Eine besondere Beziehung - Anmerkungen zur Rolle Großbritanniens in der EU

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„De Gaulle hatte recht. Das Vereinigte Königreich passt nicht nach Europa. Es kann nicht, ja es darf nicht länger Mitglied eines geeinten Europas sein« So beginnt ein Kommentar in der österreichischen außenpolitischen Zeitschrift International vom Frühjahr 2016. Nach dem Autor »wäre es längst an der Zeit, den Sonderstatus des Inselstaats vor der Küste Europas endlich zu beenden«, denn »seit dem Beitritt 1973 hat es kaum noch einen europäischen Integrationsschritt gegeben, bei dem Großbritannien voll und ganz teilgenommen hat.«2

Auch für den SPD-Politiker und Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz steht fest: Großbritannien trägt eine große Verantwortung dafür, dass Europa nicht zusammenkommt: »Anmerken muss man (…), dass die widerwilligsten Partner in der EU, wenn es um weitere Integration und Zusammenarbeit geht, nicht die neuen Mitglieder sind. Schwierigkeiten macht in dieser Beziehung vielmehr ein Inselstaat im Nordwesten Europas, der schon seit vierzig Jahren Mitglied ist.3 Schulz wirft dem Land vor, »in Brüssel immer mit beiden Füßen auf der Bremse«4 zu stehen. Und Premierminister David Cameron beschuldigt er, in der EU eine »ständige Blockade«5 zu betreiben.

Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Jürgen Habermas formuliert seine Kritik grundsätzlicher. Nach ihm gibt es einen allgemeinen »tiefen Zielkonflikt« über die »Finalité« des Einigungsprozesses: »Die sogenannten Integrationisten, die eine Präferenz für gemeinsame Politiken haben und der Vertiefung der Union Vorrang einräumen, und die Euroskeptiker blockieren sich gegenseitig.« Auch für ihn ist Großbritannien das Zentrum der eine weitere Integration hemmenden Kräfte, die er auf dem Vormarsch sieht: »Strategisch gesehen, genießt allerdings die Erweiterungspartei unter Führung Großbritanniens den Vorzug, dass eine Politik der Nicht-Entscheidung in ihrem Sinn arbeitet.6 So oder ähnlich hört man es seit Jahren auf sozialdemokratischen Parteitagen und Gewerkschaftskongressen in Deutschland: Die Europäische Union könnte doch längst, so heißt es dort, sozialer und demokratischer ausgerichtet sein, wäre da nur nicht das ständige »No« aus London. Doch das ist, wie noch gezeigt wird, eine Legende.

Folgt man Schulz und Habermas, so könnte ein Brexit sogar eine Chance für eine so von einer Last befreite EU sein, wäre damit doch endlich der Weg in Richtung von mehr Integration freigeräumt. Der Kommentator in der Zeitschrift International kommt angesichts solcher Aussichten regelrecht ins Schwärmen: »Endlich könnte Europa darangehen, eine wirklich eigenständige Außenpolitik – nicht am Gängelband der USA und nicht durch andauernde Einflüsterungen aus London dominiert – aufzubauen. Endlich könnte Europa große politische Einigungsziele in Angriff nehmen. Dem Projekt der ›sozialen Integration‹ würden beispielsweise nicht mehr die freihandelsfixierten neoliberalen Integrationsbremser von den britischen Inseln im Weg stehen.«7 Solche Stimmen könnten lauter werden, sollte es zum Austritt kommen. Und wahrscheinlich werden dann auch die von Martin Schulz und Jürgen Habermas darunter sein.

Großbritannien und die EU – das war schon immer eine besondere Beziehung, »a special relationship«, wie es auch im Deutschen heißt. Zwar hatte Winston Churchill bereits im Herbst 1946 in seiner berühmten Züricher Europarede für ein einiges Europa geworben, doch das sollte nur für den Kontinent, nicht für Großbritannien gelten. Damals gab es noch das britische Weltreich, und das sollte nach Churchill auch so bleiben. So war man denn auch 1957 bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge nicht dabei. Zusammen mit anderen kleineren Staaten gründete man stattdessen 1959 die European Free Trade Association (EFTA),8 eine Art EU light.

Erst 1961, das britische Empire war zerbrochen, stellte London einen Aufnahmeantrag, der aber prompt am »Non« De Gaulles scheiterte. Es war jenes Veto, das heute in der Zeitschrift International als so weise gepriesen wird. Grund für die Ablehnung aus Paris war der nicht unbegründete Verdacht, bei der Insel handele es sich sicherheitspolitisch lediglich um ein trojanisches Pferd der USA, und hierzu passte nun einmal nicht die gaullistische Vision eines von Washington und Moskau unabhängigen Frankreichs und Europas. Auch das zweite Beitrittsgesuch 1967 scheiterte am Einspruch Frankreichs. Die Interessen zweier europäischer imperialistischer Mächte ließen sich nicht in Deckung bringen.

Arbeiter gegen EU

Auch in Großbritannien war der Beitritt umstritten. Gewerkschaften und Labour Party lehnten ihn ab. Labour-Parteichef Hugh Gaitskell erklärte 1962: »Sind wir gezwungen, uns Europa anzuschließen? Meine Antwort ist nein, nein, nein. (…) Wenn England mitmacht, (…) dann bedeutet dies unser Ende als unabhängige Nation, das Ende von tausend Jahren Geschichte.«9 Diese Aussage mag heute ungewöhnlich klingen. Damals war es aber noch ganz selbstverständlich, dass sich die Arbeiterbewegungen als Sachwalter, ja als Erben ihrer Nationen verstanden.

1972 versuchte es London unter Führung des konservativen Premierministers Edward Heath erneut. Da diesmal das »Non« aus Paris ausblieb, wurde mit Beginn des Jahres 1973 Großbritannien zusammen mit Irland und Dänemark Mitglied der Europäischen Gemeinschaften. Doch die Labour Party blieb bei ihrem Nein. Den Unterhauswahlkampf 1973/74 führte sie mit dem Versprechen, die Beitrittsbedingungen neu zu verhandeln und das Ergebnis anschließend zur allgemeinen Abstimmung zu stellen. Mit diesen Parolen gewann Labour die Unterhauswahlen. Die von ihr gebildete Regierung unter Harold Wilson begnügte sich dann aber mit einigen unbedeutenden Zugeständnissen Brüssels und empfahl der Bevölkerung die Zustimmung zur Mitgliedschaft. Anfang April 1975 stimmte das Unterhaus mit 398 gegen 172 einer entsprechenden Regierungsvorlage zu. Doch diese Mehrheit war nur dank der nahezu geschlossenen Zustimmung der Konservativen zustande gekommen. Auch Margaret Thatcher war entschieden für den Beitritt. Die Labour-Party blieb hingegen mehrheitlich auf Distanz. Von ihren Abgeordneten stimmten 147 dagegen und nur 137 dafür. Und auf dem folgenden Labour-Parteitag sowie auf Gewerkschaftskongressen sprachen sich klare Mehrheiten gegen die Mitgliedschaft aus. Unter den entschiedenen Gegnern war auch der heutige Labour-Chef Jeremy Corbyn. Der Beitritt Großbritanniens ist daher zu keinem Zeitpunkt weder von Labour noch von den Gewerkschaften akzeptiert worden. Er war nur möglich geworden, weil sich die Labour-Regierung im Unterhaus auf die Stimmen der konservativen Abgeordneten stützten konnte. Da Konservative, Liberale und eine Minderheit in Labour sich für den Beitritt aussprachen, erhielt das Ja in der Volksabstimmung am 5. Juni 1975 mit 67,2 Prozent eine Mehrheit.

Bis heute hat sich aber in Teilen der britischen Arbeiterbewegung eine tiefe Aversion gegenüber der EU erhalten. In der aktuellen Auseinandersetzung über einen Austritt hat sich daher auch ein »Lexit«-Bündnis gebildet. Sein Name leitet sich her von »Left Exit« beziehungsweise »Austritt von links«. Lexit versteht sich als eine »Allianz zum Kampf für ein Nein zur EU-Mitgliedschaft Britanniens«. Ihm gehören die Eisenbahnergewerkschaft RMT, das Personenbündnis »Gewerkschafter gegen die EU« sowie die Kommunistische Partei Britanniens an.

Tradition des Freihandels

Viel ist gesagt und geschrieben worden über die besondere Rolle, die Großbritannien seit seinem Beitritt als angeblich schwieriger Partner in der EU spielt. Sie wird oft als Fortführung der traditionellen »Splendid isolation« (wunderbaren Isolation) der Insel beschrieben. In Erinnerung geblieben ist vor allem der Streit mit Margaret Thatcher um den dem Land zugestandenen Haushaltsrabatt. Die von Helmut Schmidt abfällig als »Krämertochter« bezeichnete Premierministerin bekräftigte ihre Forderung »I want my money back« (Ich will mein Geld zurück) schon mal mit ihrer Handtasche, die sie auf den Konferenztisch schlug.

Ebenso wie alle anderen Mitgliedsstaaten verfolgt auch Großbritannien seine besonderen nationalen Interessen in der Union. Einigen Integrationsschritten verweigert es sich, anderen stimmt es zu. Abgelehnt hat London stets die einheitliche europäische Währung. Bereits 1992 verließ das Land das Europäische Währungssystem (EWS), und 1999 entschied es sich definitiv gegen den Euro. Großbritannien unterzeichnete 2012 auch nicht den Fiskalpakt, der vor allem der Disziplinierung der Euroländer dient. Auch der Schaffung eines »Europas ohne Grenzen« durch Übernahme des Schengen-Systems erteilte es eine Absage. Trotz dieser Vorbehalte ist es aber keineswegs so, dass es, wie behauptet wird, »seit dem Beitritt 1973 (…) kaum noch einen europäischen Integrationsschritt gegeben (hat), an dem Großbritannien voll und ganz teilgenommen hat.«10 In mindestens drei Bereichen billigte das Land nicht nur die Vorhaben Brüssels, sondern trieb sie sogar voran. Dazu gehören die vollständige Durchsetzung der Binnenmarktfreiheiten, die Schaffung der »Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik« und die Forcierung der Erweiterung der EU. Was die Schaffung militärischer Fähigkeiten der Union angeht, so setzt sich Großbritannien immer wieder gemeinsam mit Frankreich für sie ein, achtet aber stets darauf, dass sie nicht in Konkurrenz zur NATO und damit zu den USA entwickelt werden. Und in der Frage der Erweiterung gehört das Land zu den entschiedensten Befürwortern der Osterweiterung, und heute tritt es vehement für die Aufnahme der Türkei ein.

Impulsgebend war London aber vor allem bei der Weiterentwicklung des Binnenmarkts. An seiner Vertiefung ist der kapitalistischen Klasse des Landes besonders gelegen, entspricht es doch ihrer freihändlerischen Tradition, unter der EU nichts anderes als eine große Freihandelszone zu verstehen. Begünstigt wurde diese Politik durch den Wahlsieg von Thatcher 1979, der zugleich das Startsignal für den Siegeslauf des Neoliberalismus auch auf dem Kontinent war. In der Bundesrepublik Deutschland markierte die Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Kohl 1982 in der »geistig-moralischen Wende« die endgültige Abkehr vom Sozialstaat. In Frankreich scheiterte 1983 das Programme Commun der von Sozialisten und Kommunisten gebildeten Linksregierung. Präsident François Mitterrand vollzog anschließend eine radikale Wende hin zum Wirtschaftsliberalismus. Die neoliberalen Positionen Londons waren nun allgemein hegemoniefähig in der Union geworden.

Neoliberale Union

Ein großer Schritt in Richtung einer neoliberalen Ausrichtung der EU wurde auf dem europäischen Gipfel von Mailand im Juni 1985 getan. Dort ging es um die Beschlussfassung über die Einheitliche Europäische Akte, mit der die politische Integration gestärkt werden sollte. Da sich aber auf der Tagung drei Staaten – Großbritannien, Dänemark und Griechenland – aus verschiedenen Gründen beharrlich dem Beschluss darüber widersetzten, wurde kurzerhand abgestimmt. Damit wurden, im Widerspruch zu dem von Frankreich durchgesetzten Luxemburger Kompromiss von 1966, wonach das Mehrheitsprinzip bei »sehr wichtigen Interessen eines oder mehrerer Partner« nicht zur Anwendung kommen soll, Mitgliedsstaaten in einer entscheidenden Frage in die Minderheit versetzt. Dieser vor allem von deutscher Seite immer bekämpfte Luxemburger Kompromissmodus war damit erstmals durchbrochen worden. Nicht zufällig ging die Initiative für die Abstimmung vom deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher aus. Der französische Staatspräsident François Mitterrand warnte hingegen davor. Über den Ablauf der Ereignisse wurde folgendes berichtet: »Um den Widerstand gegen die Vertragsreform zu überwinden, brachte die Kommission das Projekt des Binnenmarktes ein. Mit diesem Schachzug setzte Delors11 seinen großen Widerpart, Margaret Thatcher, matt, denn die Vollendung des Binnenmarkts mit dem freien Verkehr für Waren und Dienstleistungen entsprach dem zentralen freihändlerischen Anliegen der Engländer, das sie in Europa verwirklicht sehen wollten. Briten und Dänen akzeptierten die Einführung der Mehrheitsentscheidung in allen Fragen des Binnenmarkts als notwendige Bedingung für seine Realisierung.«12 Dieser Deal zwischen Deutschland und Großbritannien, freier Binnenmarkt gegen Zulassung der Mehrheitsentscheidung, hob das Recht der Mitgliedsländer auf, per Veto einen Beschluss verhindern zu können. Die zügige Verwirklichung des freien Binnenmarktes wurde damit überhaupt erst möglich.

Spätestens ab dieser Wende von Mailand stand London nicht länger im Abseits. Im Gegenteil: Es gelang ihm sogar, sich an die Spitze des europäischen Geleitzuges zu setzen, indem es immer neue Vorschläge zur Vervollkommnung des Binnenmarktes vorlegte – etwa die Schaffung eines Finanzdienstleistungsmarktes zur Stärkung der Londoner City. Zusammen mit der Europäischen Kommission drängte Großbritannien auf immer weitergehende Privatisierungen, Deregulierungen und Liberalisierungen. New Labour unter Tony Blair übernahm nahtlos diesen von den britischen Konservativen vorgegebenen Kurs.13 Da schließlich auch die SPD unter Schröder mit der Agenda 2010 dieser Ausrichtung folgte, stellte sich dem neoliberalen Umbau der EU faktisch kein ernstzunehmender Widerstand mehr entgegen.

Zu den Binnenmarktfreiheiten gehört neben der Kapital-, Waren- und Dienstleistungsfreiheit auch die Personenfreizügigkeit. Vor allem der damit garantierten unbegrenzten Mobilität von Arbeitskräften über die europäischen Binnengrenzen hinweg gilt das besondere Augenmerk der britischen Kapitalistenklasse. Und so bietet das Land »Cheap labour« (billige Arbeit) dank laxer Arbeitsgesetze, kaum abverlangter beruflicher Qualifikationen und angesichts der bei Migranten meist vorhandenen Grundkenntnisse der englischen Sprache stets einen großen Markt. Deshalb profitiert Großbritannien wie andere englischsprachige Länder, etwa die USA, Kanada oder Australien, im besonderen Maße vom »Brain drain«, der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Auf diese Weise lässt sich viel an Erziehungs- und Qualifikationskosten der eigenen Arbeitskräfte sparen. In London konnte man etwa die Ausbildung von Krankenpflegekräften komplett einstellen – war es doch günstiger, sie von außen ins Land zu holen.

Arbeitsmigration in Europa

Mit den Osterweiterungen der EU 2004 und 2007 entstanden enorme Produktivitäts- und Lohnunterschiede zwischen alter und neuer Union. Die Folge war eine große Arbeitsmigration von Ost nach West. Es wird geschätzt, dass allein drei Millionen Polen ihr Land in Richtung Westen verließen. Auch Hunderttausende Tschechen, Slowaken, Ungarn und Balten gingen. Nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 kam es zu einer zweiten Migrationswelle. Aus Rücksicht auf ihre Arbeitsmärkte räumten Deutschland und Österreich den Bürgern aus den 2004 hinzugekommenen Staaten erst zum 1. Mai 2011 die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit ein, nachdem alle nach EU-Recht möglichen Übergangsfristen ausgeschöpft waren. Für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien gilt sie sogar erst seit 2014. Anders gingen Großbritannien, Irland und Schweden vor. Sie hatten von Beginn an die unbeschränkte Arbeitsmigration aus den Beitrittsländern gestattet.

Die hohe, weiter andauernde Migration hat negative Folgen für die Lohnabhängigen in der alten EU. Es sind vor allem die Schwächsten unter ihnen, die schlecht Ausgebildeten und die hier schon lange lebenden Zuwanderer, die diese neue Konkurrenz zu spüren bekommen. Mit Hilfe billiger und williger Arbeitskräfte aus dem Osten können insbesondere Unternehmen der Bauindustrie und des Dienstleistungsgewerbes – etwa bei der Pflege – Löhne senken und schlechtere Arbeitsbedingungen durchsetzen. Für die Kapitalisten ergeben sich zugleich neue Möglichkeiten der Spaltung der Arbeiterklasse und des Gegeneinanderausspielens der Lohnabhängigen. Dass dieser Effekt mit der Osterweiterung von Beginn an beabsichtigt war, wird selten zugegeben. Eine Ausnahme stellt der ehemalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel dar, der in einem Interview freimütig bekannte: »Unsere Strategie damals, die Erweiterung auch als Turbomotor in den alten Mitgliedsländern einzusetzen, ist voll aufgegangen.«14

Die hohe Zuwanderung aus den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern und inzwischen auch aus den von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Ländern Spanien, Portugal und Griechenland ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Großbritannien inzwischen ein großes Problem geworden. »Im ersten Quartal (2016, A. W.) gab es in Großbritannien eine Rekordzahl von 2,1 Millionen Arbeitnehmern aus anderen EU-Staaten und damit zwölf Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Seit 2010 hat sich ihre Zahl fast verdoppelt.«15 Es war dieser Anstieg, der die Stimmung gegenüber der EU endgültig kippen ließ: »Die Einwanderungswelle ist im Wahlkampf vor dem Referendum der wunde Punkt des britischen Premierministers David Cameron, der an der Spitze der Proeuropäer steht. Denn er hat den Wählern versprochen, die Gesamtzahl der Einwanderer unter 100.000 Neuankömmlinge im Jahr zu senken. Stattdessen hat sich ihre Zahl in den vergangenen vier Jahren auf rund 330.000 Migranten mehr als gut verdoppelt. Etwa die Hälfte davon kam 2015 aus anderen EU-Staaten. (…) Viele Briten befürchten, dass die Zuwanderer die Löhne drücken und weder die Schulen noch das Gesundheitssystem dem Andrang der Migranten gewachsen sind.«16 Sollte es daher zu einem Nein der Briten zur EU kommen, so liegt der Grund dafür nicht etwa in einer mangelnden Bereitschaft zur Integration des Landes in die Union, wie es der Kommentator in der Zeitschrift International annimmt. Ganz im Gegenteil: Grund ist vielmehr die große Bereitschaft Großbritanniens, bei der Durchsetzung der Personenfreizügigkeit als einer der Binnenmarktfreiheiten den Empfehlungen der EU bedingungslos zu folgen.

Es sind vor allem die ultraliberalen Rechten in der Konservativen Partei um den ehemaligen Londoner Bürgermeister Boris Johnson sowie die rechtspopulistische UK Independence Party von Nigel Farage, denen es in der Austrittskampagne immer besser gelingt, die mit der Migration entstandenen Probleme in den Mittelpunkt zu rücken und sich damit als Fürsprecher der besorgten Lohnabhängigen und sozial Deklassierten aufzuspielen. In Großbritannien ist es nicht anders als in Frankreich, Österreich oder Deutschland, wo ebenfalls die Rechtspopulisten des Front National, der FPÖ und der AfD inzwischen das Monopol der Kritik an der Globalisierung und Europäisierung für sich in Anspruch nehmen. Die Erfolge der Rechten verweisen dabei zugleich auf die Defizite der Linken – hat sie es doch versäumt, rechtzeitig den undemokratischen und unsozialen Charakter der EU aufzuzeigen.

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Anmerkungen:

1 Charles de Gaulle, französischer Präsident von 1959–69

2 Stefan Brocza: De Gaulle hatte recht, in: International. Die Zeitschrift für internationale Politik, Wien 1/2016, S. 20

3 Martin Schulz: Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance. Berlin 2013, S.59

4 ebd., S. 251

5 ebd., S. 146

6 Jürgen Habermas: Ach, Europa. Frankfurt am Main 2008, S. 100

7 Stefan Brocza, De Gaulle hatte recht, a. a. O., S. 21

8 Die EFTA wurde von Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und der Schweiz am 20.11.1959 gegründet. Finnland, Liechtenstein und Island kamen später hinzu. Die EFTA besteht noch heute. Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz sind Mitglieder. Womöglich tritt Großbritannien wieder bei.

9 Der Spiegel 1962, Nr. 43, S. 85f., zitiert nach Gerhard Brunn: Die Europäische Einigung. Stuttgart 2002, S. 153

10 Stefan Brocza: De Gaulle hatte recht, a. a. O., S.21

11 Jacques Delors, von 1981 bis 1984 französischer Wirtschafts- und Finanzminister und von 1985 bis 1995 Präsident der EG-Kommission

12 Gerhard Brunn: a. a. O., S. 241

13 Margaret Thatcher hatte es stets als ihren größten politischen Erfolg herausgestellt, dass sie nach den Konservativen mit Labour sogar noch eine zweite Partei auf ihren neoliberalen Kurs einschwören konnte.

14 Wolfgang Schüssel: Die Kernbotschaft finden Sie auf jedem Dorffriedhof, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.6.2006

15 Bleib zu Hause, Europa, in: FAZ vom 9.6.2016

16 ebd.

Aus: Junge Welt vom 23.06.2016

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