Hagiographie und Erbschaft des Liberalismus
von Andreas Wehr
Vor dem Hintergrund der Niederlage des europäischen Sozialismus erscheint der Liberalismus heute als eine einzige Erfolgsgeschichte, dem deshalb eine große Zukunft vorausgesagt wird. Auch viele ehemaligen Sozialisten und Kommunisten teilen diese Sichtweise. Die Apologeten des Liberalismus sehen allen Anlass die „Erfolge liberaler Grundvorstellungen“ zu feiern, so beispielhaft in dem 2023 erschienenen Buch „Was ist Liberalismus“: „Als Bezeichnung einer politischen Tradition und eines Sets politischer Überzeugungen ist der Liberalismus mit den einschneidenden Ereignissen des 17. und 18. Jahrhunderts verbunden: der Glorious Revolution im Vereinigten Königreich 1688, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 sowie der Französischen Revolution 1789. Die Proklamationen der englischen und amerikanischen Bill of Rights und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – grundlegende Dokumente des Parlamentarismus, des Konstitutionalismus, der Rechtsstaatlichkeit sowie der Menschenrechte – sind beredter Ausdruck des praktischen Erfolgs liberaler Grundvorstellungen.“ [1]
Zutiefst gegensätzliche historische Ereignisse, wie die englische und die amerikanische Revolutionen einerseits, die den Kolonialismus legitimieren und die Bedingungen für die Herausbildung von Herrenvolkdemokratien schaffen, und die Französische Revolution andererseits, deren Menschenrechtserklärungen die Gleichstellung der Menschen erstmals proklamieren und die Sozialisten deshalb verteidigen, werden hier in einem Atemzug genannt, ohne die Unterschiede beziehungsweise Gegensätzlichkeiten zu benennen, zugleich wird damit der historische Fortschritt negiert, den die Revolution der Franzosen darstellt.
Eine Heiligsprechung des Liberalismus
Es die nach Losurdo „übliche Hagiographie“, die „nicht nur historisch unhaltbar“ ist, sondern auch eine Beleidigung der Opfer“ darstellt.“ [2] In einem Aufsatz in der Zeitschrift „Das Argument“ aus dem Jahr 1999 kritisiert er scharf diese Ideologie: „Eine 'fade' Auffassung vom Fortschritt kennzeichnet dagegen weiterhin, heute mehr denn je, die heute vorherrschende Ideologie. Sie beschreibt die heutige Demokratie als das Resultat des Triumphmarsches des Liberalismus, der nach den Bürgerrechten progressiv die politischen Rechte und schließlich die sozialen Rechte geltend gemacht und ausgedehnt hätte. In dieser Auffassung fehlt völlig der 'Ernst des Negativen'. Die Konflikte, die Kämpfe, die Revolutionen, die Emanzipationsprozesse (den Zugang bestimmter Schichten zum Genuss gewisser Rechte) erst möglich gemacht haben, werden ignoriert. Noch mehr wird natürlich die Tatsache ignoriert, dass auf Phasen der Emanzipation, wenn Kämpfe und Widerstand seitens der subalternen Klassen ausbleiben, auch lange Phasen der Deemanzipation (Verlust vorher erworbener Rechte) folgen können.“ [3] „Wenn man unter Liberalismus das gleiche Recht jeden Individuums auf eine vom Gesetz garantierte freie Privatsphäre – die sogenannte moderne oder negative Freiheit versteht, lässt sich unschwer feststellen, wie problematisch die Anwendung dieser Kategorie ist“. [4]
Angesichts dieses aktuellen Aufschwungs des Liberalismus zur heute nahezu uneingeschränkt herrschenden Ideologie reicht es nicht aus, bei der von Marx und Engels formulierten Kritik an der sich seinerzeit herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft stehen zu bleiben. Sie ist vielmehr als Ausgangspunkt zu nehmen, um vor ihr aus die gesamte Geschichte des Liberalismus zu hinterfragen. Dabei geht es um dessen Fähigkeit, Diskriminierungen jeglicher Art zu bekämpfen und so die Emanzipation Aller voranzubringen. Es ist das Verdienst Domenico Losurdos vor allem in seinem Buch „Freiheit als Privileg“ gezeigt zu haben, dass der Liberalismus weder von seiner Ideengeschichte her und schon gar nicht in seiner konkreten geschichtlichen Wirkung diesen Anforderungen jemals entsprochen hat und auch heute nicht entspricht. Sowohl für die aufgrund ihrer Hautfarbe Diskriminierten als auch für die unterdrückten Kolonialvölker noch für die Frauen und schon gar nicht für die Lohnabhängigen brachte der Liberalismus deren Befreiung. Dort, wo es in den westlichen liberalen Gesellschaften dennoch zu Emanzipationsprozessen kam, waren sie den Erfolgen antirassistischer, antikolonialistischer Kämpfe und von Bewegungen für die Befreiung der Frau beziehungsweise des Arbeiters zu verdanken. Zu Recht zählt Losurdo all diese Kämpfe zu Klassenkämpfen. Dies ist die zentrale Botschaft seines Buches „Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten?“. Losurdo beruft sich dabei zu Recht auf Marx: „Wenn Marx von der Geschichte als einer Geschichte der Klassenkämpfe sprach, verstand er darunter nicht nur die Streiks und andere alltägliche gesellschaftliche Konflikte, sondern auch und vor allem die großen Krisen und historischen Wenden, die sich vor aller Augen abspielen.“ [5]
Die permanente Erbschaft des Liberalismus
Doch die kritische Sicht auf die Geschichte des Liberalismus darf für Losurdo keineswegs heißen, ihn gänzlich zu verwerfen: „Sich mit der erbaulichen Idylle der üblichen Hagiographie nicht zufrieden zu geben, um sich auf den Boden der Wirklichkeit mit ihren Widersprüchen und ihren Konflikten zu stellen, bedeutet aber keineswegs, die Verdienste und die starken Seiten der Denktradition zu verkennen, die hier Gegenstand der Untersuchung ist. Allerdings ist es nötig, ein für alle Mal Abschied zu nehmen von dem Mythos des schrittweisen und friedlichen, von rein internen Motivationen und Impulsen bestimmten Übergangs vom Liberalismus zur Demokratie beziehungsweise von der Anerkennung des allgemeinen Anspruchs auf negative Freiheit zur Anerkennung politischer Rechte auf zunehmend breiterer Stufenleiter.“ [6] Und einige Seiten später vermerkt der italienische Philosoph und Historiker: „Doch gerade bei dieser geschichtlichen Rekonstruktion, ohne jeden apologetischen und erbaulichen Ton, zeigen sich die wirklichen Verdienste und starken Seiten des Liberalismus. Er hat beständig versucht, auf die Herausforderungen der Zeit zu antworten und sich ihnen anzupassen, und dabei eine außergewöhnliche Flexibilität erwiesen. Gewiss waren diese Wandlungen keineswegs spontan und schmerzlos, kamen zu einem Großteil unter Druck von außen, von politischen und sozialen Bewegungen zustande, mit denen der Liberalismus wiederholt hart zusammenstieß. Aber gerade darin besteht die Flexibilität. Der Liberalismus hat es verstanden, von seinem Antagonisten zu lernen (der Denktradition, die ausgehend vom 'Radikalismus' und über Marx in den Revolutionen mündet, die sich in unterschiedlicher Weise auf ihn berufen haben) – weit mehr, als sein Antagonist es verstanden hat, vom Liberalismus zu lernen.“ [7]
Losurdo nennt insbesondere Errungenschaften der Denktradition des Liberalismus. Zum Einen: „Keine andere hat sich mehr als der Liberalismus damit beschäftigt, das entscheidende Problem der Beschränkung der Macht zu durchdenken.“ [8] Der reale Sozialismus, als sein über mehr als siebzig Jahre währender Antagonist, gab sich hingegen der Illusion hin, in der Diktatur des Proletariats die endgültige Lösung der Organisation der Macht gefunden zu haben. Auch die heutigen sozialistischen Länder, etwa China, Vietnam und Kuba, haben auf diese Fragen keine überzeugenden Antworten gefunden, zumindest noch nicht. Zum Zweiten: „Was die Wirtschaft betrifft: Das liberale Denken hat sich klar distanziert von der faden Utopie einer gesellschaftlichen Harmonie, der jegliches Element von Widerspruch, Konflikt und Spannung wunderbarerweise abgeht, und entschieden darauf bestanden, dass der Wettbewerb zwischen den Individuen auf dem Markt notwendig sei, um den gesellschaftlichen Reichtum und die Produktivkräfte zu entwickeln. Dies ist ein weiteres großes geschichtliches Verdienst, das anerkannt werden muss.“ [9] Losurdo schränkt aber diese Würdigungen jeweils ein, in dem er mit Nachdruck auf die „furchtbaren Ausschlussklauseln“ hinweist, die es früher und heute noch großen Bevölkerungsteilen nicht gestatten von diesen liberalen Errungenschaften zu profitieren.
In seiner Einleitung zu dem 2021 aus dem Nachlass von Domenico Losurdo veröffentlichten Buch „La questione comunista. Storia e futuro di un'idea“ [10] bezeichnete der Losurdo-Schüler Giorgio Grimaldi das Buch „Freiheit als Privileg“ als „einen grundlegenden Text“. Darin zeigt – so Grimaldi – „Losurdo, dass Liberalismus und moderne Sklaverei im Gleichschritt entstanden waren und voranschritten. Aber wie ist das möglich? Der tiefere Grund dafür war, dass der Universalismus dem Liberalismus mehr oder weniger als Fassade diente. Und gleichzeitig – gleichsam als Übergang und entscheidendes theoretisches Ergebnis – arbeitete Losurdo ein Erbe heraus, welches von der marxistischen Tradition kritisch aufgenommen und angeeignet werden musste: Die Unvollständigkeit des bürgerlichen Universalismus brachte nicht das Ende des Universalismus mit sich, der politischen und zivilen Rechte (der 'bürgerlichen' Rechte), und bedeutete auch nicht das selbstherrliche Hinweggehen über die Frage der Macht und ihrer Begrenzung. Im Gegenteil musste für den Marxismus die liberale Unvollständigkeit von ihren Fehlstellen befreit werden: Es war gerade der Marxismus in seinem universalistischen Wesen, der das verwirklichen konnte, was der Liberalismus nur zum Teil vollendet hatte, als er die Subalternen ausgeschlossen hielt. Und in jenem Text hob Losurdo ein anderes Element hervor, das von großer Bedeutung für das Verständnis der Geschichte des Liberalismus und seiner Bewegungsgesetze war, sowie dafür, welche Lehre daraus für den Marxismus zu ziehen sei: Weit entfernt von dem Märchen über den Automatismus, der es dem Liberalismus erlaube, nach und nach seinen Einflussbereich auszudehnen, hat dieser stattdessen von den kommunistischen und sozialistischen Bewegungen eine Erweiterung seiner universalistischen Ausstrahlung erfahren, die er sich in solchem Maße angeeignet hat, dass er dabei seine Gestalt verändert hat.“ [11]
[1] Elif Özmen, Was ist Liberalismus, Berlin 2023, S. 14
[2] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, Köln 2010, S. 440 Hagiographie bezeichnet die verherrlichende mittelalterliche Beschreibung von Heiligen–, Mönchs– und Asketenleben.
[3] Domenico Losurdo, Fortschritt, Emanzipation und „Ernst des Negativen“. Zur Rehabilitierung einer heute verrufenen Idee, in: Das Argument 230, a.a.O., S. 239
[4] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 125
[5] Domenico Losurdo, Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten? a.a.O., S. 400
[6] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 435
[7] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 438 f.
[8] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 439
[9] Ebenda
[10] Auf Deutsch erschien es 2024 unter dem Titel „Der Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft“.
[11] Giorgio Grimaldi, „Den Marxismus erneut zur Debatte stellen – die postkapitalistische Gesellschaft planen“, in: Domenico Losurdo, Der Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft, Köln 2024, S. 18 f.