Klare Worte in einer verworrenen Lage

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"Griechenland, EU und Euro in der Krise" - Interview des „Schattenblick“am 15. September 2015 in Hamburg-Altona mit Andreas Wehr

An­dre­as Wehr war 15 Jahre lang als wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter im eu­ro­päi­schen Par­la­ment tätig und hat in zahl­rei­chen Pu­bli­ka­tio­nen eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der EU ge­führt. Als Re­fe­rent der Auf­takt­ver­an­stal­tung in der Reihe "Grie­chen­land, EU und Euro in der Krise" des Ham­bur­ger Bünd­nis­ses "Ka­pi­ta­lis­mus in der Krise" [1] sprach er zum Thema "Ist eine an­de­re EU wirk­lich mög­lich?". Im An­schluss an die Ver­an­stal­tung im Büro der Par­tei Die Linke in Ham­burg-Al­to­na be­ant­wor­te­te er dem Schat­ten­blick ei­ni­ge Fra­gen.

Schat­ten­blick (SB): Die Dro­hung, im Falle eines Aus­tritts aus dem Euro oder gar der EU er­war­te die Grie­chen ein noch viel schlim­me­res Schick­sal als bei einem Ver­bleib in der Eu­ro­zo­ne, hängt wie ein Da­mo­kles­schwert über dem Na­cken der Be­völ­ke­rung. Wel­che Fol­gen wären dei­nes Er­ach­tens tat­säch­lich zu er­war­ten, soll­te sich eine grie­chi­sche Re­gie­rung zu einem sol­chen Schritt durch­rin­gen?

An­dre­as Wehr (AW): Aus der Eu­ro­päi­schen Union kann man ja aus­tre­ten, das ist erst­mals im Lis­sa­bon-Ver­trag ge­re­gelt wor­den. Da es hin­sicht­lich des Euros keine Aus­tritts­re­ge­lung gibt, wären daher noch ei­ni­ge ju­ris­ti­sche Fra­gen zu klä­ren. Aber wie man das kennt, wird schon eine Rechts­grund­la­ge ge­fun­den wer­den. Woll­te Grie­chen­land aus dem Euro aus­stei­gen, wäre das je­den­falls mög­lich. Das würde zu­nächst ver­lan­gen, dass man Über­gangs­for­men schafft, wie das auch schon an­ge­dacht wurde. Man könn­te zunächst eine Wäh­rung für den Bin­nen­markt ein­rich­ten, wie es in der Vor­stel­lung des Plans von einer "Drach­me B" zum Aus­druck kommt, und im aus­wär­ti­gen Han­del wei­ter­hin mit dem Euro be­zah­len. Es gibt schon heute Län­der, die fak­tisch zwei Wäh­run­gen haben, wie das bei­spiels­wei­se für Kuba mit dem Peso und dem Dol­lar als Au­ssen­wäh­rung gilt. Das wich­tigs­te ist, dass eine Wäh­rung für den Bin­nen­markt ge­schaf­fen wird, die das reale Pro­duk­ti­vi­täts­ni­veau Grie­chen­lands wi­der­spie­gelt, das ja sehr viel nied­ri­ger als in Deutsch­land und et­li­chen an­de­ren Län­dern der Eu­ro­zo­ne ist. Mit einer sol­chen Bin­nen­wäh­rung lägen die Prei­se in Grie­chen­land deut­lich unter den Eu­ro­prei­sen, und so würde die grie­chi­sche Bin­nen­wirt­schaft erst ein­mal auf die Beine kom­men. Die nächs­ten Schrit­te wären dann die voll­stän­di­ge Her­aus­lö­sung Grie­chen­lands aus dem Eu­ro­sys­tem. Die Drach­me müss­te an­schlie­ßend im Au­ßen­ver­hält­nis ge­gen­über dem Euro er­heb­lich ab­wer­ten. All das ver­langt Ver­hand­lun­gen zwi­schen Athen und der Eu­ro­päi­schen Zen­tral­bank, nötig sind auch er­heb­li­che Re­ka­pi­ta­li­sie­run­gen für den grie­chi­schen Ban­ken­sek­tor, wofür Grie­chen­land fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung von außen be­nö­tigt.

SB: Das Pro­duk­ti­vi­täts­ni­veau in der In­dus­trie wie auch im Agrar­sek­tor liegt in Grie­chen­land unter dem West­eu­ro­pas. Wäre es vor­stell­bar, dass Grie­chen­land nicht die Ent­wick­lung nach­voll­zieht, die füh­ren­de In­dus­trie­na­tio­nen wie Deutsch­land vor­füh­ren und vor­schrei­ben, son­dern eine an­de­re Form der Öko­no­mie ent­wi­ckelt?

AW: Das ist schwer zu sagen. Grie­chen­land ist tra­di­tio­nell höher ent­wi­ckelt als Län­der wie Por­tu­gal und na­tür­lich auch als die ost­eu­ro­päi­schen EU-Staa­ten. Grie­chen­land hat auch heute noch eine gut or­ga­ni­sier­te und mit einem hohen For­schungs­vo­lu­men ar­bei­ten­de phar­ma­zeu­ti­sche In­dus­trie, was kaum je­mand weiß. Und da gibt es vor allem die viel­zi­tier­ten Ree­der: Grie­chen­land hat eine sehr pro­duk­ti­ve Han­dels­flot­te, die größ­te und mo­derns­te der Welt. Dies wird kaum in Rech­nung ge­stellt, was ich für einen gro­ßen Feh­ler halte. Würde man deren Wirt­schafts­leis­tung näm­lich hin­zu­rech­nen, fiele das grie­chi­sche Brut­to­in­lands­pro­dukt sehr viel höher aus. Es sind ja hoch­wer­ti­ge Dienst­leis­tun­gen, die von den Stand­or­ten Athen und Pi­rä­us aus durch die Ree­de­rei­en auf allen Welt­mee­ren er­bracht, aber ge­gen­wär­tig nicht ein­ge­rech­net wer­den. Man darf Grie­chen­land daher nicht als ein un­ter­ent­wi­ckel­tes Land an­se­hen. Ich denke daher, dass Grie­chen­land ein gro­ßes Wirt­schafts­po­ten­ti­al hat und nicht nur Land­wirt­schaft be­treibt, die Oli­ven und Schafs­kä­se pro­du­ziert. Üb­ri­gens: Würde man die Ree­de­rei­en tat­säch­lich be­steu­ern - und nicht al­lein pau­schal nach Schiffs­ton­na­ge -, sähe der grie­chi­sche Staats­haus­halt auf der Ein­nah­men­sei­te an­ders aus.

SB: Unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen wären Bünd­nis­se zwi­schen Grie­chen­land und an­de­ren süd­eu­ro­päi­schen Staa­ten zu­guns­ten einer ge­gen­sei­ti­gen Un­ter­stüt­zung und ei­gen­stän­di­gen Ent­wick­lung der Pe­ri­phe­rie denk­bar?

AW: Als Sy­ri­za im Ja­nu­ar an die Re­gie­rung kam, gab es dort Über­le­gun­gen in Rich­tung einer Süd­ko­ope­ra­ti­on mit Ita­li­en, Spa­ni­en und Por­tu­gal. Das ist aber ge­schei­tert, weil diese Staa­ten kein In­ter­es­se daran hat­ten, mit Athen zu­sam­men­zu­ar­bei­ten. Ita­li­en hat viel­mehr ein gro­ßes In­ter­es­se daran, Re­form­po­li­tik nach deut­schem Vor­bild, also vor allem eine Ar­beits­markt­re­form, um­zu­set­zen. Und was Por­tu­gal und Spa­ni­en an­geht, so haben die kon­ser­va­ti­ven Re­gie­run­gen die­ser Län­der im Herbst und Win­ter in Wah­len zu be­ste­hen, in denen es für sie vor allem darum gehen wird, einen Er­folg lin­ker Par­tei­en zu ver­hin­dern. All diese Re­gie­run­gen waren daher zu kei­ner­lei Kom­pro­mis­sen mit der neuen grie­chi­schen Re­gie­rung be­reit, geht es ihnen doch um die Be­kämp­fung der ei­ge­nen lin­ken Op­po­si­ti­on, in Por­tu­gal der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei und des Bloco de Es­quer­da und in Spa­ni­en von Po­de­mos und der Iz­quier­da Unida. Dies kann sich än­dern, soll­te die Linke in Spa­ni­en und Por­tu­gal stär­ker wer­den oder gar in Ge­stalt von Links­re­gie­run­gen an die Macht kom­men.

SB: Im Jahr 2008 kam es in Grie­chen­land zu einer rasch er­star­ken­den Schü­ler- und Stu­den­ten­be­we­gung und ab 2010/11 auch zu einer all­ge­mei­nen Mas­sen­be­we­gung, von der of­fen­bar auch die tra­di­tio­nel­len lin­ken Par­tei­en und Or­ga­ni­sa­tio­nen über­rascht wur­den. Die Ver­samm­lun­gen, Kund­ge­bun­gen und Be­set­zun­gen waren viel­fach von einer ge­ne­rel­len Ab­leh­nung der Par­tei­po­li­tik ge­prägt. Sy­ri­za hat diese Be­we­gung zu­min­dest in Tei­len auf­ge­grif­fen und in ihre par­la­men­ta­ri­sche Ar­beit in­te­griert. Wie siehst du das Ver­hält­nis zwi­schen die­sen Ba­sis­be­we­gun­gen und Sy­ri­za, zumal an­ge­sichts des Schei­terns der Re­gie­rungs­po­li­tik?

AW: Wie man bei den Em­pör­ten in Spa­ni­en, bei Oc­cu­py Wall Street in den USA und bei ähn­li­chen Be­we­gun­gen immer wie­der be­ob­ach­ten kann, ge­win­nen diese sehr rasch enor­me Po­pu­la­ri­tät, doch war es stets sehr schwer, sie über län­ge­re Zeit auf­recht­zu­er­hal­ten. Dann sind na­tür­lich po­li­ti­sche Par­tei­en ge­for­dert und auch not­wen­dig, um sol­che Be­we­gun­gen auf­zu­fan­gen und zu sta­bi­li­sie­ren - sie nicht nur zu par­la­men­ta­ri­sie­ren, son­dern ihnen Struk­tu­ren zu geben, damit sie über­le­ben kön­nen. In die­ser Hin­sicht kann man Sy­ri­za kei­nen Vor­wurf ma­chen, zumal sie eine Or­ga­ni­sa­ti­on ist, in der ganz ver­schie­de­ne Rich­tun­gen ge­bün­delt sind, von mao­is­ti­schen bis hin zu so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen. Diese Ein­heit konn­te aber nicht be­wahrt wer­den, der­zeit bricht die­ser Zu­sam­men­schluss wie­der aus­ein­an­der, der linke Flü­gel hat die Par­tei in­zwi­schen ver­las­sen.

SB: Heute abend ist des öf­te­ren der Be­griff "Ar­bei­ter­klas­se" ge­fal­len. Gibt es in Grie­chen­land eine Ar­bei­ter­klas­se und wer würde aus dei­ner Sicht da­zu­ge­hö­ren?

AW: In Grie­chen­land exis­tiert noch ein sehr star­kes Be­wusst­sein von einer Ar­bei­ter­klas­se. Es gibt ja etwa die kom­mu­nis­ti­sche Ge­werk­schaft PAME, die sehr viel grö­ßer ist als die kom­mu­nis­ti­sche Par­tei selbst, und unter deren Füh­rung sehr harte Ar­beits­kämp­fe aus­ge­tra­gen wer­den. In­so­fern wird der Wi­der­stand gegen die Aus­te­ri­täts­po­li­tik und Ent­rech­tung durch Brüs­sel und Ber­lin von der Ar­bei­ter­klas­se ge­führt.

SB: An­ge­sichts der dra­ma­ti­schen Ver­schlech­te­rung der Le­bens­ver­hält­nis­se bil­de­ten sich zahl­rei­che For­men ge­gen­sei­ti­ger Un­ter­stüt­zung un­ab­hän­gig von staat­li­chen und kom­mer­zi­el­len Struk­tu­ren her­aus. Han­delt es sich dei­nes Er­ach­tens dabei um Stra­te­gi­en zur Be­wäl­ti­gung einer Not­la­ge, die nicht über diese hin­aus­wei­sen, oder könn­ten dar­aus auch Po­ten­tia­le er­wach­sen, die Ge­sell­schaft von der Basis her an­ders zu or­ga­ni­sie­ren?

AW: Ohne das so­zia­le En­ga­ge­ment und die Leis­tung von PAME, der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, von Sy­ri­za-Mit­glie­dern, au­ßer­par­la­men­ta­ri­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen und vie­len an­de­ren kön­nen Teile der Be­völ­ke­rung schlicht­weg nicht über­le­ben. Alle Leute, mit denen ich dar­über ge­spro­chen habe, be­zeich­ne­ten diese un­mit­tel­ba­re Hilfe als ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit, her­vor­ge­ru­fen durch die Aus­te­ri­täts­po­li­tik der EU und das Ver­sa­gen des Staa­tes, der So­zi­al­leis­tun­gen dras­tisch ge­kürzt oder ganz ge­stri­chen hätte. Die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on wird aber fast immer nur als Hilfs­mit­tel zur Über­brü­ckung kon­kre­ter Not­si­tua­tio­nen an­ge­se­hen, aber nicht als eine Lö­sung auf Dauer. Diese Leis­tun­gen müs­sen na­tür­lich wie­der so schnell wie mög­lich durch ein funk­tio­nie­ren­des Ge­sund­heits- und So­zi­al­sys­tem ab­ge­deckt wer­den.

SB: Grie­chen­land wurde unter mas­si­vem Druck sei­ner Sou­ve­rä­ni­tät be­raubt. Sein Zu­stand wird heute wahl­wei­se als Post­de­mo­kra­tie, Pro­tek­to­rat oder Ko­lo­nie be­zeich­net. Wür­dest du sol­che Be­grif­fe gleich­ran­gig ver­wen­den, um die­ses Zwangs­ver­hält­nis zu cha­rak­te­ri­sie­ren?

AW: Das sind Be­grif­fe, die durch­aus auch in deut­schen bür­ger­li­chen Zei­tun­gen und von Kon­ser­va­ti­ven be­nutzt wer­den, weil das ein­fach Fakt ist. Nimmt man al­lein die Ver­ein­ba­rung vom 13. Juli, die der grie­chi­schen Sy­ri­za-Re­gie­rung auf­ge­herrscht wurde, so geht diese bis in kleins­te De­tails. Vor­ge­schrie­ben wer­den etwa La­den­öff­nungs­zei­ten am Sonn­tag, die Or­ga­ni­sa­ti­ons­form frei­er Be­ru­fe, das Ren­ten­recht, kon­kre­te Pri­va­ti­sie­rungs­pro­jek­te und der­glei­chen mehr. Es han­delt sich um tiefe Ein­grif­fe in Be­rei­che klas­sisch staat­li­cher Tä­tig­keit. Dabei wird offen aus­ge­spro­chen, dass all diese Maß­nah­men dazu die­nen sol­len, den grie­chi­schen Staat und die Ge­sell­schaft grund­le­gend um­zu­bau­en. In der von Al­exis Tsi­pras un­ter­schrie­be­nen Ver­ein­ba­rung mit den Gläu­bi­ger­staa­ten fin­det sich fol­gen­der Satz: "Die Re­gie­rung muss die In­sti­tu­tio­nen zu sämt­li­chen Ge­setz­ent­wür­fen in re­le­van­ten Be­rei­chen mit an­ge­mes­se­nem Vor­lauf kon­sul­tie­ren und sich mit ihnen ab­stim­men, ehe eine öf­fent­li­che Kon­sul­ta­ti­on durch­ge­führt wird." Das heißt nichts an­de­res: Das grie­chi­sche Par­la­ment hat die Hand­lungs­fä­hig­keit in ent­schei­den­den Fra­gen ver­lo­ren und muss das nach­voll­zie­hen, was in Brüs­sel for­mu­liert wird. Das ist ein klas­si­sches Pro­tek­to­rat.

SB: Grie­chen­land steht seit dem Bür­ger­krieg und dem Obris­ten­re­gime bis heute unter enger Kon­trol­le der west­li­chen Mäch­te, die seine in­ne­re Ent­wick­lung mit Ar­gus­au­gen ver­fol­gen. Wie schätzt du die Ge­fahr einer neuen Junta oder mi­li­tä­ri­scher In­ter­ven­ti­on ein, soll­te das Land einen ei­gen­stän­di­gen Weg ein­schla­gen?

AW: Als die Sy­ri­za-Re­gie­rung Ge­sprä­che in Mos­kau führ­te, wurde so­fort kri­tisch an­ge­merkt, dass ihr die­ser Hand­lungs­spiel­raum nicht zu­ste­he. Am Ende ist bei die­sen Ge­sprä­chen nichts her­aus­ge­kom­men, da die be­trächt­li­chen fi­nan­zi­el­len Hil­fen Russ­lands, von denen in den Me­di­en wie­der­holt die Rede war, gar nicht zur De­bat­te stan­den und le­dig­lich über eine Pipe­line-Ver­le­gung sowie ein paar an­de­re Dinge ge­spro­chen wurde. Was sich dabei je­doch zeig­te, ist der enge Zu­sam­men­hang der Ent­wick­lung Grie­chen­lands in­ner­halb der EU hin zu einem ab­hän­gi­gen Ge­biet und die zu­neh­men­de Kon­trol­le sei­ner Au­ßen- und Si­cher­heits­po­li­tik. Man ver­folgt sehr genau, wohin sich die­ses Land be­wegt, denn es be­sitzt eine wich­ti­ge stra­te­gi­sche Stel­lung im öst­li­chen Mit­tel­meer, und auf sei­nem Ter­ri­to­ri­um be­fin­den sich zahl­rei­che Mi­li­tär­stützpunk­te der NATO. Als sich die Krise zu­spitz­te, fehl­te es daher nicht an mah­nen­den Wor­ten aus Wa­shing­ton an die eu­ro­päi­schen Staa­ten, es mit dem Grie­chen­land­ba­shing nicht zu arg zu trei­ben, da das Land für die stra­te­gi­schen Fä­hig­kei­ten der NATO au­ßer­or­dent­lich wich­tig ist.

SB: Mit dem Druck, der auf Sy­ri­za aus­ge­übt wurde, kor­re­spon­dier­te eine Kurs­kor­rek­tur der Par­tei­füh­rung, die mit ihren Wahl­ver­spre­chen brach und den lin­ken Flü­gel aus­he­bel­te. Was hätte diese Re­gie­rung aus dei­ner Sicht an­ders ma­chen müs­sen?

AW: Das Re­fe­ren­dum vom 5. Juli führ­te zu einem über­zeu­gen­den Nein von mehr als 60 Pro­zent der grie­chi­schen Be­völ­ke­rung, eine Ab­leh­nung, die in die­ser Höhe nie­mand er­war­ten konn­te. Es war ein Nein in allen Wahl­krei­sen Grie­chen­lands, selbst in den tra­di­tio­nel­len Hoch­bur­gen der Kon­ser­va­ti­ven. Ich habe bis heute noch keine über­zeu­gen­de Ant­wort auf die Frage ge­fun­den, warum die Sy­ri­za-Re­gie­rung den Aus­gang des Re­fe­ren­dums nicht zum An­lass dafür ge­nom­men hat, um zu sagen: "Wir haben das klare Man­dat der Be­völ­ke­rung und wir wer­den daher über kein wei­te­res Me­mo­ran­dum mehr mit euch ver­han­deln, wir sind eher be­reit, die­ses Nein aus­zu­deh­nen auf ein Nein auch zum Euro." Das hätte ei­gent­lich an­ge­stan­den. Nun ist aber be­kannt, dass die grie­chi­sche Be­völ­ke­rung mehr­heit­lich nicht für einen Eu­ro­aus­tritt ist. Es gibt also die­ses wi­der­sprüch­li­che Bild, dass 60 Pro­zent die Aus­te­ri­täts­kon­zep­te der Eu­ro­päi­schen Union ab­leh­nen, aber zu­gleich eben­falls 60 oder sogar 70 Pro­zent wei­ter in der Eu­ro­zo­ne blei­ben wol­len. Wenn­gleich ich Tsi­pras und der Par­tei Sy­ri­za als Gan­zes glau­be, dass sie den Aus­te­ri­täts­kurs und damit die Me­mo­ran­den ab­leh­nen, hät­ten sie doch als po­li­ti­sche Füh­rung in einer aufklä­re­ri­schen Ak­ti­on die Zu­sam­men­hän­ge zwi­schen der Mit­glied­schaft in der Eu­ro­zo­ne und der damit ver­bun­de­nen Last des Me­mo­ran­dums her­stel­len müs­sen. Statt die Volks­ab­stim­mung als Po­li­ti­sie­rungs­schub zu nut­zen, haben sie statt­des­sen aus dem Nein am 5. Juli ganz an­de­re Kon­se­quen­zen ge­zo­gen und eine Woche spä­ter das neue Me­mo­ran­dum un­ter­zeich­net, das noch viel schlim­mer als die bei­den vor­an­ge­gan­ge­nen ist. Mit die­ser Ent­schei­dung hat die Par­tei­füh­rung Sy­ri­za als Par­tei aufs Spiel ge­setzt und eine Spal­tung aus­ge­löst. Wir wis­sen, dass in­zwi­schen ein Drit­tel der Mit­glie­der die Par­tei ver­las­sen hat, ins­be­son­de­re viele Ju­gend­li­che, die große Er­war­tun­gen in diese Par­tei ge­setzt hat­ten. Das De­sas­ter ist groß, die Füh­rung ist einen fal­schen Weg ge­gan­gen.

SB: Das Schei­tern Sy­ri­z­as war auch für die eu­ro­päi­sche Linke eine große Ent­täu­schung, die sich sehr viel von der Ent­wick­lung in Grie­chen­land ver­spro­chen hatte. Wel­che Kon­se­quen­zen soll­te man dar­aus zie­hen?

AW: Die eu­ro­päi­sche Linke hat in ihren Mehr­heits­par­tei­en wie der fran­zö­si­schen kom­mu­nis­ti­schen Par­tei und der Par­tei Die Linke in Deutsch­land die Po­si­ti­on von Sy­ri­za aus dem Wahl­kampf im Ja­nu­ar weit­ge­hend un­kri­tisch über­nom­men und ähn­li­che Il­lu­sio­nen ver­brei­tet. Ich er­in­ne­re mich an eine Pa­ro­le, die von der eu­ro­päi­schen Links­par­tei kam: "Heute Athen, mor­gen Ma­drid und übermor­gen Ber­lin". Man hat all diese Il­lu­sio­nen über ein mög­li­ches so­zia­les und de­mo­kra­ti­sches Eu­ro­pa ge­teilt, ob­gleich ge­nü­gend Er­fah­run­gen vor­la­gen, um Sy­ri­za deut­lich zu ma­chen, dass eine ver­än­der­te Po­si­ti­on der Herr­schen­den in Frank­reich und Deutsch­land und damit auch in Brüs­sel nicht zu er­war­ten ist. Die Hoff­nung, von Athen aus die Eu­ro­päi­sche Union ver­än­dern zu wol­len, war von Be­ginn an eine Il­lu­si­on! Aber man hat nicht auf­ge­klärt, son­dern über Mo­na­te eine trü­ge­ri­sche Hoff­nung ge­nährt. Und das, finde ich, ist keine red­li­che Po­li­tik der ge­sam­ten eu­ro­päi­schen Lin­ken.

SB: Vor we­ni­gen Tagen wurde von Mélen­chon, Va­rou­fa­kis, La­fon­tai­ne und an­de­ren ein Pa­pier ver­öf­fent­licht, in dem von einem "Plan B" die Rede ist. Wür­dest du die­sen Ent­wurf in­halt­lich tei­len?

AW: Er ist auf jeden Fall ein gro­ßer Fort­schritt. Er stellt erst­ma­lig eine Öff­nung von wich­ti­gen Tei­len der eu­ro­päi­schen Lin­ken dar. Ich finde es vor allem gut, dass man darin vor der Mög­lich­keit einer Be­en­di­gung des Eu­ro­re­gimes nicht zu­rück­schreckt, son­dern sie wirk­lich in Be­tracht zieht. Das ist ein gro­ßer Fort­schritt im Ver­gleich zu all den ver­wa­sche­nen Aus­sa­gen eines ir­gend­wie wei­ter so, die man ge­gen­wär­tig aus der eu­ro­päi­schen Lin­ken hört.

SB: An­dre­as, vie­len Dank für die­ses Ge­spräch.

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