Risse in der Festung

-

Über die Unmöglichkeit einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik.

Am 4. September 2015 erlaubte Bundeskanzlerin Angela Merkel Zehntausenden Flüchtlingen, die zuvor auf dem Budapester Hauptbahnhof gestrandet waren, in die Bundesrepublik zu kommen. Erst diese Einwilligung löste jenen Sog aus, in dem schließlich Hunderttausende kamen. An manchen Tagen des letzten Herbstes überschritten mehr als zehntausend Flüchtlinge die deutsche Grenze. Liberale und Linke glaubten in der Politik Merkels plötzlich ungeahnte humanitäre Züge entdecken zu können und versammelten sich geschlossen hinter ihr. Zwar wurde sie dort populär wie nie zuvor, doch insgesamt betrachtet ist der entstandene politische Schaden für die Herrschenden beträchtlich. Im In- und Ausland war man über den plötzlichen Kontrollverlust der Bundesrepublik über ihre Außengrenzen irritiert. Im eigenen Lager kam es zu einem bis heute andauernden Zerwürfnis zwischen CDU und CSU. Die Alternative für Deutschland (AfD) erlebt seitdem einen fulminanten Aufstieg. Die seit jenem Septembertag vergangenen Monate haben die deutsche politische Landschaft tiefgehend verändert.

Mitgefühl mit den Flüchtlingen dürfte es aber nicht gewesen sein, was Merkel antrieb. Heute stecken zwar nicht mehr Tausende in Budapest fest, doch es warten in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze Zehntausende Verzweifelte unter noch viel elenderen Bedingungen dringend auf Hilfe aus Berlin. Doch die bleibt aus. Keine Hand rührt sich für sie. Über ihr Schicksal wie auch über das der vielen gegenwärtig in Kontingenten von Griechenland in die Türkei Zurückgeschobenen geht die Bundesregierung kühl hinweg.

Unterschiedlichste Motive sind als Gründe für die Politik der Grenzöffnung genannt worden. Das wichtigste darunter dürfte die Sorge um die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik gewesen sein. Schließlich hängt von ihrem Funktionieren die Existenz der gesamten Innen- und Rechtspolitik der EU ab, die man euphemistisch auch gern als Schaffung des »Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« bezeichnet. Ihr kommt eine zentrale Bedeutung für den gesamten europäischen Integrationsprozess zu, weswegen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung auch immer wieder vor einem drohenden »Zerfall Europas« gewarnt wurde.

Deutscher Asylkompromiss von 1992

Da es sich bei der Innen- und Rechtspolitik aber zugleich um Kernbestandteile der Nationalstaatlichkeit der Mitgliedsländer handelt, kam man bei ihrer europäischen Ausgestaltung bislang nur in kleinen Schritten voran. So konnte aufgrund der Widerstände einzelner Regierungen das den Wegfall der Binnengrenzen garantierende Schengen-System zunächst nur außerhalb des EU-Rechtsrahmens als zwischenstaatliche Vereinbarung eingeführt werden. Erst nach Jahren wurde es Teil des Gemeinschaftsrechts, doch für Irland und Großbritannien gilt es bis heute nicht. Jetzt, mit den vielen Flüchtlingen, steht das Schengen-System wieder zur Disposition. Stehen doch die wieder eingerichteten Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten dazu im Widerspruch. Doch der freie Grenzverkehr ist Voraussetzung eines ungehindert funktionierenden Binnenmarktes. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission »würde eine vollständige Wiedereinrichtung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum unmittelbare direkte Kosten in Höhe von fünf bis 18 Milliarden Euro jährlich und damit 0,05 bis 0,13 Prozent des gesamten EU-Bruttoinlandsprodukts verursachen«.¹

Die Zuständigkeit für das Asylverfahren wird in der EU durch das Dubliner Abkommen geregelt. Es wurde bereits 1990 unterzeichnet, trat aber erst 1997 in Kraft. Der lange Zeitraum zwischen der Beschlussfassung und dem Inkrafttreten des Vertrags verrät, welch große Schwierigkeiten den Mitgliedsstaaten die Zustimmung machte. Nach ihm soll jenes Land über den Asylantrag entscheiden, über das der Flüchtling in die EU eingereist ist. Artikel 6 des Abkommens bestimmt: »Hat der Asylbewerber aus einem Drittstaat die Grenze eines Mitgliedsstaats illegal auf dem Land-, See- oder Luftweg überschritten, so ist der Mitgliedsstaat, über den er nachweislich eingereist ist, für die Antragsprüfung zuständig.«² Diese Regelung war seinerzeit von der Bundesrepublik durchgesetzt worden, da sie vor allem ihren Interessen dient, indem sie Flüchtlinge von den deutschen Grenzen fernzuhalten verspricht.

Die europäische Vereinbarung war 1993 Hintergrund für die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes. Der Wortlaut des erhalten gebliebenen Absatzes 1 von Artikel 16 a »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« wurde durch einen zweiten Absatz ergänzt, dessen Kernsatz lautet: »Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.«

Damit wurde das Asylrecht in Deutschland erheblich eingeschränkt. Da für die Grundgesetzänderung die Zustimmung der SPD benötigt wurde, musste auch sie eine Kehrtwende in ihrer Asylpolitik vollziehen. Der darüber erbittert geführte innerparteiliche Streit wurde erst auf einem außerordentlichen Parteitag im November 1992 mit äußerst knapper Mehrheit entschieden. Zu den Kritikern gehörte anfangs auch der ehemalige SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel, der die Konsequenzen der Neuregelung in einem treffenden Bild zusammenfasste: Ein Flüchtling müsse danach künftig aus einem Nicht-EU-Land kommend entweder über See die deutschen Küsten erreichen oder per Fallschirm herabschweben, um hier Asyl beantragen zu können. Leiter der SPD-Verhandlungsdelegation war der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder. Als Gegner einer Grundgesetzänderung ging er in die Beratungen hinein, als Befürworter kam er aus ihr heraus. Die Enttäuschung über das Einknicken der eigenen Führung führte zu einem Proteststurm, vor allem unter Parteilinken und den Jungsozialisten. Es folgte eine Welle von Austritten aus der SPD.

Für die damalige Koalition aus CDU/CSU und FDP unter Kanzler Helmut Kohl stellte die Einwilligung der Sozialdemokratie einen großen Erfolg dar, konnte doch die Bundesregierung damit den erfolgreichen Vollzug bei der Umsetzung des Dubliner Abkommens vermelden. Die Zustimmung der SPD war Ergebnis des großen öffentlichen Drucks auf sie, der durch die schnell wachsende Zahl von Zuwanderern entstand. Im Jahr 1992 war diese sprunghaft auf 1,1 Millionen angestiegen, darunter waren 450.000 Asylbewerber, und von diesen kam rund ein Drittel aus dem ehemaligen Jugoslawien. Die 1,1 Millionen entsprechen übrigens exakt der Zahl der Asylbewerber im Jahr 2015.

Warum die Grenze geöffnet wurde

Diesen »Erfolg« des Asylkompromisses von 1992 würde die Bundesregierung heute gefährden, folgte sie dem Drängen der CSU und kehrte sie zum System der nationalen Regelung des Asylverfahrens aus der Zeit vor Dublin zurück. Zugleich wäre dies als eine Botschaft an andere EU-Staaten zu werten, sich nicht länger an das Dublin-Verfahren halten zu müssen. Entsprechende Überlegungen gibt es in den hauptbetroffenen EU-Ankunftsländern Griechenland und Italien schon lange. Berlin würde zugleich den Anspruch aufgeben, die Asylpolitik Schritt um Schritt zu europäisieren. An diese Zusammenhänge erinnerte die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Januar 2016: »Damals war nämlich Deutschland die treibende Kraft hinter der Europäisierung der Asylpolitik. Der deutsche Asylkompromiss des Jahres 1992 funktionierte nur deshalb, weil man die Grundgesetzänderung durch ein ganzes Netz von internationalen Verträgen und praktischen Kooperationsformen ergänzte, die letztlich zum europäischen Asylsystem von heute führten. Es ist dies das europäische Dilemma der deutschen Politik: Man kann die internationale Zusammenarbeit nicht gleichzeitig abschaffen und neu erfinden.«

Zwar entsprach die im Herbst 2015 von der Bundesregierung angewandte Praxis der offenen Grenzen nicht dem Dublin-Verfahren, denn danach hätte jeder über Griechenland gekommene Flüchtling seinen Asylantrag dort stellen müssen und wäre dorthin zurückgeschickt worden. Doch die Bundesregierung konnte so handeln, da sie von dem im Dublin-Abkommen gleichfalls vorgesehenen Selbsteintrittsrecht eines nicht zuständigen Staates Gebrauch machte und die Flüchtlinge ins Land ließ. An der weiter bestehenden vollen Gültigkeit des Abkommens hat sie aber nie einen Zweifel aufkommen lassen. Die vorübergehende Öffnung der eigenen Grenzen wurde denn auch lediglich als das kleinere Übel gegenüber dem größeren der Wiedererrichtung befestigter innereuropäischer Grenzen angesehen.

Ziel der Bundesregierung als auch der Brüsseler Kommission ist es seit längerem, das Dublin-Verfahren wieder funktionsfähig zu machen. Dies soll auf zwei Wegen erreicht werden: Damit die Ankunftsstaaten, und hier vor allem Griechenland und Italien, nicht überlastet werden, soll zum einen ein europäischer Verteilmechanismus eingerichtet werden. Dazu fasste der Europäische Rat 2015 gleich mehrere Beschlüsse, nach denen in den nächsten zwei Jahren insgesamt 160.000 Flüchtlinge unter den EU-Staaten verteilt werden sollen. Zum anderen wurden Maßnahmen verabschiedet, um den Flüchtlingszuzug über die europäischen Außengrenzen zu stoppen. Dem dient vor allem das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016.

Mit der zügigen Realisierung dieser Maßnahmen soll verhindert werden, dass sowohl das Dubliner als auch das Schengen-Abkommen durch nationale Alleingänge, etwa durch die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen oder gar durch die Errichtung von Grenzzäunen, auf Dauer außer Kraft gesetzt werden könnten. Dies erklärt auch die auf den ersten Blick unverständlich erscheinende Kritik der Bundesregierung an der unter Führung Österreichs betriebenen Schließung der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien und damit der Westbalkanroute, nutzt doch diese Maßnahme objektiv vor allem der Bundesrepublik, da dadurch die Zahl der bei ihr ankommenden Flüchtlinge deutlich gesenkt wurde. Mit dem Festhalten am Dubliner Abkommen demonstriert Berlin, dass man, anders als in Wien oder Budapest, das Große und Ganze der europäischen Integration weiterhin im Auge behält.

Scheiterungsgründe: Abschotten …

Doch wie steht es um die Realisierungschancen dieses Vorgehens? Einen entscheidenden Nachteil hatte das Dublin-System von Beginn an: Es wurde nicht als Lastenteilungsinstrument konzipiert. Die EU-weite »Abnahme« der in den Ankunftsländern ankommenden Flüchtlinge wurde nie geregelt. Ein solches System war aber bei der Grundgesetzänderung eingefordert worden. Im »Ergebnis der Verhandlungen zu Asyl und Zuwanderung der vier Parteien« aus dem Dezember 1992 hieß es in Absatz 1: »Um nicht einzelne Länder durch die Feststellung als verfolgungssicherer Drittstaat mit den Auswirkungen von Wanderungsbewegungen insbesondere aus Osteuropa unverhältnismäßig zu belasten, tritt die Bundesrepublik Deutschland für eine europäische Lastenverteilung ein.« Seitdem sind mehr als 23 Jahre vergangen, doch bis heute gibt es diese Lastenverteilung nicht.

Die hauptbetroffenen Ankunftsstaaten Griechenland und Italien reagieren auf die ausgebliebene europäische Solidarität auf ihre Weise. Die Standards bei Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber werden so niedriggehalten, dass kaum ein Flüchtling dort bleiben will. Vor allem in Griechenland sind die Missstände derart gravierend, dass sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg als auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg nach dem Dubliner Abkommen mögliche Rücküberstellungen von Flüchtlingen aus EU-Ländern nach Griechenland mehrfach untersagt haben. Ein Asylverfahrensrecht gibt es dort bestenfalls in Ansätzen, lediglich 260 griechische Beamte widmen sich dieser Aufgabe. Griechenland wie auch Italien haben sich darauf beschränkt, die Flüchtlinge auf schnellstem Wege an die Grenze zu schaffen, damit sie nach Mitteleuropa, und hier insbesondere nach Deutschland, weiterziehen können, dorthin, wo sie ja selbst hin wollen. Durch die Schließung der mazedonischen Grenze wurde für die in Griechenland ankommenden Flüchtlinge dieser Weg zunächst einmal versperrt.

Die von Beginn an fehlende innereuropäische Lastenverteilung wird sich auch jetzt nicht herstellen lassen. Daran werden die Beschlüsse des Europäischen Rats über die EU-weite Umverteilung von 160.000 Schutzsuchenden nichts ändern. Zwar versucht man in Berlin und Brüssel, den Flüchtlingsstrom als Druckmittel gegenüber widerspenstigen Mitgliedsländern zu nutzen, um in dieser Frage endlich voranzukommen. Selbst die erpresserische Drohung des Entzugs von Mitteln aus den Regional- und Agrarfonds bei »Nichtabnahme« von Flüchtlingen bringt man dabei ins Spiel. Außerdem hat die Kommission die Änderung der Dublin-Verordnung durch »Straffung und Ergänzung mit einem Lastenteilungsverfahren oder durch Umstellung auf einen dauerhaften Verteilschlüssel«³ vorgeschlagen. Doch dies sind bloße Ankündigungen.

Vor allem die vier mittelosteuropäischen Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn beharren auf ihrem strikten Nein gegenüber solchen Plänen. Keine Bereitschaft zur Aufnahme zeigen auch die baltischen Länder. Eine besondere Enttäuschung für Berlin stellt die Haltung Frankreichs dar, das sich lediglich zur Aufnahme von 35.000 Flüchtlingen bereit erklärte. Spanien hatte angekündigt, 16.000 Flüchtlingen ins Land zu lassen, tatsächlich aufgenommen hat es bisher aber nur 18. Eine nennenswerte innereuropäische Umverteilung von Flüchtlingen ist also trotz aller Bemühungen bis heute nicht in Gang gekommen. Hier zeigen sich die Grenzen der europäischen Integration: Die EU-Länder wollen darüber, wer das Recht haben soll, auf ihrem Territorium zu leben, nicht Dritte entscheiden lassen. Und sie glauben nicht, dass in einer Umverteilung der Schlüssel zur Lösung der Flüchtlingskrise läge. Ganz im Gegenteil: Mit der damit garantierten Aufnahme in die EU – wird argumentiert – werde lediglich ein weiterer Anreiz für Fluchtbewegungen nach Europa geschaffen.

So bleibt es bei der gemeinsam betriebenen Abschottung der EU-Außengrenzen, also dem zügigen Ausbau der »Festung Europa« durch die Schaffung von immer neuen und immer weiter vorgeschobenen Gräben und Vorwerken. Dafür hat die Kommission erst im Dezember 2015 einen weitreichenden Vorschlag vorgelegt, der neben der Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex eine neu zu schaffende Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz vorsieht, der auch »ein Mandat für die Arbeit in Drittländern«4 übertragen werden soll. Ein Vorgriff auf diese Ausweitung des Aktionsradius der EU auf Drittstaaten stellt das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 dar. Eine ähnliche Vereinbarung wird mit Libyen angestrebt, nur fehlt es dort noch an einem geeigneten staatlichen Verhandlungspartner. Dabei geht es immer darum, den außerhalb der EU gelegenen Flüchtlingstransitländern die Verantwortung für die Fluchtbewegungen aufzuerlegen. Vorbild ist dabei Spanien, das bereits vor Jahren Abkommen mit Marokko und Mauretanien schloss, in denen sich diese Länder bereit erklärten, gemeinsam mit spanischen Polizeieinheiten ihre Häfen zu kontrollieren, um so das Übersetzen von Flüchtlingen auf die Kanarischen Inseln zu unterbinden.

… und »sichere« Drittländer

Ein weiteres wichtiges Instrument der Abschottung stellt das System der sicheren Drittstaaten dar. So werden jene Länder bezeichnet, bei denen man davon ausgeht, dass es in ihnen keine politische Verfolgung gibt. Auch dieses Instrument ist ein Produkt der Grundgesetzänderung. Damals lagen aber die sicheren Drittstaaten noch direkt an der deutschen Grenze. Im »Ergebnis der Verhandlungen« von 1992 heißt es: »Es besteht Einigkeit darüber, dass nach heutiger Sachlage (u. a.) für Polen, die CSFR, Österreich und die Schweiz die Feststellung gilt, dass sie sichere Drittländer sind.« All diese Länder waren damals nicht Mitglieder der EU, und die Schweiz gehört ihr bis heute nicht an. Die Klassifizierung dieser Länder als sichere Drittstaaten hatte auch deshalb so viel Bedeutung, weil ein Großteil der damaligen Flüchtlinge, die dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien zu entkommen suchten, über diese Länder nach Deutschland kamen. Das System der sicheren Drittstaaten sollte sie davon abhalten. Heute geht es um viel weiter entfernte Länder. Nachdem bereits die auf dem Westbalkan dazu erklärt wurde, sollen nun auch Algerien, Marokko und Tunesien sichere Drittstaaten werden.

Es zeigt sich bei dem System der sicheren Drittstaaten, wie auch bei den Abkommen mit den Flüchtlingstransitländern und bei der Übertragung der Verantwortung für die Asylverfahren auf die europäischen Ankunftsstaaten immer dasselbe Schema: Der Grenzschutz wird weiter vorgeschoben, er soll möglichst weit vom prosperierenden Zentrum der EU entfernt stattfinden, das sich auf diese Weise vor den Fluchtbewegungen abschirmen will. Die jüngste Flüchtlingskrise hat nun aber gezeigt, dass all diese Maßnahmen dem EU-Kern, und hier vor allem Deutschland, einen nur sehr unzureichenden Schutz bieten. Hunderttausende erreichten im Herbst 2015 dennoch die deutschen Grenzen. Wäre es nach den vereinbarten Regelungen gegangen, hätte dies jedoch niemals geschehen dürfen. Und es kommen weiterhin viele auch aus den als sicher eingestuften Drittstaaten, da sie hoffen können, legal oder illegal zumindest eine Zeitlang in einem vergleichsweise reichen Land leben zu können. Viele außereuropäische Flüchtlingstransitländer erweisen sich zudem als unsichere Kantonisten, da sie – wie jetzt die Türkei – den Flüchtlingen nach politischem Gutdünken den Weg versperren oder sie passieren lassen kann. Die europäischen Ankunftsstaaten schließlich versuchen weiter die bei ihnen anlandenden Flüchtlinge auf irgendeinem Weg nach Mitteleuropa weiterziehen zu lassen. So spricht viel dafür, dass die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik nicht in einer einheitlichen und geschlossenen Festung Europa, sondern vielmehr in einzelnen, streng voneinander abgegrenzten nationalen Burgen bestehen wird. Die zunächst von Ungarn und jetzt auch von Österreich sowie von den Staaten des Balkans errichteten Grenzzäune werden die Regel, nicht die Ausnahme sein.

Nun wird ständig betont, wie wichtig es sei, an die Wurzel zu gehen und die Fluchtursachen ins Visier zu nehmen. Es wird gefordert, endlich die Kriege zu beenden, die erst die Menschen veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Auch das ist alles andere als neu. In dem schon mehrfach zitierten »Ergebnis der Verhandlungen« von 1992 hieß es dazu im Absatz 4: »Wir brauchen aber auch ein System von Hilfen, das Fluchtursachen bekämpft und den Menschen ein Verbleiben in ihrer Heimat ermöglicht.« Die SPD brüstete sich seinerzeit stolz damit, dies hineinverhandelt zu haben. Geschehen ist seitdem aber das genaue Gegenteil. Der Irak wurde vom Westen im zweiten Golfkrieg weitgehend zerstört. In Afghanistan führt der Westen seit 15 Jahren Krieg. Aus dem funktionierenden Staat Libyen machten 2011 die Luftangriffe vor allem der EU-Staaten in wenigen Wochen ein Dorado für kriminelle Gangs und religiöse Cliquen. Und heute setzt der Westen alles daran, mit Syrien einen der wenigen säkularen Staaten des arabischen Raums auszulöschen. Ein Ende dieser imperialistischen Verbrechen ist weiterhin nicht in Sicht. Ein überzeugendes Konzept, wie in der EU mit den sich dadurch immer wieder neu ausgelösten Flüchtlingsbewegungen gemeinsam umgegangen werden kann, hat die Union aber nicht. Es ist daher nicht unmöglich, dass sie an dieser Frage eines Tages zerbrechen wird.

--

Anmerkungen

1 Zurück zu Schengen: Kommission schlägt Fahrplan für vollständige Wiederherstellung des Schengen-Systems vor, European Commission-Press-Releases vom 4.3.2016, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-585_de.htm

2 Übereinkommen über die Bestellung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedsstaat der EG gestellten Asylantrags – Dubliner Übereinkommen, 41997A0819(01), Amtsblatt Nr. C 254 vom 19.8.1997

3 European Commission – Press release, 6.4.2016 http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1246_de.htm

4 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Europäische Grenz- und Küstenwache (…), COM(2015) 671 final vom 17.12.2015

Erschienen in der Tageszeitung Junge Welt am 4. Mai 2016

Der Newsletter des MEZ Berlin

Der MEZ-Newsletter wird, mit Ausnahme der Sommerpause, monatlich über den Newsletter-Anbieter Rapidmail versandt. Wir informieren Sie darin über die im MEZ stattfindenden Veranstaltungen sowie über das Erscheinen von Publikationen.