No Border – More Corona

-

Wie der Westen in der Corona-Krise an sich selbst scheitert

Die Verluste von Menschenleben sind furchterregend. Weltweit starben bereits mehr als 1,2 Millionen Menschen der Corona-Pandemie. Allein in den Ländern der EU und Nordamerikas 500.000. Erschreckend sind auch die wirtschaftlichen Schäden. Millionen Menschen verloren ihre Arbeit bzw. ihre selbständige Existenz. Armut und Not breiten sich aus. Ganz anders die Situation in China und anderen ostasiatischen Staaten: Ihnen gelang es, die Pandemie so gut wie vollständig zu überwinden. Entscheidend dafür war, dass diese Länder die betroffenen Regionen absperrten bzw. frühzeitig ihre Grenzen für Personen schlossen. Die Länder der EU lehnten dies hingegen lange ab, da es der neoliberalen Ideologie der offenen Grenzen widerspricht. Als schließlich doch Grenzen geschlossen wurden, kamen die Maßnahmen zu spät und blieben hinter den Erfordernissen zurück. Der Preis, den die Länder der EU an Menschenleben und wirtschaftlichen Verlusten dafür zu zahlen haben ist hoch.   

Wie alles begann

Es soll daran erinnert werden, wie es zu dieser Katastrophe überhaupt kommen konnte. Am 31. Dezember 2019 werden von den Behörden im chinesischen Wuhan der Weltgesundheitsorganisation WHO Fälle von Pneumonien mit unbekannter Ursache gemeldet. Am 23. Januar 2020 wird von 18 Toten und 634 Infizierten berichtet. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärt daraufhin, dass kein „Anlass zur Unruhe oder zu unnötigem Alarmismus bestehe.“[1] Nur zwei Tage später waren es schon 41 Todesopfer und knapp 1.300 Infizierte. Um eine rasante Ausbreitung der neuartigen Krankheit zu verhindern, werden 43 Millionen Bewohner von zwölf Städten in der chinesischen Provinz Hubei harten Restriktionen unterworfen. Es wird der Nah- und Fernverkehr der Bahn gestoppt, die Ausfallstraßen werden gesperrt. Das Tragen von Schutzmasken in der Öffentlichkeit wird angeordnet. Cafés, Kinos und öffentliche Einrichtungen schließen. Am 26. Januar 2020 meldet die US-amerikanische Johns-Hopkins-Universität, dass das Corona-Virus über den Flugverkehr bereits 12 Staaten erreicht hat. Besonders betroffen sind Thailand, Taiwan, Hongkong und Südkorea.

Einige südostasiatische Staaten reagieren umgehend auf die Gefahr. Noch im Januar 2020 verhängen sie Einreisesperren gegenüber Bürgern der Volksrepublik China. Zugleich verfolgten sie jede einzelne Infektion im Land und isolieren die Angesteckten. Besonders erfolgreich war dabei Taiwan, das seine Bürger bereits Ende Dezember 2019 aufgefordert hatte, die Stadt Wuhan zu verlassen.

Auch Vietnam konnte sich schützen: „Nach dem Ausbruch der Epidemie in Wuhan verzeichnete Vietnam trotz der geographischen Nähe zu China bis Ende Februar lediglich 16 Infektionen. Die Regierung reagierte sehr rasch und konsequent mit der Schließung von Schulen, Kindergärten und Universitäten sowie der Absage von Großveranstaltungen und  erhöhten Kontrollen an Grenzen und Flughäfen. Damit konnte (…) ein großflächiger Ausbruch verhindert werden. Die WHO lobte den vorbildlichen Umgang Vietnams mit dem Virus. 22 Tage lang wurden keine Neuinfektionen registriert, alle 16 Patienten konnten gesund entlassen werden. Anfang März brachte eine aus Europa zurückkehrende Passagierin das Virus nach Vietnam zurück. Wie zu erwarten war, zog dies Neuinfektionen nach sich.“[2]

Singapur schloss ebenfalls umgehend seine Grenzen für Reisende aus China und konnte so über mehrere Monate Infektionen fast vollständig verhindern. Als im März neue auftraten, wurden auch keine Reisenden aus Deutschland mehr ins Land gelassen. Die Tagesschau meldete: „Die Bundesrepublik gilt den Asiaten als Risikofall – als einer jener Staaten, die Corona zu lange nicht ernst genommen haben. (...)“[3]

All diese Länder reagierten schnell und entschieden auf die neue Gefahr, denn die Erinnerung an die SARS-Infektionskrankheit, die 2002/03 die Region erfasst hatte, war dort noch sehr präsent.

„Menschliches Gespür“ statt Kontrolle und Quarantäne

In Deutschland hingegen wurde die Gefahr lange heruntergespielt und verharmlost. Am 23. Januar 2020 berichtete die Frankfurter Neue Presse unter der Überschrift „Flughafen Frankfurt: Coronavirus aus China sorgt für Aufregung - geringes Risiko für Deutschland“: „Die USA hat die erste Coronavirus-Infektion im eigenen Land vermeldet. Und was in den USA landet, könnte auch schon bald nach Deutschland kommen. Oder? Die Aufregung hierzulande ist groß, der Flughafen Frankfurt befindet sich in Alarmbereitschaft. Immerhin: Glaubt man den deutschen Behörden, ist die Lage unter Kontrolle. Die notwendigen Vorkehrungen wurden bereits getroffen. Dabei setzen die Behörden auf das menschliche Gespür der extra dafür ausgebildeten Mitarbeiter an den Flughäfen. Temperaturmessgeräte sollen, anders etwa als in den asiatischen Ländern, den USA und Australien, nicht aufgestellt werden - auch nicht am Flughafen Frankfurt. 'Das bringt gar nichts. Das haben viele Seuchen der letzten Jahrzehnte gezeigt', erklärt René Gottschalk vom Gesundheitsamt Frankfurt. Wer in Deutschland entsprechende Symptome zeigt, kommt in Quarantäne, um isoliert behandelt zu werden, bis eine Therapie erfolgreich ist. Ohnehin bestehe in Deutschland derzeit nur ein sehr geringes Risiko, versucht das Gesundheitsministerium die Panik einzudämmen. Tatsächlich schätzen Infektionsmediziner und Virologen normale Grippeviren, an denen jährlich weltweit Hunderttausende sterben, für deutlich gefährlicher ein.“[4]

Der zitierte Leiter des für den Flughafen Frankfurt zuständigen Gesundheitsamts, René Gottschalk, ist übrigens bis heute der Ansicht, dass das Corona-Virus nicht gefährlicher sei als die normale saisonale Grippe oder eine Hitzewelle![5]

Anfangs war man auch in Deutschland noch bemüht, einzelnen Infektionsketten nachzugehen - etwa beim bayerischen Autozulieferer Webasto Ende Januar in München. Dort hatte eine aus China eingereiste Mitarbeiterin mehrere Personen angesteckt. Die Infizierten konnten ausfindig gemacht werden und mussten sich in Quarantäne begeben. Auch kümmerte man sich um deutsche Staatsbürger in der Provinz Hubei. Sie wurden mit Flugzeugen der Bundeswehr ausgeflogen. Auch sie mussten sich einer mehrwöchigen Quarantäne unterziehen.

Zugleich blieben aber die deutschen Grenzen offen. Flugreisende, die aus den ersten Hotspots der Pandemie, aus China, Südkorea und dem Iran kamen, konnten ungehindert ohne jede gesundheitliche Kontrolle einreisen. Verlangt wurde von ihnen lediglich, dass sie sogenannte Aussteigekarten ausfüllten, aber auch nur dann, wenn ein Verdacht auf einen infizierten Mitreisenden bestand. Auf den Karten mussten Name, Sitzplatz und die Adresse des Passagiers in Deutschland angegeben werden. Sollte sich eine infizierte Person in der unmittelbaren Nähe des Reisenden befunden haben, würde der Passagier umgehend davon unterrichtet und ein Test angeordnet werden.

Doch das funktionierte in der Praxis nicht. Die regionalen Gesundheitsämter waren angesichts der Menge an Karten völlig überfordert. Allein am Flughafen Frankfurt fielen davon täglich 6.000 an. Die Ausreisekarten stapeln sich – wie vom Tagesspiegel recherchiert – noch immer ungeordnet in großen Kartons in Abstellräumen der Flughäfen.[6]

Das Prozedere wiederholte sich in der Sommerreisesaison 2020. Die nach Deutschland zurückkehrenden Ferienreisenden wurden verpflichtet, in Aussteigekarten anzugeben, ob sie aus Risikogebieten kommen. So sollte garantiert werden, dass sie sich anschließend in Quarantäne begeben. Da aber weder diese Angaben noch die Einhaltung der Quarantäne kontrolliert wurden, blieb das Verfahren wirkungslos. Ungezählte Infektionen wurden auf diese ins Land eingeschleppt - eine der Ursachen für die Auslösung der zweiten Welle der Pandemie.     

Nicht allein nach Deutschland kamen im Februar und März 2020 täglich Reisende aus Ländern mit hohen Infektionszahlen unkontrolliert ins Land. So wurde gemeldet: „Lon­don, die am stärks­ten vom Vi­rus be­trof­fe­ne Re­gi­on, hat mit He­a­throw den größ­ten Flug­ha­fen Eu­ro­pas – ne­ben fünf wei­te­ren Flug­hä­fen im Groß­raum. Al­lein aus Wu­han lan­de­ten zwi­schen Ja­nu­ar und März 190.000 Pas­sa­gie­re im Kö­nig­reich, rech­ne­te die Uni­ver­si­tät Sout­hamp­ton aus.“[7] Und was für London galt, traf auch auf andere große europäische Flughäfen zu.

Erst am 17. März 2020 einigte man sich in der EU auf einen generellen Einreisestopp für alle Nicht-Unionsbürger – da lag die Abriegelung von Wuhan bereits gut zwei Monate zurück. Selbst die USA unter Trump hatten ihre Grenzen noch vor den Europäern geschlossen. Seit seinem ersten Auftreten hatte das Virus zweieinhalb Monate Zeit gehabt, sich ungehindert in Europa und anderen Teilen der Welt zu verbreiten.

Der freie Grenzverkehr ist der EU wichtiger als die Gesundheit ihrer Bürger

Weshalb aber hatten die EU-Länder erst so spät einen Einreisestopp für Nicht-EU Bürger erlassen? Einen wichtigen Hinweis darauf geben die für Großbritannien bereits Jahre zuvor ausgearbeiteten Empfehlungen eines Expertengremiums unter dem Titel „UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy 2011.“ [8] Danach sei das Land aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindungen in die ganze Welt außerstande, eine solche Pandemie einzudämmen: „Die für die moderne Welt typische Massenmobilität erlaubt es dem Virus, sich schnell auf dem gesamten Planeten zu verbreiten“. Deshalb sei es „höchstwahrscheinlich unmöglich, das Virus in seinem Entstehungsland oder bei seiner Ankunft in Großbritannien einzugrenzen oder auszurotten“. Alle Anstrengungen in diese Richtung „werden sicherlich nur sehr begrenzt oder teilweise wirksam sein und können daher nicht verlässlich eingesetzt werden, um Zeit zu gewinnen“. [9] Schützen könne sich daher nur der Einzelne, indem er sein Verhalten ändere. Dahinter steht die neoliberale Ideologie einer globalisierten, grenzenlosen Welt, in der der freie Fluss von Waren, Dienstleistungen, Kapital und von Personen auf keinen Fall unterbrochen werden darf. Da nationale Grenzen keine Hindernisse mehr für diesen freien Verkehr sein dürfen, bieten sie auch keinen Schutz mehr vor Infektionskrankheiten.[10]

Diese Sicht der „UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy 2011“ bestimmt das Handeln auch der EU-Länder, gelten in der Union doch die vier „Binnenmarktfreiheiten“ des freien Verkehrs von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. „Seit die Co­ro­na-Epi­de­mie nach Eu­ro­pa schwapp­te, hat die EU-Kom­mis­si­on ei­ne kla­re Li­nie ver­folgt: Ein­rei­se­sper­ren im Schen­gen-Raum sind kein zweck­mä­ßi­ges Mit­tel, um die Aus­brei­tung des Vi­rus zu ver­hin­dern. (…) 'Das Co­ro­na­vi­rus ist schon in al­len Mit­glied­staa­ten. Des­halb ist die Schlie­ßung von Gren­zen nicht not­wen­di­ger­wei­se ein zweck­mä­ßi­ges Mit­tel, um si­cher­zu­stel­len, dass wir die Ver­brei­tung des Vi­rus in der EU ein­däm­men kön­nen', be­teu­er­te Eric Ma­mer, der Spre­cher Ur­su­la von der Ley­ens. Die Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin hat­te am Wo­chen­en­de in et­li­chen Ge­sprä­chen ver­sucht, Re­gie­rungs­chefs von ein­sei­ti­gen Maß­nah­men ab­zu­brin­gen.“[11]

Allein die Tatsache, dass die neue Krankheit zu diesem Zeitpunkt bereits in allen 27 Mitgliedsländern – allerdings oft nur in Einzelfällen – registriert worden war, wurde als Begründung dafür genommen, auf jegliche Kontrollen zu verzichten. Sogar die Abweisung kranker Personen an der Grenze sollte nach der EU-Kommission nicht möglich sein: „Sie hält auch an ih­rer Emp­feh­lung fest, dass Per­so­nen, die ein­deu­tig krank sind, nicht pau­schal an der Gren­ze ab­ge­wie­sen wer­den sol­len. Statt­des­sen soll­ten sie schnell ge­tes­tet und iso­liert wer­den, egal auf wel­cher Sei­te der Gren­ze.“[12]   

Zum Ärger der Kommission hielten sich aber immer weniger EU-Mitgliedsländer an diese Weisungen. Bis zum 16. März 2020 hatten bereits acht Staa­ten sowie die zum EU-Schengen Raum gehörende Schweiz und Nor­we­gen die Per­so­nen­frei­zü­gig­keit eingeschränkt. Auch das deutsche Bundesinnenministerium gab an diesem Tag bekannt, dass zur Eindämmung des Coronavirus ab sofort die Bundespolizei an den Grenzen zur Schweiz, zu Österreich, Frankreich, Luxemburg und Dänemark kontrolliere und Ausländer ohne triftigen Grund nicht mehr nach Deutschland einreisen dürfen.

Noch weiter ging Polen, das von ausnahmslos allen Einreisenden verlangte, dass sie sich für 14 Tage in Quarantäne begeben - so wie es in China und anderen südostasiatischen Staaten üblich ist. Auch Kroatien führte diese Praxis ein. Slowenien untersagte die Einreise für Lastwagen über 3,5 Tonnen, solange nicht die Ladung aus Medikamenten, Hilfsgütern oder Post bestand, auf diese Weise sollte der tägliche Strom von Lastwagen durch das Land reduziert werden. Ungarn schrieb den Spediteuren genau festgelegte Transitrouten vor. Das wichtige Transitland Serbien schloss 44 Grenzübergänge.

Vor allem die polnischen Maßnahmen riefen den Unmut der EU-Kommission hervor, führten sie doch zu massiven Einschränkungen des innereuropäischen Personen- und Warenverkehrs: „Am Mitt­woch (dem 18.03.20., A.W.) wuchs die Schlan­ge aus Pkw und Lkw an der deutsch-pol­ni­schen Gren­ze bei Gör­litz laut Agen­tur­an­ga­ben auf 60 Ki­lo­me­ter an. Au­to­fah­rer steck­ten bis zu 18 Stun­den fest. Nach An­ga­ben der säch­si­schen Re­gie­rung wur­den Sol­da­ten ein­ge­setzt, um Men­schen mit Le­bens­mit­teln, Ge­trän­ken und De­cken zu ver­sor­gen.“[13] Die EU reagierte empört und verlangte ein sofortiges Ende der Maßnahmen. Um den öffentlichen Druck auf die widerspenstigen Länder zu erhöhen, zog man alle Register der Demagogie. Plötzlich waren es vor allem wichtige medizinische Güter, die durch die Grenzkontrollen nicht mehr rechtzeitig ans Ziel kamen. So erklärte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Wir müs­sen si­cher­stel­len, dass Me­di­ka­men­te, Schutz­klei­dung und an­de­re me­di­zi­ni­sche Gü­ter zü­gig an Kran­ken­häu­ser, Arzt­pra­xen und Pfle­ge­hei­me aus­ge­lie­fert wer­den.“[14]

Tatsächlich ging es aber um die Aufrechterhaltung der grenzüberschreitenden just-in-time Produktion um jeden Preis. Dies erklärte denn auch EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean ganz freimütig: „Wir ha­ben gar kei­ne Wahl, wenn der Bin­nen­markt nicht zu­sam­men­bre­chen soll. Die Pro­duk­ti­on ist so ver­zahnt in der EU, dass ein Bau­teil, ei­ne spe­zi­el­le Schrau­be, die nicht an­kommt, al­les lahm­le­gen kann. Des­halb kön­nen wir auch nicht zwi­schen wich­ti­gen und un­wich­ti­gen Pro­duk­ten un­ter­schei­den. Zu­dem gibt es ei­nen Do­mi­no-Ef­fekt, wenn ein Staat mit der Ab­fer­ti­gung nicht hin­ter­her­kommt. Das ha­ben wir am Wo­chen­en­de ge­se­hen, als erst Ser­bi­en, dann Kroa­ti­en, dann Slo­we­ni­en und schließ­lich Ita­li­en die Gren­zen schloss und sich die Last­wa­gen im­mer wei­ter zu­rück­stau­ten.“[15] Mit anderen Worten: Die uneingeschränkte Aufrechterhaltung des EU-Binnenmarktes zählte mehr als die Gesundheit der EU-Bürger.

Alternativen zum personenintensiven Lastkraftwagenverkehr wurden nicht in Erwägung gezogen. Als während der bereits im Februar/März 2020 in Norditalien wütenden Pandemie die Deutsche Bahn anbot, den Güteraustauch zwischen Deutschland und dieser Region weitgehend auf die Schiene zu verlagern, ging man nicht darauf ein. Beim verbliebenen Straßentransport hätte man an den jeweiligen Grenzen Fahrerwechsel stattfinden lassen können. All das hätte den Warenaustausch zwar umständlicher und langsamer gemacht, doch diese Mehrkosten hätten nur einen Bruchteil des ökonomischen und menschlichen Schadens ausgemacht, der jetzt zu beklagen ist.

So blieb den unbotmäßigen Staaten am Ende nichts anderes übrig, als dem Druck der EU-Kommission nachzugeben und ihre Grenzen für den vollkommen ungehinderten Personenverkehr wieder frei zu geben. Der Preis, den vor allem die Länder Ostmitteleuropas dafür zu zahlen haben, ist hoch. Waren sie anfangs noch relativ glimpflich davongekommen, so werden sie nun von der zweiten Welle voll erfasst.[16] Es ist daher kein Zufall, dass die Tschechische Republik gegenwärtig zu den in der EU von COVID-19 am härtesten getroffenen Ländern gehört.

No Border bedeutet mehr Corona

„Das Virus kennt keine Grenzen“, lautet ein wieder und wieder gegen Grenzkontrollen vorgebrachtes Argument. Diese Parole ist so eingängig wie falsch, denn das Virus SARS Cov2 verbreitet sich fast ausschließlich über die Atemluft infizierter Menschen. Auf Gegenständen kann es hingegen nur kurze Zeit überleben. Es unterscheidet sich daher von den Vogelgrippeviren und den Zika-Viren, die durch Vögel bzw. Stechmücken übertragen werden. SARS Cov2 benötigt zu seiner Verbreitung Menschen, und deren Mobilität können Grenzen sehr wohl Einhalt gebieten.   

Nun heißt es, die deutschen Grenzen ließen sich nicht schützen. Bereits in der Flüchtlingskrise 2015 hatte Bundeskanzlerin Merkel behauptet, dass man sie nicht schließen könne, es sei denn  man baue einen Zaun. Bereits damals hatten ihr Sicherheitsexperten der Bundespolizei widersprochen. Dass ein Land sehr wohl seine Grenzen wirkungsvoll überwachen kann, zeigt China. Mit 22.133 Kilometer Gesamtlänge hat das Land sogar die längste Landgrenze aller Staaten, und die zieht sich in großen Teilen auch noch durch schwer zu kontrollierende riesige Wüsten- und Dschungelgebiete.

Die Schließung der Grenzen stellt für die ostasiatischen Staaten die wirksamste Antwort auf die Herausforderung durch das Virus dar. Hinzu kommt ein konsequent befolgtes Hygienekonzept, das die Nutzung aller heute technisch möglichen Formen der elektronischen Nachverfolgbarkeit von Infektionen umfasst. In den Gesellschaften des Westens, die sich so viel einbilden auf das Hochhalten der persönlichen Freiheit selbst in Situationen der existenziellen Not, ist das alles gar nicht oder nur sehr schwer durchsetzbar. Hier rebellieren Esoteriker, Impfgegner und Verschwörungsphantasten zusammen mit Rechtsradikalen selbst gegen das harmlose Gebot des Tragens einer Mund-Nasen-Maske in der Öffentlichkeit.

Es ist der grenzenlose Narzissmus, der in den liberalen westlichen Gesellschaften tief verwurzelt ist, der sie jetzt daran hindert, konsequent gegen die Pandemie vorzugehen. Der Preis, den sie dafür zu zahlen haben, ist hoch!           

 

[1] Hintergrund 1/2020, S.34

[2] Entschiedenes Vorgehen in Vietnam, in: Internationale Politik und Gesellschaft (IPG) vom 17.03.2020, https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/globale-zwangsquarantaene-4161/

[3] Was Singapur im Corona-Kampf anders macht, in: Tagesschau vom 16.03.2020

[4] Frankfurter Neue Presse (FNP) vom 23.01.2020, https://www.fnp.de/frankfurt/flughafen-frankfurt-hoch-gefahr-durch-coronavirus-deutschland-zr-13475233.html

[5] Die Frankfurter Neue Presse (FNP) schrieb am 07.10.2020: „Was Gottschalk und Heudorf unversehens und binnen kurzem zu Social-Media-Stars hat werden lassen, sind Schlagzeilen wie 'Amtsarzt vergleicht Corona mit Grippe und Hitzewellen' (Bild), 'Gesundheitsamt zweifelt an aktueller Corona-Strategie' “ (RTL), 'Keine Übersterblichkeit durch Covid-19: Chef von Gesundheitsamt vergleicht Corona mit Grippe und Hitzewellen' (Berliner Zeitung). Auch Talkmaster Markus Lanz zitierte in seiner Sendung vom 1. Oktober genauso René Gottschalk, gleichsam als Kronzeugen für eine laut Lanz überzogene Corona-Politik bei Bund und Ländern.“ https://www.fnp.de/frankfurt/frankfurt-corona-coronavirus-gesundheitsamt-gottschalk-nehmen-covid-19-als-ernste-situation-wahr-90062731.html

[6] Sind die „Aussteigekarten“ am Flughafen nutzlos? in: Der Tagesspiegel vom 12.03.2020 https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/covid-19-vorsorge-beim-fliegen-sind-die-aussteigekarten-am-flughaefen-nutzlos/25634208.html

[7] Johnson hinkte immer hinterher, in: FAZ vom 07.05.2020

[8] UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy, Department of Health, London 2011  2011 file:///D:/EU/Corona/20200513_UK%20Influenza%20Pandemic%20Preparedness%20Strategy%202011%20dh_131040.pdf

[9] UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy, a.a.O.

[10] Zur Kritik dieser neoliberalen Ideologie vgl. Théo Bourgeron, Warum Boris Johnsons Plan scheiterte, in: Le Monde diplomatique, April 2020, S. 4

[11] Vollendete Tatsachen. Von der Leyen und die Grenzkontrollen, in: FAZ vom 17.03.2020

[12] Vollendete Tatsachen, a.a.O.

[13] 18 Stunden Stau an der Grenze, in: FAZ vom 19.03.2020

[14] EU: Höchstens 15 Minuten an der Grenze, in: FAZ vom 24.03.2020

[15] „Staus müssen die Ausnahme sein.“ Die rumänische Verkehrskommissarin im Gespräch, in: FAZ vom 25.03.2020

[16] Von der ersten Pandemiewelle waren die ostmitteleuropäischen EU-Länder kaum betroffen. So zählten Kroatien, Österreich und Tschechien in März/April 2020 zusammen nicht einmal so viele Corona-Tote wie allein Bayern. Als Gründe dafür wurden genannt: „Die Län­der Mit­tel­ost- und Süd­ost­eu­ro­pas sind im Schnitt viel we­ni­ger in in­ter­na­tio­na­le Ge­schäfts­rei­sen und Tou­ris­mus in­te­griert als West­eu­ro­pa, wes­halb sich das Vi­rus am An­fang viel lang­sa­mer ver­brei­tet hat.“ Und: „Weil aber das Vi­rus spä­ter an­ge­kom­men sei, hät­ten die Län­der früh­zei­tig re­agie­ren kön­nen. Die meis­ten ha­ben schnell ih­re Gren­zen ge­schlos­sen.“ in: Hat Osteuropa ein Rezept gegen Corona?, FAZ vom 25.04.2020

Der Newsletter des MEZ Berlin

Der MEZ-Newsletter wird, mit Ausnahme der Sommerpause, monatlich über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versandt. Wir informieren Sie darin über die im MEZ stattfindenden Veranstaltungen sowie über das Erscheinen von Publikationen.