Der Marxismus Domenico Losurdos - Über den Zusammenhang seines Denkens

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Zu Recht kann Domenico Losurdo als einer der wichtigsten marxistischen Denker der Gegenwart angesehen werden. Er war aber zugleich auch einer der produktivsten. Seine Bibliografie umfasst für die Jahre von 1983 bis 2021 nicht weniger als 32 Bücher. Nahezu alle wurden ins Deutsche übersetzt. Hinzu kamen mehr als 200 Essays und Artikel. Darüber hinaus hat er für 31 Bücher anderer Autoren Beiträge verfasst.

Losurdo gehört zu den wenigen Historikern und Philosophen dessen Werke in den verschiedensten Sprachen veröffentlicht werden. Allein sein Buch „Freiheit als Privileg“ wurde in 14 Sprachen übersetzt, auch in das Japanische und Chinesische. Sein Wirken beschränkte sich keineswegs nur auf Europa, so gilt er heute in Südamerika als der mit Abstand wichtigste marxistische Theoretiker der Gegenwart. In Brasilien erscheinen seine Bücher immer wieder in neuen, hohen Auflagen. Zu seinen Lesungen kamen dort regelmäßig Hunderte. Als langjähriger Präsident der „Gesellschaft Hegel – Marx, für dialektisches Denken“ unterhielt er weltweit fachliche und oft auch enge persönliche Verbindungen zu den marxistischen Philosophen und Historikern seiner Zeit. Zugute kam ihm dabei seine Fähigkeit auch auf Deutsch, Französisch und Englisch referieren zu können. Er war einer der heute ausgesprochen rar gewordenen kosmopolitischen Denker.

Zu Deutschland hatte Domenico Losurdo eine besondere Verbindung. Während seines Philosophiestudiums in den siebziger Jahren in Tübingen beschloss er, die Auseinandersetzung mit Hegel und seinen Folgen in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit zu stellen. Das Ergebnis war sein Werk „Hegel und das deutsche Erbe“, was zugleich seine Dissertationsschrift war. Deutschland blieb Zeit seines Lebens ein zentraler Bezugspunkt für ihn. Immer wieder beschäftigte er sich mit der wechselvollen Geschichte des Landes. Mit „Die Deutschen – Sonderweg eines unverbesserlichen Volkes?“ schrieb er sogar ein Buch, das nur auf Deutsch erschien.  Zusammen mit Hans-Heinz Holz gab er von 1993 bis 2011 die Halbjahresschrift „Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie“ heraus. Und regelmäßig war er in Deutschland Gast zu Lesungen, Vorträgen und Diskussionen.     

Als Philosoph war Losurdo nicht alleine nur Hegel-Forscher. Arbeiten über Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Martin Heidegger sowie über Friedrich Nietzsche kamen hinzu. Sein monumentales Werk „Nietzsche – der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz“ machte ihn zu einem der weltweit wichtigsten Nietzsche-Forscher.     

In der hier vom MEZ geplanten Artikelserie kann ein vollständiger Überblick über Leben und Werk des italienischen Gelehrten nicht gegeben werden. Dies muss einer noch zu schreibenden Biografie überlassen bleiben. Seine Darstellungen und Interpretationen des Denkens und Handels von Kant, Fichte, Hegel, Nietzsche aber auch Gandhi können hier nur gestreift werden.  

Im Mittelpunkt soll hier der politische marxistische Philosoph und Historiker Losurdo stehen. Ausgangspunkt dafür ist seine grundsätzliche Kritik an der heute alles dominierenden westlichen Wertewelt, die ihn zum „Entzauberer des Liberalismus“ hat werden lassen. Er bestand darauf, dass die dunklen Seiten und Verbrechen der liberalen Gesellschaften nicht vergessen werden dürfen. Nur vor diesem Hintergrund können auch die Mängel der sozialistischen Länder verstanden werden. Seine wissenschaftliche Methode war dabei der historische Vergleich, die Komparatistik, die nicht mit der Rechtfertigung des Geschehenen zu verwechseln ist.

Nach dem Verschwinden des europäischen Sozialismus konzentrierte er sich auf die Suche nach Erklärungen für die erlittene Niederlage sowie nach Wegen, sie überwinden zu können.  Er sprach dabei stets von einer Niederlage des Sozialismus, nicht von seinem Scheitern, denn welchen Sinn habe es, von Scheitern zu sprechen, was die Geschehnisse betrifft, die mit der Oktoberrevolution begonnen haben? Zum Verständnis des inadäquaten oder entschieden irreführenden Charakters dieser Kategorie versuche man, sie – so Losurdo - auf die ehemaligen Kolonialländer und -völker anzuwenden, die ihre Unabhängigkeit und Würde auf der Woge eines Kampfes erlangt haben, der sich von der kommunistischen Bewegung hat inspirieren und vorantreiben lassen. Scharf kritisierte er die Kleingläubigkeit, die Bereitschaft zur Kapitulation der europäischen Linken vor den Problemen der existierenden sozialistischen Länder und der um ihre Befreiung vom neokolonialen Joch kämpfenden Länder des globalen Südens. Sie waren für ihn „imperiale Linke“, Wegbereiter imperialistischer Gewalt. Nichts im Sinn hatte er auch mit einer besserwisserischen westlichen Linken, für die China nur ein weiteres kapitalistisches Land und Russland ein imperialistischer Akteur sind. Ein „westlicher Marxismus“, der sich von den Kämpfen des globalen Südens isoliert, hatte für ihn keine Daseinsberechtigung.    

Als italienischer Marxist, vertraut mit den theoretischen Arbeiten Antonio Gramscis und der Politik Palmiro Togliattis, des langjährigen Führers der Kommunistischen Partei Italiens, besaß Losurdo einen klaren Blick für die zentralen Irrtümer und sektiererischen Verengungen eines Marxismus-Leninismus. Dies betraf vor allem dessen Insistieren auf einem „Absterben des Staates“ und dem Festhalten an der „Diktatur des Proletariats“, die doch nur ein vorübergehender Ausnahmezustand sein darf.

Seine ganze Hoffnung lag auf der Entwicklung Chinas. In dem Riesenreich sah er nicht den Führer einer neuen roten Internationale, sondern das wichtigste Land in einem Bündnis des globalen Südens. Für ihn war es keine Frage, dass auch Russland politisch dazu gehört.

Die Artikelserie des MEZ kann nicht mehr als eine Einführung in das Denken des italienischen Philosophen und Historikers sein. Sie soll und kann die Lektüre seiner Werke nicht ersetzen. Sie soll vielmehr Neugier auf seine Bücher und Artikel wecken. Die dort enthaltenen Zitate unterschiedlichster Autoren eignen sich dafür, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen. Vor allem Losurdos Blick auf die Werke von Hegel, Marx, Engels, Lenin und Gramsci sollte Anregung sein, sie neu und zugleich kritisch zu lesen und dabei zu fragen, was wir von ihnen heute lernen können.   

                           

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