Hegel – weder konservativ noch liberal
von Andreas Wehr
Mit der Hegelschen Sicht auf den Staat und auf die konservative bzw. liberale Staatsdiskussion im Allgemeinen setzte sich Losurdo vor allem in seinem Buch „Hegel und die Freiheit der Modernen“ [1] auseinander. Das Buch erschien 1992 auf Italienisch unter dem Titel „Hegel e la libertà dei moderni“ und zählz damit zu Losurdos frühen Büchern. Im Jahr 2000 kam es auf Deutsch heraus. Es gehört zusammen mit den Werken „Hegel und das deutsche Erbe“ (auf Deutsch erschienen 1989) sowie zwischen Hegel und Bismarck (auf Deutsch 1983 veröffentlicht) zu den Büchern Losurdos, die seinen internationalen Ruf als Hegel-Forscher begründeten. Es ist das Hegelsche Werk „Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse“ [2], allgemein kurz als „Rechtsphilosophie“ bezeichnet, auf das Losurdo in „Hegel und die Freiheit der Modernen“ im Besonderen eingeht. Berücksichtigt werden von ihm darin auch die verschiedenen Mitschriften der Rechtsphilosophie-Vorlesungen Hegels.
Losurdo zitiert den italienischen Philosophen und Publizisten Norberto Bobbio [3], der Hegel in einer Art und Weise verurteilt, wie es zuvor bereits unzählige Male liberale Autoren taten: „῾Hegel ist kein Reaktionär, aber er ist auch kein Liberaler, wenn er seine Rechtsphilosophie schreibt: er ist ganz einfach ein Konservativer, weil er den Staat höher als das Individuum, die Autorität höher als die Freiheit, die Allmacht des Gesetzes höher als die Unwiderstehlichkeit der subjektiven Rechte, den Zusammenhalt des Ganzen höher als die Unabhängigkeit der einzelnen Teile, den Gehorsam höher als den Widerstand, weil er die Spitze der Pyramide (den Monarchen) höher als die Basis (das Volk) schätzt.῾“ [4]
Das war auch leider die Sicht vieler sowjetischer Philosophen auf Hegel. In dem vom Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR vorgelegten Werk „Marxistische Staats- und Rechtstheorie“ [5] heißt es über den deutschen Philosophen: „Das idealistische philosophische System, das von Hegel geschaffen und seinen Nachfolgern unter den Bedingungen der preußischen Großgrundbesitzermonarchie übernommen worden war, förderte die Verbreitung antidemokratischer Ansichten über den Staat, den blinden Gehorsam ihm gegenüber.“ Allein die dialektische Methode erschien den sowjetischen Philosophen brauchbar: „Gleichzeitig war die Dialektik Hegels, von der idealistischen Hülle befreit, eine objektive Quelle der revolutionären Anschauungen über den Staat.“ [6]
Zu diesem Hegelbild als ein Konservativer passt allerdings nicht, dass „keine Revolution in der Geschichte der Menschheit, die von diesem Philosophen, der im Ruf steht, ein unverbesserlicher Mann der Ordnung zu sein, nicht unterstützt und gefeiert worden wäre.“ [7] Das betrifft nicht nur die Julirevolution, die aus Frankreich ein „protestantisches“, d. h. politisch modernes Land gemacht habe, sondern auch jene revolutionäre Welle, die nach der Restauration auftritt, und die, von Lateinamerika ausgehend, das vom Unabhängigkeitskampf der spanischen Kolonien erschüttert wird, Europa erreicht hatte und dort das politische System der Heiligen Allianz auf eine harte Probe stellt. Die Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte registrieren positiv die neuen Bestrebungen zur Bildung selbständiger Staaten. Hegel selbst verfolgte mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit die antikolonialen Befreiungskämpfe seiner Zeit, insbesondere in Lateinamerika, wo sie in fortschrittliche bürgerliche Revolutionen hinüberwuchsen.
Doch noch immer heißt es heute: Hegel war ein Staatsverherrlicher, genau genommen ein Verherrlicher des preußischen Staates, dessen Beamter er doch war! [8] In Hegels Absage an die Liberalität wird „der angebliche Beweis (gesehen), dass er Befürworter des totalitären Staats war, und zwar des linken wie des rechten gleichermaßen. Ohne Hegel also kein Stalin und kein Hitler?“ [9] 1974 erschien das Buch „Von Hegel zu Hitler“ des Autors Hubert Kiesewetter, in dem genau diese Kontinuitätslinie behauptet wurde. [10] Und „Karl Popper meinte – stellvertretend für eine breite Strömung angelsächsischer Philosophie - dass Hegel und sein verhängnisvolles Erbe die Verankerung Deutschlands nicht in der westlichen, sondern in der östlichen Kulturhemisphäre belege.“ [11]
Wie antwortete nun Losurdo auf den Vorwurf Bobbios und all der anderen Kritiker Hegels, der im Kern auch jener der sowjetischen Autoren ist? Er fragt: „Lag Hegel die Freiheit weniger am Herzen als seinen mehr oder weniger liberalen Kritikern oder Antagonisten?“ [12] Anschließend geht er dieser Frage anhand der Entstehung und Entwicklung der Schulpflicht nach. Sie war lange Zeit keineswegs so unumstritten wie heute – es galt vielmehr der uneingeschränkte Vorrang der elterlichen Gewalt über die Kinder. Selbst der Aufklärer Kant ging noch von der totalen Rechtlosigkeit der Kinder aus: „Kant, der der liberalen Tradition näher steht als Hegel, geht so weit, ein ῾Recht der Eltern an den Kindern, als einem Stück ihres Hauses῾ aufzustellen, ein Recht der Eltern, ihre entlaufenen Kinder ῾als Sachen῾ oder wie ῾verlaufene Haustiere῾ wieder einzufangen.“ [13]
Die Frage der Schulpflicht war am Anfang des 19. Jahrhunderts alles andere als eine akademische Angelegenheit. Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise erhielt sie eine hochaktuelle Bedeutung, schränkte sie doch die Möglichkeit der Kinderarbeit in Bergwerken und Fabriken ein. Sie diente daher, neben der Vermittlung von Bildung, auch dem Schutz der Gesundheit der Kinder. Man lese zu den verheerenden Folgen der seinerzeit weitverbreiteten Kinderarbeit nur die erschütternden Darstellungen bei Friedrich Engels in seinem Frühwerk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. [14] Gegen eine Einschränkung der Kinderarbeit durch die Einführung der Schulpflicht polemisierten nun die Kapitalisten und die liberalen Theoretiker. Doch diese Schulpflicht konnte nur mit Hilfe staatlicher Maßnahmen durchgesetzt werden: „Die konkrete Anerkennung dieser Rechte erfordert jedoch das öffentliche Eingreifen oder die öffentliche Kontrolle. Wegen seines Einsatzes für die Einführung der Schulpflicht und für das Verbot oder die Einschränkung der Kinderarbeit kann Hegel als nicht-liberal betrachtet werden, aber im Gegensatz zu dem, was Bobbio behauptet, kann nicht-liberal nicht als synonym für konservativ aufgefasst werden.“ [15]
Hegel und die Herausbildung des Sozialstaats
Bereits 1983 schrieb Domenico Losurdo in seinem Buch „Tra Hegel e Bismarck. La rivoluzione del 1848 e la crisi delle cultura tedesco“ (auf Deutsch erschien es 1993 unter dem Titel „Zwischen Hegel und Bismarck. Die achtundvierziger Revolution und die Krise der deutschen Kultur“): „Vor allem in ihren Anfängen verlegt sich die Bourgeoisie auf die Verherrlichung des Individuums, das als Ursache des eigenen Schicksals, als einzige wahre Verantwortliche für das eigene Glück und Unglück angesehen wird. Das deshalb, um sowohl den Organisationsprozess der im Entstehen begriffenen Arbeiterbewegung zu verhindern als auch jede Hypothese der staatlichen Regulierung der Wirtschaft zurückzuweisen. Unschwer kann man bei Hegel eine Haltung entdecken, die die Kritik an dieser Ideologie vorwegnimmt. Er hebt immer bei der Analyse der Produktionsverhältnisse und der modernen bürgerlichen Gesellschaft die Abhängigkeit des Einzelnen von objektiven wirtschaftlich-sozialen Mechanismen hervor. In der oft von der bürgerlichen Ideologie als Zusammenarbeit freier und gleicher Individuen gepriesenen Arbeitsteilung erblickt Hegel das Moment der 'unbedingten Abhängigkeit von dem gesellschaftlichen Zusammenhange'“ [16]
Losurdo fordert daher mit Hegel dazu auf, das Verhältnis von Freiheit und Autorität, von Individuum und Staat nicht alleine nur als ein vertikales, sondern auch als ein horizontales Verhältnis zu sehen: In Betracht gezogen werden dürfen „nicht nur die Beziehungen zwischen Individuum und Staat, sondern auch die zwischen Individuum und Individuum.“ [17] Die Durchsetzung der Schulpflicht ist dafür ein gutes Beispiel, denn auch die Verhältnisse in der großen Industrie werden häufig, analog dem Familienverhältnis, ideologisch als ein privates zwischen Individuen, etwa zwischen dem Oberhaupt (dem Kapitalisten) und Kindern (den Arbeitern) dargestellt. Selbst internationale Beziehungen von Staaten wurden und werden im Kolonialismus bzw. im Imperialismus als Verhältnisse zwischen Mutterländern und von ihnen abhängigen Staaten (Kindern) angesehen.
Solche Regelungen von Beziehungen unter Individuum durch staatlich gesetzte Normen erfassen in der Moderne weite gesellschaftliche Bereiche. Zu nennen sind hier die mit Hilfe von Gesetzen beschränkte Arbeitszeit, der Erlass von Arbeitsschutzvorschriften oder Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter. Immer wird mit staatlichen Regelungen in das Verhältnis zwischen einzelnen Individuen eingegriffen. Und immer wird dabei die Freiheit bestimmter Einzelner eingeschränkt – sehr oft geschieht dies auf Kosten der so genannten unternehmerischen Freiheit. Ziel ist es dabei, die Rechte anderer Einzelner, etwa eigentumsloser bzw. diskriminierter Individuen zu sichern bzw. überhaupt erst herzustellen. Ganz andere Ziele hat der Liberalismus. Losurdo zitiert hierzu Lassalle: „Der Liberalismus will die Rechte, die er will (…) nie für das Individuum, sondern immer nur für das in besonderer Lage befindliche, so und so viel Steuern zahlende, mit Kapital ausgerüstete usw. Individuum.“ [18]
Wegen ihrer Forderungen nach gesetzlichen Maßnahmen werden Sozialisten, nicht erst seit Marx sondern bereits seit Rousseau, der Freiheitsberaubung angeklagt. Bertolt Brecht sagt aber über diese „Beraubung von Freiheiten“ in den „Flüchtlingsgesprächen“ unter der Überschrift „Über die Unfreiheit unter dem Kommunismus“: „Im Kommunismus (…) ist es verboten, sich ausbeuten zu lassen, diese Freiheit ist schon gestrichen.“ [19]
Es ist diese Sicht auf das Verhältnis von Individuum und Autorität, genauer von Individuum und Staat, die zur Herausbildung des Sozial- bzw. des Wohlfahrtsstaats in den entwickelten kapitalistischen Ländern führte. Der Staat wurde dabei zum Garanten für die Herstellung sozialer Sicherheit und Chancengleichheit, indem er mittels Gesetze in private Beziehungen eingreift. Losurdo schreibt über dieses Verhältnis zwischen Staat und Individuum: „Wird die Armut als soziale Frage verstanden, so führt dies einerseits zur Forderung eines entschiedenen öffentlichen Eingreifens für ihre Abschaffung, ohne vor dem Eigentumsrecht haltzumachen, andererseits zur Brandmarkung der Unterwürfigkeit der Staatsgewalt dem Eigentum gegenüber. Dies gilt – natürlich auf unterschiedliche Weise – sowohl für Rousseau als auch für Hegel (und für Marx)." [20]
Hegel als Verteidiger der Menschenrechte
Hegel verteidigte vehement die Idee der Menschenrechte: „Hegels allgemeiner Menschenbegriff enthielt konkrete unveräußerliche und unverjährbare Rechte, die sich vom Inhalt des (…) allgemeinen Menschenbegriffs der Liberalen fundamental unterscheiden. Für Hegel ist das wichtigste aller Rechte das Recht auf Leben, das er höher stellte als die aus dem Eigentum entspringenden Rechte. Die Beschränkung des allgemeinen Menschenbegriffs der Liberalen zeigt sich darin, dass das Recht auf Leben als nachhaltiges Recht des Einzelnen nur als Recht des Kindes in Bezug zu seinen Eltern formuliert wird. Hegel definierte jedoch einen Anspruch des Einzelnen nicht nur seiner Familie gegenüber, sondern ausdrücklich auch gegenüber der Gesellschaft.“ [21]
Und so erweist sich die verbreitete Sicht, Hegel sei ein Konservativer als nicht haltbar. Er ist in Wahrheit nicht – wie so oft behauptet wird – derjenige, der die Interessen des Individuums einer anonymen Staatsmacht opfert. Es verhält sich genau umgekehrt: Hegel setzt das Individuum erst in sein Recht ein, indem er es mit Hilfe staatlicher Eingriffe schützt und fördert: „Wie man sieht, ist es Hegel, der hier auf der Zentralität des Individuums in Polemik gegen die liberale Tradition besteht. Um dieses Paradox zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das Individuum, von dem die liberale Tradition ausgeht, Eigentümer ist, der gegen die Einmischung der Staatsgewalt in seine unverletzbare Privatsphäre protestiert, während in Hegels Vorlesung das Individuum der Plebejer oder der potentielle Plebejer ist, der das Eingreifen der Staatsgewalt in die ökonomische Sphäre fordert, damit sie ihm seinen Lebensunterhalt gewährleiste. In einem Fall wird die bürgerliche oder adelig-bürgerliche, im anderen Fall die plebejische oder potentiell plebejische Pekuliarität verteidigt; das abstrakte Allgemeine, das zur Zielscheibe wird, ist in dem einen Fall der Staat, die Staatsgewalt, die zum Instrument der nichtbesitzenden Klassen werden könnte und im anderen Fall sind es die Marktgesetze, die die bestehenden Besitzverhältnisse anerkennen“. [22] Und so wird nun auch der Ansatzpunkt des Denkens von Hegel verständlich: Er ist „ausdrücklich (…) bei der Ausarbeitung seines Systems von der ῾Freiheit der Individuen' ausgegangen.“ [23]
Der liberale „minimal state“
Nun setzen durchaus auch liberale Philosophen auf den Staat. Sie schätzen ihn aber nur als „minimal state“ und hier vor allem seine repressive Seite. Losurdo sagt hierzu: „(…) die Repression, die diese Liberalen gegen Arbeitslose und Bettler fordern, (wird) nicht im Widerspruch zu den von ihnen hervorgehobenen Grenzen des Aktionsfeldes des Staates empfunden.“ Für sie ist es vielmehr so, dass „jedes Individuum die ausschließliche Verantwortung für sein Schicksal trägt.“ [24]
Losurdo kommt schließlich auf einen immer noch sehr präsenten Liberalen, genauer gesagt Neoliberalen, zu sprechen: „Noch offensichtlicher wird die Angelegenheit bei einem Wirtschaftsliberalen wie Hajek. Die einzige Funktion der politischen Institutionen sei die, ῾die Ordnung und das Gesetz aufrechtzuerhalten῾; es sei absurd, von ῾sozialer Gerechtigkeit ῾zu sprechen (d.h. bestimmte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse für ungerecht zu halten), während dagegen ῾die von den Gerichten verwaltete Justiz extrem wichtig ist῾. Und die Justiz ist nichts anderes als die Verteidigung des Eigentums (…).“ [25]
Nach Losurdo sind daher „minimal state und schwacher Staat nicht synonym.“ [26] Ein „minimal state“ kann durchaus ein starker Staat in Gestalt eines Repressionsstaates sein. Man denke hier nur an die USA, in denen klassische wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen wie zum Beispiel eine allgemeine Krankenversicherung fehlen, das repressive staatliche Element hingegen stark entwickelt ist. So werden allein 20 Prozent der weltweit gezählten Häftlinge in den USA gefangen gehalten! Losurdo kommt zu dem Schluss: „(…) gerade weil die theoretische Tradition des „minimal state“ den Aspekt der politischen Gemeinschaft, der Gemeinschaft der citoyens negiert, verabsolutiert sie schließlich im Staat das Instrument der Repression, der organisierten Gewalt zur Beibehaltung der bestehenden Besitzverhältnisse (…)“. [27] Für Hegel aber „ist der Staat also als Solidar- bzw. Sozialstaat einzurichten, während die liberale Tradition den Nachtwächterstaat haben wollte und weiterhin will, dessen Funktionen möglichst auf die Herstellung von Funktionen der inneren und äußeren Sicherheit beschränkt werden sollen.“ [28]
Arbeit und „otium“
Im liberalen Denken tritt neben die behauptete rassische Überlegenheit der Herrschenden jener Hochmut, der sich auf das Recht des otium beruft. Otium ist ein lateinischer Begriff für Muße, Freizeit, Ruhe und Frieden, der im Gegensatz zum geschäftigen negotium (Geschäft, Arbeit) steht. Der liberale Denker „Constant spricht den Nicht-Eigentümern die politischen Rechte ab, weil ihnen 'die zur Aneignung der Kultur und eines richtigen Urteils unerlässliche Muße (loisir) fehle.'“ [29] Und für den späten Schelling steht fest, dass „'die erste vom Staat zu erfüllende Forderung die (ist), dass den Besten Muße gegönnt sei.'“ [30] Nach Losurdo ist „der Grenzverlauf zwischen Herrschern und Beherrschten (…) der gleiche wie der zwischen Nutznießern des otium und den anderen, die zu einem Leben der Mühsal und Entbehrungen gezwungen sind. Für Nietzsche ist das otium eine so entscheidende Bedingung für die Aneignung der Kultur und ganz allgemein für die Existenz einer Kultur, dass er keine Bedenken hegt, die Sklaverei für diejenigen zu behaupten, die sich mit der materiellen Produktion der Güter beschäftigen müssen.“ [31] Und in seinem Buch „Nietzsche der aristokratische Rebell“ schreibt Losurdo: „Auch hinsichtlich der Verherrlichung der Muße (der Kehrseite der Verachtung, die dem sklavischen Fluch der Arbeit zukommt), sehen wir nicht nur das klassische Altertum nachwirken, auf das Nietzsche sich explizit beruft, sondern auch die liberale Tradition.“ [32]
Ganz im Gegensatz dazu Hegel: „Diese Rühmung des otium als unverzichtbare Voraussetzung für die Freiheit ist ein Motiv, das bei Hegel dagegen völlig fehlt. Losurdo stellt heraus, dass für den großen deutschen Philosophen „Reichtum und Besitz keineswegs gleichbedeutend mit bürgerlicher Rechtschaffenheit und politischer Reife (ist), wie in der liberalen Tradition.“ [33] Er gehe sogar noch weiter: „Nur Hegel hebt die Überlegenheit der Arbeit des Knechts auf produktivem und auch auf kulturellem Gebiet gegenüber der sterilen Muße des Herrn hervor. (…) Die liberale Tradition erfasst sehr wohl den entfremdenden Aspekt der Lohnarbeit, nicht aber den formativen und emanzipierenden Aspekt der produktiven Arbeit, der hingegen Hegel (und Marx) nicht entgeht.“ [34]
So wenig wie Hegel daher als Konservativer betrachtet werden kann, so ist er auch kein Liberaler. Sein Denken begründet vielmehr eine von diesen beiden Strömungen neue, unabhängige, dritte Richtung, aus der sich unter Marx und Engels die sozialistische Weltanschauung entwickeln sollte. Im 19. Jahrhundert wurde seine im eigentlichen Kern revolutionäre Lehre auch noch so verstanden: Es war üblich, die Bezeichnungen Hegelianer und Sozialisten synonym zu verwenden.
Die Einheit von Vernünftigem und Wirklichem
Kaum eine Aussage von Hegel ist häufiger missverstanden und dementsprechend verurteilt worden, als die von der Identität von und Vernünftigen und Wirklichem. In unzähligen Schriften wird sie als der Beleg dafür angeführt, dass Hegel in Wirklichkeit nichts als ein konservativer Gelehrter war, dem es in erster Linie um die Rechtfertigung, ja um die Huldigung des autoritären Staates, und hier vor allem um die des preußischen, ging.
Losurdo scheut sich nicht, diese in der Tat komplizierte Denkfigur von der Identität von Vernünftigem und Wirklichem aufzugreifen, sie in ihr geschichtliches Umfeld einzubetten und am Ende zu verteidigen. Tatsächlich hat diese Begrifflichkeit die Revolution von 1848 überhaupt erst möglich gemacht. Losurdo zitiert dafür Alexander Jung aus den Vorlesungen über die moderne Literatur von 1842: „'Nichts schwächt auf die Länge mehr als bloße Unzufriedenheit mit der Erde, mit der Zeit'. Dies ist allerdings nicht nur die Position Jungs, sondern auch die der Junghegelianer und von Marx und Engels. Weit davon entfernt, der Rechtfertigung der Restauration zu dienen, inspiriert die Behauptung der Einheit von Vernünftigem und Wirklichem stark die Oppositionsbewegungen im deutschen Vormärz und ist wesentlicher Bestandteil der ideologischen Vorbereitung des 48er Jahres.“ [35]
Losurdo zeigt, dass auch Marx und Engels sehr wohl dieses Hegelsche Diktum schätzten. Marx machte sich etwa über das „'edelmütige Bewusstsein'“ lustig, das „'statt mit dem Höchsten, mir dem Niedrigsten, nämlich mit sich selbst beschäftigt ist'“. Und Engels sprach von der „'schönen Seele', die unfähig ist, das Wirkliche umzuformen, vor dessen Härte sie sich erschreckt zurückzieht, dafür aber gerne bereit, sich selbst als 'verkannt' und von der Welt nicht verstanden zu bemitleiden.“ [36] Eine Haltung, die auch unter heutigen Linken weit verbreitet ist. Man denke nur an die vielfältige Kritik vor allem westlicher Stimmen an Ländern wie China, Vietnam oder Kuba, die diesen Ländern den sozialistischen Anspruch absprechen, da sie nicht ihren Idealvorvorstellungen von perfekter Demokratie und gesellschaftlicher Harmonie entsprechen.
Marx und Engels waren bekanntlich weit davon entfernt, den sich vor ihren Augen vollziehende Aufschwung des Kapitalismus pauschal zu verurteilen. Sie sahen in der damit verbundenen Entwicklung der Produktivkräfte vielmehr einen ungeheuren Fortschritt der Menschheit. Und so setzten sie in ihrer Revolutionstheorie des dialektischen Materialismus darauf, dass diese Produktivkräfte sich in einem Maße entwickeln, dass sie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eines Tages sprengen werden. Die Moderne wurde also sowohl legitimiert als auch kritisiert. Losurdo konstatiert das „inzwischen erfolgte Zerbrechen des Gleichgewichts zwischen Legitimierung und Kritik der Moderne“ [37], so dass die Behauptung der Einheit von Vernünftigem und Wirklichem heute nicht mehr verstanden wird. Als verantwortlich macht er dafür die historische Erfahrung des Faschismus, in dem keinerlei Platz mehr für „Vernunft“ blieb, aber auch die Entwicklung des Realsozialismus, in dem die „Vernunft“ zu einer blutleeren Ideologie verkam. Den theoretischen Ausdruck für das daraus gefolgerte Verwerfen des Hegelschen Denkens lieferte die Frankfurter Schule unter Max Horkheimer und Theodor Adorno.
[1] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt am Main 2000
[2] G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, des Naturrechts und Staatswissenschaft im Grundrisse, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 7, Frankfurt am Main 1986
[3] Norberto Bobbio bezeichnete sich als liberaler Sozialist. Sein in Deutschland bekanntestes Werk ist die „Zukunft der Demokratie“. Man hat ihn auch den italienischen Karl Popper genannt.
[4] Norberto Bobbio, Studi hegeliani, S. 189-90, hier zitiert nach Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 98
[5] Marxistische Staats- und Rechtstheorie, Band 1 – Grundlegende Institute und Begriffe, Köln 1974, S. 21
[6] Ebenda
[7] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 133
[8] Vgl. dazu Andreas Wehr, Die These vom „Absterben des Staats“. Nation und Staat bei Domenico Losurdo, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung - Z. Nr. 118, Juni 2019, S. 99-109
[9] Sabine Kebir, Menschenrechte und Steuern bei Hegel, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung - Z. Nr. 70, Juni 2007, S. 89
[10] Hubert Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, Hamburg 1974. Die Anregung zu dem Buch stammte von dem österreichischen Historiker Ernst Topitsch, der auch das Vorwort dafür schrieb. Topitsch wurde in den 1980er-Jahren durch seine vielfach widerlegte These bekannt, wonach der deutsche Angriff auf die Sowjetunion ein Präventivschlag Hitlers gegen die Kriegspläne Stalins gewesen sein soll.
[11] Sabine Kebir, Menschenrechte und Steuern bei Hegel, in: Zeitschrift marxistische Erneuerung - Z. Nr. 70, Juni 2007, S. 89
[12] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 101
[13] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 102
[14] Vgl. Friedrich Engels, Zur Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 2 S. 224 ff.
[15] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 102
[16] Domenico Losurdo, Zwischen Hegel und Bismarck. Die achtundvierziger Revolution und die Krise der deutschen Kultur, Berlin 1993, S. 191
[17] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 103
[18] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 166
[19] Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, Frankfurt am Main 1998, S. 99
[20] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 109 f.
[21] Sabine Kebir, Menschenrechte und Steuern bei Hegel, a.a.O., S. 91 f.
[22] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 112
[23] Ebenda
[24] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 104
[25] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 105
[26] Ebenda
[27] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 106
[28] Sabine Kebir, Menschenrechte und Steuern bei Hegel, a.a.O., S. 94
[29] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 180
[30] Ebenda
[31] Ebenda
[32] Domenico Losurdo, Nietzsche der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, zwei Bände, Hamburg 2009, S. 395
[33] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 180 f.
[34] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 181
[35] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 340
[36] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 342
[37] Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, a.a.O., S. 343