Liberalismus und Kolonialismus

von

Der Marxismus Domenico Lusordos - Über den Zusammenhang seines Denkens (Teil 5)

Am Beginn des hier als Liberalismus-Buch bezeichneten Werks „Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ von Domenico Losurdo stehen die drei großen bürgerlichen Revolutionen, in den Niederlanden, in England und in den USA.

Die Ursprünge der liberalen Ordnung in den Niederlanden

Die Niederlande waren das erste Land in dem sich liberales Denken durchsetzte: „Dass die aus dem Kampf gegen das Spanien Philipps II. hervorgegangenen Vereinigten Provinzen sich schon ein Jahrhundert vor England eine Ordnung liberalen Charakters geben, darf nicht übersehen werden.“ [i] In der Utrechter Union erklären die niederländischen Generalstaaten 1581 ihre Unabhängigkeit von Spanien, endgültig anerkannt wird sie im Westfälischen Frieden von 1648. Als „Goldenes Zeitalter“ des Landes gilt das 17. Jahrhundert. Die Niederlande sind in dieser Zeit eine Weltmacht, sie beherrschen die Meere und ihre Kaufleute gründen Handelsniederlassungen und erste Kolonien in Amerika, Afrika und Asien. In den niederländischen Häfen werden die kostbaren Waren aus Übersee umgeschlagen, insbesondere Gewürze. Vor allem aber beherrschen die Niederlande in dieser Zeit den überaus einträglichen Sklavenhandel.

In der „Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften“ schreibt Losurdo 1990 im Artikel „Sklaverei“: „Das vom Joch Spaniens unter Philipp II. befreite und in blühendem Handel befindliche Holland setzt eine beachtliche Zahl von Schiffen für den einträglichen Transport der Negersklaven von der afrikanischen Küste in die Neue Welt ein. Und Grotius[ii], der in gewisser Hinsicht als der Interpret der Ergebnisse der holländischen Revolution zu betrachten ist, stellt die Erinnerung an die Sklaverei nicht in Frage (…). Abschließend kann gesagt werden, dass Grotius eindeutig die Sklaverei in den Kolonien rechtfertigt.“ [iii]

Bei Grotius findet man bereits die ideologische Begründung für den Menschenraub. Da von alters her gilt, dass die in Kriegen Gefangenen vom Sieger versklavt werden dürfen, muss der Menschenraub als Krieg der weißen Kolonisatoren gegen die Schwarzen geführt und begründet werden. Deshalb verurteilt Grotius „den abergläubischen und götzendienerischen Charakter des 'religiösen Kultes', eben des Heidentums, und fügt dann hinzu: 'Und da er einem bösen Geist gewidmet ist, ist er falsch und lügenhaft und mit der Straftat des Aufstands verbunden; denn nicht nur wird dem König die ihm zustehende Ehrung verweigert, sondern sie wird außerdem seinem Renegaten und Feind erwiesen.' (…) Die von der Kolonialexpansion Europas betroffenen Völker machen sich des Aufstands gegen Gott schuldig und müssen für dieses Verbrechen bestraft werden.“ [iv] Losurdo zitiert anschließend weiter den niederländischen Philosophen: „'Dumm aber ist die Überzeugung, der gute Gott würde sich nicht dafür rächen, da das im Gegensatz zur Güte stünde. Tatsächlich hat Gnade, wenn es gilt gerecht zu sein, ihre Grenzen, und wo die Missetaten das Maß übersteigen, verlangt die Gerechtigkeit fast zwangsläufig Strafe.'“

Damit ist die Grundlage für eine Rechtfertigung der Kolonialkriege gelegt: „Gegen Völker, die 'gegen Gott gerichtete Verbrechen' begehen und die elementarsten Normen des Naturrechts verletzen, sich somit als 'Barbaren' beziehungsweise als 'wilde Tiere eher denn Menschen' erweisen, ist Krieg, unabhängig von staatlichen Grenzen und geografischen Entfernungen, 'natürlich'; ja, 'der gerechteste Krieg ist der, welcher gegen wilde Tiere geführt wird, und dann jener, der gegen Menschen geführt wird, die wilden Tieren ähneln. (…)'“. [v]

Dies ist nach Losurdo „die Ideologie, unter der sich die Eroberung der Neuen Welt vollzieht. Die Sünde des Götzendiensts war das erste der Argumente, (…), den Krieg gegen die Indianer und ihre Versklavung als 'gerecht' zu betrachten. Und bei Grotius werden nicht nur implizit die in Amerika ausgeübten völkermörderischen Praktiken legitimiert, ausdrücklich und beharrlich wird auch die Sklaverei gerechtfertigt. Sie ist manchmal die Strafe für ein verbrecherisches Verhalten. Nicht nur einzelne Individuen können zur Verantwortung gezogen werden: „Auch Völker können für ein öffentliches Verbrechen mit einer öffentlichen Unterjochung bestraft werden (…)“. [vi]

Heute gelten die Niederlande als das liberale Land per se, stehen als Synonym für Freiheit und Individualität. Lange Zeit standen sie aber ebenso für Sklaverei, Zwangsarbeit und koloniale Unterdrückung und zwar in einer besonders grausamen Form. In seinem Werk „Das Kapital“ beschrieb Karl Marx im Abschnitt „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ in drastischen Worten die Praktiken des holländischen Kolonialismus: „Die Geschichte der holländischen Kolonialwirtschaft – und Holland war die kapitalistische Musternation des 17. Jahrhunderts – (hier zitiert Marx Thomas Stanford Raffles, der während der napoleonischen Kriege als britischer Beamter auf Java stationiert war, A.W.) 'entrollt ein unübertreffliches Gemälde von Verrat, Bestechung, Meuchelmord und Niedertracht.' (…) Wo sie die Füße hinsetzten folgte Verödung und Entvölkerung. Banjuwagi, eine Provinz von Java, zählte 1750 über 80.000 Einwohner, 1811 nur noch 8.000. Das ist der doux commerce!“ [vii]

Erst 2022, mehr als zwei Jahrhunderte nach Ende des niederländischen Sklavenhandels, fand ein Ministerpräsident jenes Landes einige Worte der Entschuldigung. In einem Zeitungsartikel darüber heißt es: „'Jahrhundertelang haben der niederländische Staat und seine Vertreter die Sklaverei ermöglicht, gefördert, bewahrt und davon profitiert', sagte Rutte. Jahrhundertelang seien Menschen zu 'Handelsware' gemacht, ausgebeutet und missbraucht worden. Unter staatlicher Autorität sei die menschliche Würde auf grausamste Weise verletzt worden. Trotzdem hätten Regierungen auch nach der Abschaffung der Sklaverei nicht erkannt, welche bleibenden negativen Folgen sie habe. Dann kam der entscheidende Satz: 'Dafür bitte ich im Namen der niederländischen Regierung um Entschuldigung.' Rutte wiederholte ihn auf Englisch und in den Sprachen der einstigen Kolonien.“ [viii]

Der Zeitungsartikel erwähnt zudem, dass die Rede lediglich zwanzig Minuten dauerte und sie in der Nationalbibliothek gehalten wurde – nicht vor dem Parlament. Es war also eine halbherzige Geste, die darauf zielte abzielte, dem erwachten Interesse der niederländischen Öffentlichkeit an der Kolonialgeschichte des Landes zu entsprechen und es gleichzeitig zu beruhigen. Und natürlich wurden keine finanziellen Entschädigungen für das erlittene Unrecht in Aussicht gestellt. Beim Geld hört die Demut auf – allemal in den calvinistisch geprägten Niederlanden.

Die Englische Revolution und der Sklavenhandel

Fand in Holland der „Prolog zu den folgenden liberalen Revolutionen“ [ix] statt, zur englischen Glorious Revolution 1689 und zur amerikanischen als Ergebnis des Unabhängigkeitskrieges von 1775 bis 1783, so währte das heute immer noch glorifizierte „Goldene Zeitalter“ für die Niederlande selbst nur kurz. Es endete bereits als das Land 1675 der britischen „Royal African Company“ das Privileg des Sklavenhandels überlassen musste.

Britannien nimmt „seine liberale Gestalt seit der Thronbesteigung Wilhelms III. von Oranien an, der aus Holland kommend in England landet“. [x] Und sogleich steht der Handel mit Sklaven im Mittelpunkt des Interesses des neuen Regimes: „Einer der ersten Akte internationaler Politik des liberalen Englands, der aus der Glorreichen Revolution von 1688/89 hervorgeht, besteht darin, mit den Frieden von Utrecht Spanien das Monopol auf den Handel mit Schwarzen zu entziehen.“ [xi]

Es ist John Locke, der große englische Philosoph, der noch heute als einer der Urväter des Liberalismus in Ehren gehalten wird, der den Sklavenhandel rechtfertigt und von ihm sogar selbst profitiert. Losurdo zitiert ihn mit der Aussage: „'In Carolina[xii] soll jeder freie Mann absolute Macht und Autorität über seine Negersklaven ausüben, welche Religion und Meinung auch immer diese vertreten.' (…) Im Übrigen besteht Locke nicht nur auf der positiven Funktion, die die Sklaverei in den Kolonien auf die wirtschaftliche Entwicklung ausübe ('sie war eine große Hilfe für die ganze amerikanische Besiedlung), sondern er investiert auch selbst im Sklavenhandel.“ [xiii]

Abnehmer des nun von England bestimmten Sklavenhandels sind in erster Linie seine nordamerikanischen Kolonien. In das Mutterland selbst werden nur wenige Sklaven verbracht, dort werden sie aber nicht in der Landwirtschaft eingesetzt, sie arbeiten als Haussklaven. In der neuen Welt stellen sie hingegen die unverzichtbaren Arbeitskräfte auf den Zucker-, Kaffee -und Baumwollplantagen. Sie ersetzen bald die Indianer, die sich als zu wenig robust für die harte Arbeit erweisen. Die aus den schwarzen Sklaven herausgepressten Profite bilden einen Hauptbestandteil der beginnenden kapitalistischen Akkumulation. Marx beschreibt diesen Zusammenhang: „Die Handelsjagd auf Schwarzhäute bezeichnet die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.“ [xiv]

Erst in jüngster Zeit werden diese überaus profitablen Geschäfte englischer Sklavenhändler von einer kritischen weißen Öffentlichkeit thematisiert. So entwickelte sich eine Kontroverse über den im englischen Bristol geborenen und als Vorstandsmitglied der Afrikagesellschaft mit dem transatlantischen Sklavenhandel reich gewordenen Kaufmann Edward Colston. Nach jahrelangem Disput über seine in einem Park in Bristol aufgestellte Stute wurden sie im Juni 2020 kurzerhand von Anhängern der Black Lives Matter- Bewegung umgestürzt und ins Hafenbecken geworfen. Heute steht die Staue, versehen mit den Spuren des Sturzes und mit Erläuterungen über die unrühmliche Rolle Colstons im Sklavenhandel, in einem Museum der Stadt.

Die Vereinigten Staaten von Amerika als Rassenstaat

Mit der Entstehung der Vereinigten Staaten verlagert sich der Schwerpunkt der Sklaverei auf den amerikanischen Kontinent: „Während das britische Empire in seiner Gesamtheit vor allem Iren und Schwarze überrennt, sind Indianer und Schwarze die wichtigsten Opfer des territorialen und kommerziellen Expansionismus zuerst der englischen Kolonien in Amerika und dann der Vereinigten Staaten.“ [xv] Losurdo beruft sich bei der Schilderung der US-amerikanischen sowie der britischen Gesellschaft vor allem auf neuere Werke kritischer Historiker, wie etwa David B. Davis, John C. Calhoun, John Williamson und Edward S. Morgan, um nur einige der wichtigsten von ihm zitierten zu nennen.

Der Krieg der 13 nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Kolonialmacht von 1775 bis 1776 und die daraus folgende Unabhängigkeitserklärung der Konföderation, der Vereinigten Staaten von Amerika, bringen zwar den weißen Siedlern die Freiheit, nicht aber den Negersklaven und schon gar nicht den verfolgten Ureinwohnern des Kontinents. Die auf Sklaverei beruhende Plantagenwirtschaft bleibt für lange Zeit die wichtigste Grundlage der US-Wirtschaft. Die Sklaven „bildeten das, nach dem Boden, beachtlichste Vermögen des Landes; 1860 betrug ihr Wert das Dreifache des Aktienkapitals der Manufaktur- und Bahnindustrie; die im Süden angebaute Baumwolle war lange Zeit die wichtigste Exportware der Vereinigten Staaten und half entscheidend mit, die Importe und die industrielle Entwicklung des Landes zu finanzieren.“ [xvi]

So ist nicht verwunderlich, dass Sklavenhalter auch Präsidenten des noch jungen Landes werden: „In 32 der ersten 36 Jahre der Existenz der Vereinigten Staaten bekleiden Sklavenhalter aus Virginia den Posten des Präsidenten. Es ist diese Kolonie bzw. dieser auf der Sklaverei basierende Staat, der dem Land seine berühmtesten Staatsmänner liefert; man denke nur an George Washington (den großen militärischen und politischen Vorkämpfer der antienglischen Revolte) oder an Thomas Jefferson und James Madison (die Autoren der Unabhängigkeitserklärung bzw. der Bundesverfassung von 1787): alle drei sind Sklavenhalter (…) Bei den ersten sechzehn Präsidentschaftswahlen zwischen 1788 und 1848 kommt, mit nur vier Ausnahmen, ein Sklavenhalter aus dem Süden in das Weiße Haus.“[xvii]

Es sei hier daran erinnert, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten verfasst wurde von einer „Versammlung reicher Sklavenhalter, reicher Kolonisatoren sowie reicher Gegner der Sklaverei, die nichtsdestotrotz zu Zugeständnissen gegenüber den Sklavenhaltern und Kolonialherren bereit waren und von der Sklaverei profitierten.“ [xviii]

Bei der in den USA praktizierten Sklaverei handelte es sich um eine ihrer brutalsten Formen. Die vorherrschende „Chattel Sklaverei“, wobei chattel auf Deutsch bewegliches Mobiliar (!) bedeutet, erlaubte den getrennten Verkauf von Ehepartnern und selbst von deren Kindern. Nichtdestotrotz „1809 preist Jefferson die Vereinigten Staaten als 'ein Reich der Freiheit' gegründet auf eine Verfassung, die die Selbstregierung garantiere. Und dabei ist er ein Sklavenhalter, der die Macht über die Sklaven brutal ausübt und nach Bedarf die einzelnen Mitglieder einer Familie aus seinem Eigentum als getrennte Stücke oder Waren verkauft.“ [xix]

Die USA sind „das erste geschichtliche Beispiel eines Rassenstaats“. [xx] Als weiße Rassenstaaten galten auch die Apartheitsstaaten Südafrika und Rhodesien, das heutige Zimbabwe. Als einen solchen Rassenstaat kann man heute Israel bezeichnen.

Domenico Losurdo zieht das folgende Resümee: „Die Sklaverei dauert nicht trotz des Erfolgs der drei liberalen Revolutionen fort; im Gegenteil, sie erfährt ihre größte Entfaltung im Gefolge dieses Erfolgs.“ Er zitiert hier Robin Blackburn: „'Die Zahl der Sklaven auf dem amerikanischen Kontinent betrug etwa 330.000 im Jahr 1700, fast drei Millionen 1800, um schließlich ihren Höchststand von über sechs Millionen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts zu erreichen.' Entscheidend beigetragen zum Aufstieg dieser Institution, die ein Synonym für die absolute Macht des Menschen über den Menschen darstellt, hat die liberale Gesellschaft. Mitte des 18. Jahrhunderts besitzt Großbritannien die größte Zahl von Sklaven (878.000).“ [xxi]

In seinem 2010 veröffentlichten Buch „La non-violenza. Una storia fuori da mito“ (auf Deutsch erschien es 2015 unter dem Titel „Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte“) kommt Domenico Losurdo zum Ergebnis: „In Ländern wie Frankreich und England bereitete der Sieg der liberalen und demokratischen Ordnung dem kolonialen Expansionismus keineswegs ein Ende, sondern gab ihm weiteren Impuls. Die Entstehung der Vereinigten Staaten und der amerikanischen Demokratie schließlich führte zu einer Intensivierung der Kriege gegen die Indianer, die jetzt mehr denn je der Enteignung, Deportation und Dezimierung unterworfen waren. (…) Ähnlich ging in Australien und Neuseeland das Erringen der Selbstregierung, wesentliches Element der Demokratie, Hand in Hand mit den Ausrottungskriegen gegen die Eingeborenen.“ [xxii]

Während in England die Sklaverei 1772 für rechtswidrig erklärt wird und sie in den britischen Kolonien 1834 offiziell aufgehoben wird, geschieht dies in den USA erst 1866, und auch dann erst im Ergebnis des überaus blutigen Bürgerkriegs zwischen der Union des Nordens und der Konföderation des Südens, ein Krieg der mehr Opfer fordert als die USA in beiden Weltkriegen zu beklagen haben. „Auf jeden Fall ging mit dem Ende des Sezessionskriegs ein geschichtlicher Zyklus zu Ende. Obwohl als ihr Zwilling geboren und lange in einer allerdings nicht spannungsfreien Beziehung mit ihr verbunden, bricht der Liberalismus in seiner Gesamtheit nun mit der Sklaverei im eigentlichen Sinne, der rassischen und Erb-Sklaverei.“ [xxiii]

Doch auf die Emanzipation der Schwarzen folgte in der liberalen Gesellschaft der USA eine schmerzhafte Epoche der De-Emanzipation: „Das Ende des Sezessionskriegs eröffnet die glücklichste Periode in der Geschichte der Afroamerikaner, die jetzt die bürgerlichen politischen Rechte erobern und in die Vertretungskörperschaften einziehen. Aber dies ist nur eine Art kurzes Zwischenspiel der Tragödie. Der Kompromiss, der 1877 zwischen den Weißen des Nordens und des Südens geschlossen wird, beinhaltet für die Schwarzen den Verlust der politischen Rechte und oft selbst der bürgerlichen Rechte, wie das Regime der Rassentrennung und die rohe Gewalt der Pogrome und der Lynchjustiz beweisen. Diese Phase von De-Emanzipation im Rahmen einer Gesellschaft, die sich weiterhin 'liberal' nennt, dauert fast ein Jahrhundert.“ [xxiv]

Doch wie tief die rassische Diskriminierung in der weißen Gesellschaft der USA bis heute verankert ist, zeigt die alltägliche Gewalt von Polizisten gegenüber Schwarzen. Nach der Tötung von Trayvon Martin kam es 2013 zum Aufruhr von Empörten gegen diese anhaltende Gewalt und zur Gründung der Bewegung „Black Lives Matters“. Nach der Ermordung des Schwarzen George Floyd im Mai 2020 durch weiße Polizisten in Minneapolis kam es erneut zu die das ganze Land erfassenden Protesten. Auch in Europa kam es in zahlreichen Ländern zu Solidaritätsbekundungen.

Das Urteil des italienischen Historikers und Philosophen über den Charakter der drei Länder Niederlande, Großbritannien sowie der USA ist eindeutig: „Fest steht, dass in allen drei liberalen Revolutionen Freiheitsanspruch und Rechtfertigung der Sklaverei sowie der Dezimierung (oder Vernichtung) der Barbaren Hand in Hand gehen. (…) Die Länder der drei großen liberalen Revolutionen sind also zugleich die Protagonisten zweier tragischer Kapitel der modernen und Zeitgeschichte.“ [xxv] Bereits in seinem 1998 und damit sieben Jahre vor dem Liberalismus-Buch geschriebenen Buch „Il peccato originale del Novecento“, auf Deutsch erschien es erst 2013 unter dem Titel „Das 20. Jahrhundert begreifen“, kommt Losurdo daher zum ernüchternden Ergebnis: „Die Geschichte des Westens führt uns ein Paradoxon vor Augen, das von der Geschichte seines heutigen Führungslandes her begriffen werden kann: Die Demokratie innerhalb der weißen Gemeinschaft hat sich gleichzeitig mit der Versklavung der Schwarzen und der Deportation der Indianer entwickelt.“ [xxvi] Und so trägt das zweite Kapitel im Buch „Freiheit als Privileg“ denn auch die Überschrift: „Liberalismus und rassische Sklaverei: eine merkwürdige Zwillingsgeburt.“ [xxvii]

Die fest etablierte Existenz der Sklaverei im klassischen Liberalismus ist für Losurdo daher der Schlüssel für das Verständnis des Westens gestern und heute. Die von Marx so treffend als „Handelsjagd auf Schwarzhäute“ beschriebenen, nicht enden wollenden Strafexpeditionen und Kolonialkriege mit unzähligen Toten und Entrechteten hatte die rassische Diskriminierung ganzer Völker zur Voraussetzung bzw. zur Folge. Ein Gift, das noch heute wirkt und zur heutigen Teilung der Welt in einen weißen Westen und einen farbigen globalen Süden entscheidend beiträgt.

Die Französische Revolution und die Erschütterung der Institution Sklaverei

Ein anderes Bild zeigt, zumindest was die Akzeptanz der Sklaverei angeht, die Französische Revolution. Sie ist zwar gleichfalls eine bürgerliche, die eine liberale Gesellschaft hervorbringt, trägt aber zugleich Elemente in sich, die darüber hinausgehen. Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 bezieht sich ausdrücklich auf alle Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe und nimmt die Sklaverei nicht hin, wie in der US-amerikanischen Verfassung. Dort wird die Institution der Sklaverei „in dem Staat rechtlich und sogar verfassungsmäßig legitimiert, der aus dem Aufstand der Siedler hervorgegangen ist, die sich nicht als 'Neger' behandeln lassen wollten – wenn auch unter Anwendung der Euphemismen und Umschreibungen (…). Es entsteht damit ein Land, das durch die (Losurdo zitiert hier den britischen Historiker Robin Blackburn, A.W.) 'feste und direkte Verbindung von Eigentum an Sklaven und politischer Macht' gekennzeichnet ist, wie sowohl die Verfassung als auch die Zahl der Sklavenhalter verdeutlicht, die zum höchsten Staatsamt aufsteigen.“ [xxviii]

Die französischen Revolutionäre ließen sich demgegenüber in ihrem Handeln von Persönlichkeiten leiten, die bereits weit vor den revolutionären Ereignissen die Sklaverei ablehnten, sie zumindest aber grundsätzlich in Frage stellten: „Die Kritik an der Sklaverei entwickelte sich im 18. Jahrhundert stärker in Frankreich und wird schließlich wesentlicher Bestandteil der ideologischen Vorbereitung der französischen Revolution, wobei allerdings Dissonanzen und Zweideutigkeiten nicht fehlen.“ [xxix] Losurdo hebt dabei die Rolle der Aufklärer Montesquieu vor allem aber die von Rousseau hervor: „Tatsache ist jedenfalls, dass die gegen die Sklaverei gerichtete Polemik der philosophes nicht nur wesentlicher Bestandteil der ideologischen Vorbereitung der französischen Revolution ist, sondern auch eine Rolle bei dem Aufstand der Negersklaven gespielt hat, der auf der Woge dieser Revolution in Saint Domingue ausgebrochen war. Toussaint Louverture, der Anführer dieses Aufstandes bewunderte zutiefst die französische aufklärerische Kultur und hatte Raynalds Historie gelesen, wo er mit aller Wahrscheinlichkeit auch auf dessen Voraussicht eines neuen Spartakus gestoßen ist. (…) Der neue Spartakus scheint sich jedenfalls in Toussaint Louverture zu verkörpern. Im Gefolge des von ihm angeführten Aufstands schafft der Konvent 1794 die Sklaverei in den Kolonien ab, die dann 1802 von Napoleon wieder eingeführt wird.“ [xxx] Toussaint Louverture, der große Vorkämpfer der Revolution von San Domingo, fordert, (hier zitiert Losurdo Florence Gauthier, Triomphe et mort du droit naturel en Révolution, A.W.) 'die absolute Geltung des Grundsatzes, dass kein Mensch, sei er rot, schwarz oder weiß, Eigentum von seinesgleichen sein kann'“ [xxxi]  Ohne Zweifel ist Louverture für Domenico Losurdo ein hervorragender Freiheitskämpfer, der Jahrzehnte vor Marx und Engels und ein Jahrhundert vor Lenin in Wort und Tat für Emanzipation und Gleichberechtigung kämpfte und dennoch bis heute kaum bekannt ist, obwohl „der große Protagonist der Revolution der Sklaven“ [xxxii] in die Reihe der großen Revolutionäre gehört.

Die Erschütterung, die die Institution der Sklaverei weltweit durch die Französische Revolution erfährt, ist auch in Deutschland zu spüren: „Im Jahre 1795 verurteilt Kant energisch die 'allergrausamste und ausgedachteste Sklaverei', die auf den 'Zuckerinseln' stattfindet; wichtig ist hier, dass Kant seine Verurteilung unter besonderer Bezugnahme auf die 'handeltreibenden Staaten unseres Weltteils' und auf die Länder ausspricht, 'die von der Frömmigkeit viel Werks machen' (…). Die Verurteilung konzentriert sich also auf England und auf die Staaten, die sich geweigert hatten, dem Bespiel des Konvents hinsichtlich der Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien zu folgen, und die gegen das revolutionäre (und gegen die Sklaverei gerichtete) Frankreich einen Kreuzzug auch im Namen der Revolution führten.“ [xxxiii]

 

[i] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus, Köln 2011, S. 26 f.

[ii] Hugo Grotius (10.04.1583 – 28.08.1645) gilt als einer der intellektuellen Gründungsväter des Souveränitätsgedankens, der Naturrechtslehre und des aufgeklärten Völkerrechts. Er begründete eine eigenständige systematische Völkerrechtswissenschaft. Sein Hauptwerk De Jure Belli ac Pacis libri tres wurde 1625 veröffentlicht. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Grotius

Hugo Grotius,

[iii] Domenico Losurdo, Artikel Sklaverei, in: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, S. 301

[iv] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 35

[v] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 35

[vi] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 34 f

[vii] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, Band 23, Berlin 1955, S. 779,

[viii] Jahrhunderte der Unterdrückung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.12.2022

[ix] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 27

[x] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 26

[xi] Domenico Losurdo, Marx. Kolumbus und die Oktoberrevolution, in: Das Argument, Berlin, Nr. 214, a. a. O., S. 204

[xii] Die Provinz Carolina war eine englische Kolonie in Nordamerika, die von 1663 bis 1729 bestand. 1729 wurde sie von den Besitzern, den Lords Proprietor, an die Krone verkauft und aus ihr gingen die königlichen Provinzen North Carolina und South Carolina hervor.

[xiii] Domenico Losurdo, Artikel Sklaverei, a.a.O., S. 301 f.

[xiv] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23, S. 779

[xv] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 33

[xvi] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 140

[xvii] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 23

[xviii] Elie Mystal, Allow me to Retort. A Black Guy´s Guide to the Constitution, New York 2022, S. 2

[xix] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 317

[xx] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 196

[xxi] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 50

[xxii] Domenico Losurdo, Gewaltlosigkeit. Eine Gegengeschichte, Hamburg 2015, S. 244

[xxiii] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 90

[xxiv] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 436

[xxv] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 41

[xxvi] Domenico Losurdo, Da 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013, S. 21

[xxvii] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 51

[xxviii] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 73

[xxix] Domenico Losurdo, Artikel Sklaverei, a.a.O., S. 302

[xxx] Domenico Losurdo, Artikel Sklaverei, a.a.O., S. 305

[xxxi] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 236

[xxxii] Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, a.a.O., S. 262

[xxxiii] Domenico Losurdo, Artikel Sklaverei, a.a.O., S. 305

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