„Geld oder Leben“

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Die Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren in Deutschland noch nicht einmal eine Woche in Kraft, da erschien am 26. März 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - im Wirtschaftsteil wohlgemerkt - unter der bezeichnenden Überschrift "Geld oder Leben"[1] ein Artikel, in dem über eine schnelle Aufhebung dieser Maßnahmen nachgedacht wurde.

Darin heißt es: „Seit bald zwei Wo­chen (tatsächlich waren die Kontaktbeschränkungen in den meisten Bundesländern erst am 22.03.2020, also nur vier Tage vor dem Erscheinen des FAZ-Artikels, beschlossen worden, A.W.[2]) steht das Wirt­schafts­le­ben in Deutsch­land weit­ge­hend still, und im­mer deut­li­cher zeich­net sich ab, wel­che enor­men wirt­schaft­li­chen Schä­den die Schutz­maß­nah­men ge­gen das Co­ro­na­vi­rus nach sich zie­hen. Um mehr als 700 Mil­li­ar­den Eu­ro könn­te Deutsch­land durch ei­ne drei­mo­na­ti­ge Teil­schlie­ßung der Wirt­schaft är­mer wer­den, hat das Münch­ner Ifo-In­sti­tut aus­ge­rech­net (...).“

Angesichts dieser Horrorzahlen sei es notwendig, gibt die Autorin des Artikels Julia Löhr zu bedenken, ob wir uns das leisten können: „Noch will kaum je­mand dar­über of­fen dis­ku­tie­ren, aber die Fra­ge nach der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit drängt sich auf. Recht­fer­tigt der Schutz ei­ner be­stimm­ten Be­völ­ke­rungs­grup­pe, für die das Vi­rus le­bens­be­droh­lich ist, er­heb­li­che Tei­le der Ge­sell­schaft in wirt­schaft­li­che Exis­tenz­ängs­te zu stür­zen? Der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Do­nald Trump, der frü­he­re Gold­man-Sachs-Ma­na­ger Alex­an­der Di­be­li­us, der Öko­nom Tho­mas Straub­haar: Sie al­le ha­ben in den ver­gan­ge­nen Ta­gen deut­lich ge­macht, dass sie den Preis der Schutz­maß­nah­men für zu hoch hal­ten, dass es aus ih­rer Sicht bes­ser wä­re, nur hoch­be­tag­te oder durch schwe­re Vor­er­kran­kun­gen ge­schwäch­te Men­schen zum Zu­hau­se­blei­ben auf­zu­ru­fen. Die Me­di­zin sei schlim­mer als die Krank­heit, so sieht es nun auch Trump. Er warnt: Auch ei­ne Re­zes­si­on wer­de zu vie­len To­ten füh­ren. (...)“  

Mit Missmut wird von Löhr vermerkt, „dass die Bun­des­re­gie­rung der­zeit vor al­lem dem Rat der Vi­ro­lo­gen folgt. Ih­re Emp­feh­lun­gen sind Leit­schnur der Po­li­tik, und sie ra­ten eher zu meh­re­ren Mo­na­ten als zu we­ni­gen Wo­chen Still­stand, um die Aus­brei­tung des Vi­rus zu ver­lang­sa­men und die Kran­ken­häu­ser vor ei­nem Pa­ti­en­ten­an­sturm zu schüt­zen. Das Pro­blem ist: Was den Me­di­zi­nern hilft, scha­det der Wirt­schaft und be­droht den Wohl­stand, den sich Deutsch­land in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten auf­ge­baut hat.“ Verschwiegen wird dabei von ihr, dass mit den Maßnahmen nicht „den Medizinern“ als einer besonderen Berufsgruppe um ihrer selbst willen geholfen wird, sondern dass mit den Kontaktbeschränkungen vielmehr ihre Arbeit erleichtert wird, damit sie Patienten helfen können, nicht zuletzt um zu verhindern, dass sie sterben. Aber so deutlich will Frau Löhr das nicht sagen, könnte dies doch als zynisch und menschenverachtend verstanden werden.

Wie sich die Argumente von Neoliberalen und anarchistischen Libertären gleichen

Interessant sind die im Artikel angegebenen Begründungen, weshalb die verordneten Maßnahmen überzogen und korrekturbedürftig seien: „Es gibt al­ler­dings auch vie­le Be­rei­che, in de­nen es die Bun­des­re­gie­rung mit dem Schutz des mensch­li­chen Le­bens nicht ganz so ernst nimmt wie jetzt in der Co­ro­na-Kri­se. So gibt es wei­ter­hin kein Tem­po­li­mit auf Au­to­bah­nen. Nicht zu ver­ges­sen die Dis­kus­si­on, ob Last­wa­gen über Ab­bie­ge­as­sis­ten­ten ver­fü­gen müs­sen, da­mit we­ni­ger Fahr­rad­fah­rer im to­ten Win­kel ster­ben. Auch die jähr­li­che Grip­pe­wel­le mit vie­len tau­send To­des­fäl­len, im Win­ter 2017/2018 so­gar 25000, kam und ging bis­lang oh­ne staat­li­che Ein­grif­fe.“ Das sind Positionen, die man sonst nur auf den Seiten von Verharmlosern oder gar Leugnern der Krise lesen kann, vertreten von Leuten, die nicht verstanden haben, was eine Pandemie ist. Sie finden sich etwa auf Rubikon, KenFM oder der Rationalgalerie. Nun wird also auch im neoliberalen Wirtschaftsteil der FAZ so gedacht. Diese Parallelität ist alles andere als zufällig. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Liberalismus und Anarchismus nur zwei Seiten einer Medaille sind. Gemeinsamer Feind ist der Staat. Wehren sich die einen gegen verordnete Einschränkungen ihrer Wirtschaftsfreiheit, d.h. der ungehemmten Möglichkeit Geld zu machen, so stemmen sich anarchistische Libertäre gegen die staatliche Einschränkung, jetzt weiter ungehindert alles tun oder lassen zu können.[3]       

Die FAZ-Autorin fragt, ob Großbritanniens Pre­mier­mi­nis­ter Bo­ris John­son nicht doch richtig gelegen habe, als er sich gegen den „Shutdown der Wirt­schaft“ ge­wehrt hatte. Diese Frage hat sich aber inzwischen erledigt, Großbritannien ist auf den Kurs so gut wie aller übrigen Staaten der Welt eingeschwenkt und hat seiner Bevölkerung sogar eine noch rigidere Kontaktbeschränkung als sie für Deutschland gilt verordnet. Auch Donald Trump ist inzwischen kleinlaut geworden. Wollte er noch vor kurzem bereits zu Ostern „volle Kirchen“ sehen, so befürwortet nun auch er strikte Maßnahmen. Als Verweigerer harter Einschnitte bleiben nur noch Schweden, wo aber eine baldige Korrektur des unverantwortlichen laissez faire zu erwarten ist, Weißrussland unter Alexander Lukaschenko und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro übrig, für den die Pandemie "nur ein Grippchen" ist[4].      

Die Alten sollen sich opfern

So bleibt nur der Appell an die Alten, sich selbst zu opfern, um der Wirtschaft schnell wieder  auf die Beine zu helfen. Eine solche Diskussion vermisst die FAZ-Journalistin in Deutschland: „Wäh­rend in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten Po­li­ti­ker wie der Vi­ze­gou­ver­neur des Bun­des­staa­tes Te­xas Äl­te­ren schon ra­ten, sich für die Zu­kunft ih­rer Kin­der und En­kel zu op­fern, hal­ten sich deut­sche Po­li­ti­ker in die­ser Dis­kus­si­on zu­rück.“ Und tatsächlich wird eine solche Lösung allen Ernstes von dem texanischen Vize-Gouverneur Dan Patrick gefordert: „Es könne nicht sein, dass die Wirtschaft der Coronakrise geopfert werde, sagte der Politiker aus Texas in einem Fernsehinterview auf Fox News. Man müsse wenigstens diskutieren, ob nicht die älteren Bürger geopfert werden sollten. 'Ich denke, es gibt da draußen viele Großeltern wie mich, ich habe sechs Enkel. Ich will nicht, dass das ganze Land geopfert wird', so Patrick."[5]

Was die hier beklagte Zurückhaltung deut­sche Po­li­ti­ker angeht, so stimmt das nicht ganz. Zumindest ganz weit links außen gibt es jemanden, der es so sieht wie der rechte US-Republikaner Dan Patrick. Der frühere Vorsitzende der Landtagsfraktion der Partei DIE LINKE in Niedersachsen, Manfred Sohn, heute Mitglied der DKP, erklärt in einem Aufruf, den alle unterschreiben sollen die 1955 und früher geboren sind: „Vernünftig wäre es, die Risikogruppen – also uns – zu isolieren statt alle Jungen voneinander zu trennen und zu Hause einzusperren. Verordnet uns, den Alten, Hausarrest, versorgt uns und zahlt auch denjenigen, die das nicht eh‘ bekommen, eine vorzeitige Rente und arbeitet ansonsten weiter wie bei jeder großen Grippewelle. Das wäre eine Abwehrstrategie mit Vernunft und Augenmaß.“[6]

Die politischen Vertreter des Geldes melden sich zu Wort

Schon ernster ist da die Position des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner. In einem Interview des Deutschlandfunks vom 27. März 2020, also nur einen Tag nach Erscheinen des FAZ-Artikels, griff er dessen zentrale Argumente auf und mahnte eine baldige Rückkehr zur „Normalität“ an. Auf die Frage des DLF-Journalisten „Wie stellen Sie sich eine Rückkehr zur Normalität vor?“ antwortete Lindner: „Das wird ein Prozess sein, aber er sollte so bald wie möglich beginnen. So bald wie möglich bedeutet, man kann jetzt aus meiner Betrachtung heraus noch keinen festen Zeitpunkt angeben. Aber das Handeln des Gesamtstaates sollte darauf gerichtet sein, die jetzigen Freiheitseinschränkungen, wann immer es verantwortbar ist, schrittweise aufzuheben, damit es ein normales Leben geben kann. Der jetzige Zustand ist unnatürlich für Menschen, die Gesellschaft suchen, und er ist im Übrigen auch mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung auf Dauer untragbar. Denn der Staat kann nicht  kompensieren, was es an Wertschöpfung im privaten Sektor nicht gibt.“[7]

Mit Lindner sprach hier der Vorsitzende der Partei des Geldes schlechthin. Seine Forderung nach einem möglichst schnellen Exit aus den verordneten Maßnahmen konnte daher kaum überraschen. Etwas ungewohnter war da schon die Stellungnahme des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, ist er doch immerhin doch ein Politiker jener Partei, die sich christlich nennt. In der Zeitung Welt schrieb er am 29. März 2020 unter der Überschrift „Jetzt müssen wir für die Zeit nach der Krise planen“:[8] „Wir als Politiker sind (…) gut beraten, nicht dem Rausch des Ausnahmezustands und der Tatkraft zu verfallen, sondern auch in dieser Stunde der Exekutive Maß und Mitte zu wahren. (…) Der Satz, es sei zu früh, über eine Exit-Strategie nachzudenken, ist falsch.“

Eine Debatte, die wiederkehren wird

Spätestens mit dieser Stellungnahme Laschets, des aussichtsreichsten Kandidaten für den CDU-Bundesvorsitz, drohte die von der FAZ in Gang gesetzte Debatte über eine Exit-Strategie an Fahrt und Breite zu gewinnen. Gefährdet war damit die in der Bevölkerung gerade eben erreichte Akzeptanz der beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.

Und so musste die Kanzlerin ein Machtwort sprechen, um die Debatte zu beenden. In einem Podcast vom 28. März 2020 warnte sie „davor, ungeduldig zu werden. Niemand könne heute mit gutem Gewissen sagen, wie lange diese schwere Zeit anhält.“[9]  Vizekanzler Olaf Scholz von der SPD stellte sich demonstrativ an ihre Seite und verschärfte den Ton: "Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft", sagte er der Bild am Sonntag.[10] Und die Politikerin der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, hatte schon vorher erklärt: „Der Schutz von Menschenleben muss Vorrang haben vor ökonomischen Erwägungen.“[11] Am 1. April 2020 verständigten sich Bund und Länder darauf, dass es vor Ostern keine Debatten über Lockerungen zur Eindämmung der Pandemie geben soll.

Die Auseinandersetzung um die Exit-Strategie ist damit zu Ende, kaum dass sie begonnen hatte. Der Testballon, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte aufsteigen lassen und an den sich namhafte Politiker von FDP und CDU gehängt hatten, wurde wieder eingeholt. In einem Kommentar der FAZ konnte man am 30. März 2020 lesen: „Wie sich der Still­stand des öf­fent­li­chen Le­bens aus­wirkt, kann man un­ter an­de­rem an den Wirt­schafts­pro­gno­sen er­ken­nen: Aus düs­ter wird sehr düs­ter, aus Re­zes­si­on wird ei­ne sehr schwe­re Re­zes­si­on. Die Kon­se­quen­zen be­kom­men Ar­beit­neh­mer, Un­ter­neh­men, Bran­chen zu spü­ren. Des­we­gen ver­wun­dert es auch nicht, dass schon hier und da ge­for­dert wird, die Maß­nah­men zur Ein­däm­mung des Co­ro­na­vi­rus zu lo­ckern, zu­min­dest dies zu er­wä­gen. Aber die Zah­len, die täg­lich von der Pan­de­mie-Front ge­mel­det wer­den, sind nicht da­zu an­ge­tan, Ent­war­nung zu ge­ben.

Doch die Debatte über die Aufhebung der Restriktionen wird mit Sicherheit bald wieder aufleben. Viel zu stark ist in diesem Land das Kapital. Und das entscheidet sich bei der Frage „Geld oder Leben“ bekanntlich für Geld.               



[1] Geld oder Leben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.03.2020

[2] Vgl. Für Berlin: Eindämmung des Coronavirus – Berliner Senat beschließt weitgehende Kontaktbeschränkungen, Pressemitteilung vom 22.03.2020; https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/pressemitteilung.910268.php

[3] Der Journalist Ken Jebsen protestierte etwa gegen die Kontaktbeschränkungen indem er im Studio vor sich Gitterstäbe aufbaute und dann erklärte, dass die gegen die Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen denen aus der Zeit des Faschismus gleichen. Siehe hier: https://kenfm.de/corona-diktatur-machtergreifung-im-deckmantel-der-volksgesundheit/

[4] Mit Geklapper gegen Bolsonaro - Brasiliens Präsident verharmlost die Corona-Krise, in: FAZ vom 26.03.2020

[5] Texas-Vizegouverneur: Großeltern sind bereit, für ihre Enkel zu sterben, in: Spiegel-Panorama; https://www.spiegel.de/panorama/coronavirus-texanischer-gouverneur-fordert-grosseltern-auf-fuer-ihre-enkel-zu-sterben-a-5d7724af-e3d8-4ba0-a561-ecb8af0f402d

[6] 55-Aufruf, Virenbekämpfung mit Vernunft und Augenmaß (Appell der Jahrgänge 1955 und älter);  https://altersdiskriminierung.de/themen/artikel.php?id=11047

[7] Das Signal geben, dass es auf Dauer nicht so bleiben, Interview mit Christian Lindner im Deutschlandfunk am 27.03.2020; https://www.deutschlandfunk.de/lindner-fdp-zu-ausstieg-aus-corona-beschraenkungen-das.694.de.html?dram:article_id=473420

[8] Armin Laschet, Jetzt müssen wir für die Zeit nach Corona planen, in: Welt; https://www.welt.de/debatte/kommentare/article206868669/Exit-Stratgegie-Jetzt-muessen-wir-fuer-die-Zeit-nach-Corona-planen.html

[9] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bundeskanzlerin Merkel: Danke, dass unser Land auf Sie zählen kann!  https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/bundeskanzlerin-merkel-danke-dass-unser-land-auf-sie-zaehlen-kann--1736050

[10] Gehalts-Bonus für Corona-Helden soll steuerfrei sein, in: Bild am Sonntag vom 29.03.2020; https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/corona-olaf-scholz-bessere-loehne-fuer-harte-arbeit-sollten-eine-folge-der-krise-69691500,view=conversionToLogin.bild.html

[11] Sahra Wagenknecht, Newsletter Ausgabe 91 vom 12.03.2020; http://aktionsmail.team-sahra.de/issues/corona-krise-handeln-bevor-es-zu-spat-ist-231562

 

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