch-preußischen Krieg und der Pariser Kommune“. [29]

Losurdo zieht aus all dem den Schluss: „Man kann nichts vom Nazismus verstehen, wenn man nicht von seinem Ehrgeiz ausgeht, auf Weltebene das terroristische white-supremacy-Regime zu errichten, das er in erster Linie der Geschichte der Vereinigten Staaten entnommen hat.“ [30] Und in seinem Buch „Freiheit als Privileg“ schreibt er: „Ein Punkt aber scheint mir sicher: Es ist banal ideologisch, in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts eine Art von neuem Barbareneinfall sehen zu wollen, der eine gesunde und glückliche Gesellschaft plötzlich angreift und überwältigt.“ [31]  

Er steht dabei mit seinem Urteil nicht allein. Während der zweite Weltkrieg tobt, schreibt 1942 der US-amerikanische Wissenschaftler Ashley Montagu: „Das Ungeheuer, das sich offen auf die Welt stürzen konnte (der Nazismus), ist zu einem großen Teil unser Geschöpf, und ob wir nun bereit sind, oder nicht, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, wir alle sind, individuell und kollektiv, verantwortlich für die grauenhafte Form, die es angenommen hat.“ [32]

Vielen Kämpfern für die Befreiung der unterdrückten Völker war der enge Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nazismus bewusst. In seinem Buch „Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volks?“ schreibt Losurdo: „Als Franz Fanon seinerzeit auf die Verbrechen, auf die 'Deportationen', 'Massaker', 'Zwangsarbeit' und 'Versklavung' aufmerksam gemacht hatte, die der Kolonialismus 'jahrhundertelang' begangen hatte, fügte er hinzu: 'Der Nazismus hat ganz Europa in eine wirkliche Kolonie verwandelt'.“ [33]      

 

[1] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? Berlin 2010, S. 38. Das Buch ging aus einer Kontroverse in der Zeitschrift „Marxistische Blätter“ über die Frage hervor, ob die Geschichte des Deutschlands als „Sonderweg“ zu betrachten ist. Vgl. dazu die Artikel von Domenico Losurdo, „Nationale Frage, Kampf um Hegemonie und der Mythos vom deutschen Sonderweg“, (Marxistische Blätter 2008, Nr. 1, Essen S. 49-63), „Deutscher Sonderweg und andere Sonderwege“, (Marxistische Blätter 2008, Nr. 3, Essen S. 100-104) und „Was heißt Sonderweg?“ (Marxistische Blätter 2009, Nr. 1, Essen S. 115-118)

[2] Ebenda

[3] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 39

[4] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 41

[5] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 42

[6] Ebenda

[7] Ebenda

[8] Domenico Losurdo, Die Deutschen. a.a.O., S. 45 f.

[9] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen, Köln 2007, S. 227

[10] Vgl. Werner Rügemer, Verhängnisvolle Freundschaft. Wie die USA Europa eroberten. Erste Stufe: Vom 1. zum 2. Weltkrieg, Köln, 2023, S. 206

[11] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 49

[12] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 47

[13] Vgl. Andreas Wehr, Vorwort zum Buch von Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 14

[14] Lothrop Stoddard: Der Kulturumsturz. Die Drohung des Untermenschen, München, 1925, S. 127

[15] Adolf Hitler, Mein Kampf, hier zitiert nach Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, 5. Auflage, Köln 1980, S. 114

[16] Domenico Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage zwischen Revolution und Reaktion, Köln, 1989, S. 521. Der siebte Teil des Werks „Deutsche Katastrophe und Hegelbild“ erschien bereits 1987 auf Italienisch unter dem Titel „La catastrophe della Germania e l'immagine di Hegel“ als eigenes Buch, 2015 dann auch auf Deutsch unter dem Titel Von Hegel zu Hitler? Geschichte und Kritik eines Zerrbildes, Köln 2015. Dort findet sich das Zitat auf Seite 171.     

[17] Domenico Losurdo, Eine Welt ohne Krieg. Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart, Köln 2022, S. 402

[18] Domenico Losurdo, Die Deutschen. Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes? a.a.O., S. 43

[19] Adolf Hitler, Mein Kampf, hier zitiert nach Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, a.a.O., S. 115 f.

[20] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Berlin, 1997, S. 667

[21] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, a.a.O. S. 133

[22] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, a.a.O. S. 135

[23] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 43

[24] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, a.a.O. S. 134

[25] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 163f

[26] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 93

[27] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, a.a.O., S. 304

[28] Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte, a.a.O. S. 239 f.

[29] Hegel und das deutsche Erbe, a.a.O., S. 522. In dem Buch „Von Hegel zu Hitler? Geschichte und Kritik eines Zerrbildes“ findet sich das Zitat auf Seite 174.

[30] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 47

[31] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 434

[32] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 433

[33] Domenico Losurdo, Die Deutschen, a.a.O., S. 50 f.

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