Scheitern oder Niederlage?

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Referat in dem Seminar „Über den realen Sozialismus, dialektisches Denken und westlichen Marxismus“ am 16. November 2019 im Marx-Engels-Zentrum Berlin

Scheitern oder Niederlage?

Domenico Losurdos Sicht auf das Verschwinden des realen Sozialismus in Europa und die daraus zu ziehenden Konsequenzen

Das Ende der europäischen sozialistischen Staatengemeinschaft in den Jahren 1989/91 mit dem Ergebnis, dass in diesen Gesellschaften wieder die „kapitalistische Produktionsweise herrscht“ [1], beschäftigt auch noch 30 Jahre später Politik und Wissenschaft. Für die Linken geht es um die Aufklärung der Ursachen für den Zusammenbruch, vor allem aber um die Suche nach Antworten darauf, welche Konsequenzen heutige Kritiker des Kapitalismus daraus ziehen sollten.

Kaum ein anderer marxistischer Wissenschaftler hat sich so intensiv mit diesen Fragen beschäftigt wie der im Juni 2018 verstorbene italienische Historiker und Philosoph Domenico Losurdo. Unzählige Artikel und eine Reihe von Büchern hat er dazu veröffentlicht, viele davon sind auch auf Deutsch erschienen.[2] Auf einige wird im Folgenden eingegangen.

Kein Scheitern

Nach Losurdo müssen gängige linke Klischees und Erklärungsmuster verworfen werden, um zu einem unverstellten Blick auf die Geschichte des Sozialismus zu gelangen. Hierzu zählt er vor allem die – auch in der deutschen Partei DIE LINKE – so beliebte Kategorie des Scheiterns. Er fragt: Ist mit einem solchen Scheitern etwa vereinbar, dass „ohne den Oktober und, ganz allgemein, ohne den revolutionären Zyklus, der vom Jakobinismus zum Kommunismus hinführt, das Aufkommen und die weitere Entwicklung des Sozialstaats im Westen nicht zu verstehen“ ist? (Losurdo 2009, S.90f)

Für Losurdo kann es keinen Zweifel daran geben, dass der „Rote Oktober“ legitim war und als humanitäre Antwort auf das Versagen der demokratisch-liberalen Systeme folgte, die sich im Weltkrieg, mit den Worten Rosa Luxemburgs, als „reißende Bestien, als Hexensabbat der Anarchie“[3] erwiesen. Erst die „Wende Lenins“ öffnete den Ausweg aus dieser Nacht. Dessen Impulse sind auf drei Gebieten wirksam geworden: in der Überwindung der „Klassenaristokratie als Rassenaristokratie“, die sowohl zur Unabhängigkeit kolonialer Völker wie zur rechtlichen Gleichstellung der Farbigen in den USA und Südafrika führte. Zum zweiten in der Infragestellung der gegenüber den Frauen verhängten „Ausschlussklausel“. Und drittens löste die Wende einen Demokratisierungsschub aus, der das Zensuswahlrecht in vielen Ländern zum Einsturz brachte und damit den breiten Volksmassen überhaupt erst ermöglichte, am gesellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen, auch wenn sie fast überall ökonomisch weiter diskriminiert blieben. Zur Erreichung dieses Resultats haben sowohl die französische als auch die Oktoberrevolution erstrangige Beiträge geleistet: „Die entscheidenden Schläge, die dieser Welt versetzt wurden, sind wesentlich dafür, dass allen Menschen, unabhängig von Rasse, Zensus und Geschlecht, die Würde als soziales Subjekt, als Selbstzweck zuerkannt wird.“ (Losurdo 2013, S.84)

Was die Emanzipation der Dritten Welt angeht, so zeigt sich vollends der irreführende Charakter der Kategorie des Scheiterns, wenn man versucht, „sie auf die ehemaligen Kolonialländer und -völker anzuwenden, die ihre Unabhängigkeit und Würde auf der Woge eines Kampfes erlangt haben, der sich von der kommunistischen Bewegung hat inspirieren und vorantreiben lassen“. (Losurdo 2009, S.91) Mit Blick auf die Gründung der Volksrepublik China 1949 fragt Losurdo: „Ist die neue Lage, die sich in dem großen asiatischen Land herausgebildet hat, das Ergebnis eines ῾Scheiterns῾? Ähnliche Betrachtungen könnte man hinsichtlich Vietnams oder Kubas und nicht weniger Länder der Dritten Welt anstellen, die sich zwar nicht auf den Sozialismus berufen, aber dennoch ihre Unabhängigkeit und Würde im Gefolge der Herausforderung erreicht haben, die die Oktoberrevolution, der ῾Realsozialismus῾ und die kommunistische Bewegung dem kapitalistischen System der ganzen Welt gegenüber darstellte.“ (Losurdo / Marquit, 2005, S.8) Und mit Blick auf Russland, dem Ursprungsland des Roten Oktobers, ließe sich die Frage hinzufügen: Zeigt zumindest die Außenpolitik dieses großen Landes inzwischen nicht wieder deutlich antiimperialistische Züge? So trotzt Russland der militärischen Übermacht der USA, sieht sich als Verbündeten Chinas und zeigt Solidarität mit den vom Westen bedrängten Ländern Syrien, Venezuela, Nicaragua und Kuba. Ein solcher Blick auf die weiter anhaltende weltweite Wirkung des Sozialismus ist jedoch in Europa ungewohnt: „Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass der heutige Diskurs vom ῾Scheitern῾ grob euro-zentristisch ist.“ (Losurdo 2009, S.91)

Aus den vorgenannten Gründen spricht daher Losurdo von der Niederlage des Sozialismus und nicht von dessen Scheitern: „Die ῾Niederlage῾ (des sozialistischen Lagers) ist nicht das ῾Scheitern῾: Während letztere Kategorie ein total negatives Urteil impliziert, ist die erstere ein partiell negatives Urteil, das auf einen bestimmten historischen Kontext Bezug nimmt und es ablehnt, die Realität einiger Länder (und sogar eines Riesenlandes wie China) zu verdrängen, die sich weiterhin auf den Sozialismus berufen.“ (Losurdo 2009, S.113)

Die Leere des Verratsvorwurfs

In der deutschen Zeitschrift Informationszentrum 3. Welt (iz3w) konnte man 2009, nach der Rückkehr der Sandinisten an die Regierung Nicaraguas, lesen: „Ortegas Verrat ist eine politische Tragödie für alle, die auf der ganzen Welt ihre Hoffnung auf eine partizipatorische Demokratie in Nicaragua setzten.“[4] Das ist der klassische Verratsvorwurf, der regelmäßig an die Stelle einer nüchternen politischen Bewertung tritt. Das Beispiel zeigt, dass dieses Denken in der Linken bis heute nicht überwunden ist. Und so verwundert es nicht, dass der Vorwurf des Verrats an der Sache des Sozialismus bzw. des Kommunismus bis heute im Zentrum der Argumentation ganz gegensätzlicher Kräfte steht – wie beispielsweise sowohl von Anhängern Trotzkis wie Stalins. Und oft hüllt sich das jeweils ausgesprochene Verdammungsurteil in den Vorwurf des Revisionismus, womit er theoretisch überhöht und damit vor der Geschichte der sozialistischen Bewegung gerechtfertigt werden soll.

Gilt also den einen noch heute Leo Trotzkis Werk Die verratene Revolution als das Schlüsselbuch zur Deutung des Schicksals der Sowjetunion, so sehen die anderen – die Verehrer Stalins – in Nikita Chruschtschow den Verräter: Seine auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 vorgenommene Abrechnung mit der Person und Politik Stalins stellt etwa für den deutschen Historiker und Kommunisten Kurt Gossweiler die entscheidende Wende hin zum Niedergang der Sowjetunion und daraus folgend des gesamten Lagers des europäischen Sozialismus dar. In seinem Buch Wider den Revisionismus macht er sich in der Bewertung des 20. Parteitags das Verdikt der „konterrevolutionären Wende“ zu eigen. (Gossweiler 1997, S.326) Seit diesem 20. Parteitag ging es nach Gossweiler nur noch bergab. Am Ende erschien schließlich Michal Gorbatschow als Wiedergänger Chruschtschows: „Ja, Chruschtschow – das war der Gorbatschow der fünfziger und sechziger Jahre“. (Gossweiler 1997, S.176)

Um die wechselseitigen Vorwürfe des Verrats zu überwinden, die immer wieder aufs Neue ein Denken in Schwarz oder Weiß hervorbringen, hat Losurdo im Jahr 2008 ein umfangreiches Werk über Stalin vorgelegt. Im Vorwort benennt er die Aufgabe, die er sich damit gestellt hatte: „Der radikale Kontrast zwischen den verschiedenen Stalinbildern sollte den Historiker dazu bringen, nicht eines davon zu verabsolutieren, sondern alle zu problematisieren.“ (Losurdo 2012, S.19)

Traf zunächst erst Stalin der Vorwurf des Verrats, so entgingen ihm auch Chruschtschow und schließlich Gorbatschow nicht. Auch Deng Xiaoping gehört dazu. Ihm lastete man an, die Demokratiebewegung von 1989 unterdrückt und damit verraten zu haben. Nun ist also in der langen Reihe der Verräter an der Sache des Sozialismus Daniel Ortega dran. Das alles ist aber nicht neu. Der Bannstrahl des Verratsvorwurfs traf bereits die revolutionäre Diktatur in der Französischen Revolution, der vorgeworfen wurde die direkte Demokratie erstickt zu haben.

Domenico Losurdo fordert dazu auf, das Denken in der letztlich moralischen Kategorie des Verrats endgültig zu überwinden. Erst dann könne sich die Linke ein realistisches Bild von den Erfolgen und den Niederlagen des Sozialismus machen. Sein Urteil ist eindeutig: „Mit ihrem naiven Dogmatismus – die Bürokraten, die den Elan der Massen ersticken und die Revolution verraten, sind immer die anderen (gemeint, A.W.) –, mit ihrer endlosen Monotonie und mit ihrer universalen Anwendbarkeit auf die Krisenphänomene oder auf den Prozess der Konsolidierung und ῾Bürokratisierung῾ einer jeden Revolution zeigt die Kategorie ῾Verrat῾ ihre ganze Leere.“ (Losurdo 2009, S.93)

Flucht in die Utopie

Das hier von Losurdo vorgestellte Denken steht zudem ganz und gar im Widerspruch zu dem in der europäischen Linken heute so verbreiteten Selbsthass, der aber den Blick auf die eigene Geschichte verstellt. Dieser Selbsthass ist für ihn nichts anderes als „die feige Flucht vor dieser Geschichte und vor der Realität des ideologischen und kulturellen Kampfes, der in dieser Geschichte aufscheint“. (Losurdo 2009, S. 10) „Man versteht daher, dass es auch in der Linken nicht an denen fehlt, die die mit der Oktoberrevolution begonnene Geschichte liquidieren möchten, wobei sie ihr natürlich nicht den westlichen Kapitalismus und Liberalismus entgegensetzen, sondern die Utopie.“ (Losurdo 2009, S.101)

In Deutschland gehört zu dieser Flucht in die Utopie der Kult um Rosa Luxemburg. Nicht zufällig trägt die Stiftung der Partei DIE LINKE den Namen Rosa Luxemburg. Bei dieser Rückbesinnung auf die große marxistische Revolutionärin interessieren aber weniger ihre Verurteilung der konterrevolutionären deutschen Sozialdemokratie noch ihre Kritik an der Politik der Bolschewiki - hier vertrat sie etwa in den Fragen der Kollektivierung und der Behandlung der nichtrussischen Nationen unrealistische, wenn nicht gar sektiererische Positionen. Das Vorgehen Lenins war ihr hier nicht radikal genug. Hätte Luxemburg daher die Chance bekommen, die von ihr für Russland empfohlene Politik realisieren zu können, wären womöglich noch mehr Gewalt und Blutvergießen die Folge gewesen.

Wie Rosa Luxemburg wird heute auch Antonio Gramsci, der als Führer der italienischen Kommunisten 1927 in Haft kam und kurz nach seiner Freilassung zehn Jahre später an den Folgen der Einkerkerung starb, verklärt. Man stellt sie als leuchtende Vorbilder jenen gegenüber, die als „Revolutionäre der Macht“ die wirkliche, oft nur profane und ganz und gar unromantische Politik der kommunistischen und sozialistischen Bewegungen zu verantworten hatten. Diese Realität erscheint dann als hässliche Entstellung wenn nicht gar als Verrat. In einer Schrift der vorgenannten deutschen parteinahen Stiftung über ihre Namenspatronin heißt es denn auch: „Daneben haben Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci noch etwas gemein: Sie gerieten nie in eine Situation, selber staatliche Macht ausüben zu müssen, noch gar sich und ihre Namen mit der Beteiligung an einer diktatorischen oder sogar totalitären Herrschaft zu beflecken.“ (Schütrumph, 2006, S.10) Schlimmer noch: Den im realen Sozialismus Verantwortlichen wird der Vorwurf gemacht, den Namen der ermordeten Luxemburg zur Absicherung ihrer totalitären Herrschaft missbraucht zu haben: „Noch postum verdammten ihre Feinde im eigenen Lager ihre Ansichten über Demokratie und Freiheit, die Rosa Luxemburg als Freiheit der Andersdenkenden verstand, und missbrauchten ihren Namen für die Diktatur.“ (Schütrumph, 2006, Klappentext) Ganz offensichtlich ist es der von der Konterrevolution verantworteten Ausschaltung Gramscis und Luxemburgs zu verdanken, dass sie unbefleckt und rein bleiben, so dass sie zu Ikonen der heutigen Linken werden konnten, in deren Namen die Geschichte des konkreten, realen Sozialismus verdammt wird. Eine solche Behandlung haben aber weder Rosa Luxemburg noch Antonio Gramsci verdient.

Die in dieser Ikonisierung „unbefleckter“ Revolutionäre zum Ausdruck kommende Vorstellung, mit einer geläuterten Partei, die mit dem Wissen von heute versehen noch einmal an den Ausgangspunkt des Jahres 1919 zurückkehren kann, um nun endlich die perfekte Vereinigung von Demokratie und Sozialismus herstellen zu können, ist aber pure Utopie, ein moralisches Postulat des Sollens, das zu nichts führt.

Der nicht endende Ausnahmezustand

Losurdos kritische Sicht auf die Geschichte des europäischen Sozialismus beschränkt sich nicht auf die Bewertung jener Selbstbildnisse, die die jeweils Handelnden von sich zeichneten. Sind doch solche Zeugnisse in der Regel von Apologetik und Selbstrechtfertigung bestimmt. Er verzichtet auch auf die in den Diskussionen der Linken so beliebte Methode, die getroffenen Entscheidungen an den Aussagen der sozialistischen Klassiker, an jenen von Marx, Engels und Lenin zu messen, verführt das doch nur zu oft dazu, an die Stelle einer konkreten Analyse der konkreten Situation Wunschdenken zu setzen.

Die Historie des Sozialismus misst Losurdo vielmehr an der gesamten geschichtlichen Realität der Moderne, wobei er vor allem die konkreten Handlungen heranzieht die im Namen des Liberalismus geschahen. Losurdos Arbeitsmittel ist dabei die „allumfassende Komparatistik“. (Losurdo 2012, S.12) Denn erst durch den Vergleich mit der Realität der bürgerlichen Gesellschaft wird erkennbar, inwieweit sich die sozialistische Realität von ihr unterscheidet bzw. ihr ähnelt. Nur im Vergleich der Krisen des Sozialismus mit den dunklen Kapiteln des Liberalismus lässt sich beurteilen, ob die aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Gesellschaften wirklich als so aus der Zeit gefallen anzusehen sind, wie heute allgemein als selbstverständlich dargestellt. Die von Losurdo angewandte Methode der Komparatistik ist dabei nicht zu verwechseln mit einer Relativierung der negativen Seiten der Geschichte des Sozialismus. Dieser Vorwurf der Relativierung ist ihm gegenüber immer wieder erhoben worden. Er ist jedoch nicht haltbar, denn Losurdo hat beispielsweise die im Sozialismus begangenen Verbrechen vor, während und nach der Stalinära keineswegs bestritten sondern sogar ausführlich geschildert. In seinem Buch über Stalin spricht er etwa vom „Konzentrationslager-Universum“ der Sowjetunion der späten 30er Jahre. (Losurdo 2012, S.179 ff.)

Mit Hilfe des Vergleichs mit bestimmten Phasen der bürgerlichen Gesellschaft nähert er sich auch dem Phänomen des Ausnahmezustands, der in der Sowjetunion Zeit ihres Bestehens bestand. Es gelang ihr nicht, diesen Zustand und damit verbunden die erhebliche Einschränkung wenn nicht gar vollständige Aufhebung der sogenannten „formalen“ Freiheiten, hier vor allem des Rechts auf freie Rede, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit u.a., zu beenden. Auch den nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten europäischen Volksdemokratien gelang es nicht, sich aus diesem Ausnahmezustand zu lösen.

Diese Unfähigkeit bewertet Losurdo als entscheidendes tragisches Moment der Geschichte des europäischen Sozialismus. In seinem Buch über Stalin kommt er zu dem Resümee: „Für die drei Jahrzehnte der Geschichte Sowjetrusslands unter der Führung Stalins ist der grundlegende Aspekt nicht die Mündung der Parteidiktatur in die Autokratie, sondern der wiederholte Versuch, vom Ausnahmezustand zu einer Situation relativer Normalität überzugehen; diese Versuche scheiterten sowohl aus inneren (die abstrakte Utopie und der Messianismus, die es verhinderten, sich mit den erzielten Resultaten zu identifizieren) als auch aus internationalen Gründen (die permanente Bedrohung, die auf dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Land lastete) bzw. aus der Verflechtung beider.“ (Losurdo 2012, S.169 f.)

Nun ist es aber keineswegs so, dass ein solcher Ausnahmezustand in Form der Suspendierung demokratischer Spielregeln für die Geschichte der modernen Welt ganz und gar ungewöhnlich ist. Auch liberale Politiker und Gelehrte griffen immer wieder auf dieses Mittel zurück bzw. rechtfertigten es. Losurdo geht zum Beweis weit in die Geschichte der Staats- und Verfassungsdiskussion Englands, der USA und Frankreichs zurück. Er untersucht die Schriften von John Locke, Charles Montesquieu und John Stuart Mill darauf, wie sie es mit der absoluten Unverletzlichkeit der demokratischen Spielregeln gehalten hatten. Er fördert dabei Erstaunliches zutage: „Für Locke (...) steht außer Frage, dass eine Krisensituation von einer Macht bewältigt werden könne und müsse, die an keine ‚Regel‘, d.h. an keine Beachtung der Spielregeln gebunden ist. Montesquieu, Bewunderer des liberalen England, hegt keinen Zweifel daran, dass es ‚zur Gewohnheit der freiesten Völker, die je auf der Erde gelebt haben‘ gehöre, ‚eine Zeitlang einen Schleier über die Freiheit zu legen, so wie man die Götter verbirgt‘. Einige Jahrzehnte später wird dann John Stuart Mill erklären, dass es in Fällen von ‚extremer Notwendigkeit‘ oder ‚Krankheit des politischen Körpers, die nicht mit weniger gewalttätigen Methoden geheilt werden kann‘, voll und ganz zulässig sei, die ‚absolute Macht unter Form einer befristeten Diktatur zu ergreifen‘ “. (Losurdo 1995, S.98)

 

Losurdo erinnert an den mit despotischen Mitteln geführten Kampf gegen die Sklaverei ausgerechnet in jenem Land, das sich heute der gesamten Welt als das leuchtende Vorbild der Freiheit präsentiert. Im Ergebnis des amerikanischen Bürgerkriegs errichten die siegreichen Yankees unter der Präsidentschaft Abraham Lincolns mit dem Ziel der Herstellung der Einheit des Landes eine terroristische Militärdiktatur über die Südstaaten, wobei sie etwa in Texas kurzerhand die Verfassung außer Kraft setzen. Nur diese Diktatur über die Konföderation macht die Abschaffung der Sklaverei im Jahre 1865 überhaupt erst möglich, eine Maßnahme, zu der die damals von Sklaverei profitierenden wahlberechtigten Weißen freiwillig und demokratisch niemals ihre Zustimmung gegeben hätten. Folgerichtig kehrt mit der Beendigung dieser Diktatur und der Rückkehr der lokalen Selbstregierung auch die weiße Vorherrschaft wieder, aus der sich die Schwarzen erst gut einhundert Jahre später nach einem jahrzehntelangen Kampf der Bürgerrechtsbewegung selbst befreien, ohne dass allerdings damit bis heute alle Diskriminierungen beseitigt wären.

 

Losurdo weist darauf hin, dass kein geringerer als Adam Smith bereits Jahrzehnte vor dem amerikanischen Bürgerkrieg eine solche Konstellation für unausweichlich gehalten hatte: „Dieser stellte fest, dass die Sklaverei leichter unter einer ‚despotischen Regierung‘ unterdrückt werden kann als unter einer ‚freien Regierung‘ unter der ‚jedes Gesetz von ihren (der Sklaven; A.W.) Herren gemacht wird, die niemals eine für sie selbst schädliche Maßnahme passieren lassen‘. Mit Blick auf die englischen Kolonien in Amerika, wo es eine Art lokaler Selbstverwaltung der weißen Siedler gab, die oft Sklavenhalter waren, beobachtet Smith: ‚Die Freiheit des freien Mannes ist der Grund für die große Unterdrückung der Sklaven. Und sofern diese den größten Teil der Bevölkerung stellen, wird niemand, der mit Humanität begabt ist, die Freiheit in einem Lande wünschen, in dem diese Institution (die Sklaverei; A.W.) herrscht‘“. (Losurdo 2001, S. 22) Wem käme dabei nicht der dialektische Gedanke von Bertolt Brecht aus dem Buch der Wendungen in den Sinn, in dem er Mi-en-leh (Lenin) sagen lässt: „Das Einführen der Demokratie kann zur Einführung der Diktatur führen. Das Einführen der Diktatur kann zur Demokratie führen“.[5]

 

Es gibt aber nicht nur lang zurückliegende Beispiele für die Verhängung des Ausnahmezustands in Gesellschaften des Westens. Auch in der Neuzeit werden Verletzungen der demokratischen Spielregeln von den Herrschenden toleriert – sofern sie in ihr strategisches Kalkül passen. Dazu gehört etwa der Putsch in Chile 1973, an dessen Einfädelung der hochrangige US-amerikanische Politiker Henry Kissinger maßgeblich beteiligt war. Der sich an die Regierungsspitze putschende General Pinochet sagte über das Ereignis, dass eine „Demokratie gelegentlich in Blut gebadet werden müsse, damit die Demokratie fortbestehen kann“.[6] Losurdo nennt weitere Beispiele: „1991 wurden in Algerien durch einen Staatsstreich die Wahlen annulliert, die die Islamische Heilsfront an die Macht gebracht hätten. Bei der Errichtung der Militärdiktatur, die sie mit der großen Gefahr für das Land und seinen Modernisierungsprozess rechtfertigten, beriefen sich die Generäle auf den Ausnahmezustand.“ (Losurdo 2009, S.30) Vergleichbares wiederholte sich 2013 in Ägypten, als das Militär den rechtmäßig gewählten Präsidenten Mohamed Mursi unter dem Applaus der Regierungen Washingtons, Paris′, Londons und Berlins stürzte und ins Gefängnis steckte. Das Resümee Losurdos aus diesen Beispielen ist eindeutig: „Über den Ausnahmezustand, der die Suspendierung der geltenden Spielregeln rechtfertigt, hat immer und ausschließlich der liberale, kapitalistische und imperialistische Westen zu entscheiden. (…) Wenn souverän der ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet, dann ist klar, dass der Souverän par excellence in Washington sitzt.“ (Losurdo 2009, S31)

Illusionen und Fehler der Revolutionäre

Domenico Losurdo ist weit davon entfernt, die Niederlagen des Sozialismus allein mit der Politik der Eindämmung, Einkreisung und Aggression seitens des Imperialismus zu erklären. Diese Politik hatte wohl einen gewichtigen Anteil daran, aber es gab auch interne Ursachen für den Niedergang.

Einen der Gründe sieht Losurdo darin, dass sich die wirklichen Erfolge des mit der Oktoberrevolution eingeleiteten Revolutionszyklus nur schwer mit dem Bild der Revolutionäre von ihrem eigenen Handeln in Deckung bringen ließen. Revolutionen neigen dazu, sich als die Lösung jedweder Menschheitsprobleme zu verstehen. Das gilt für die Englische wie für die Französische und ebenso für die Russische Revolution. Und für die Chinesische kann gesagt werden, dass sie ihre radikale Phase in der Kulturrevolution durchlebte und durchlitt. Alle Revolutionen haben ihren Extremismus und aggressiven Universalismus als endgültige Lösungen und dann gleich für die ganze Menschheit präsentiert. Dieser revolutionäre Anfangselan hat aber zwei Seiten: „Einerseits stimuliert die abstrakte und emphatische Utopie die Begeisterung der Massen, die notwendig ist, um den hartnäckigen Widerstand des Ancien Régime zu brechen, andererseits erschwert sie den Aufbau der neuen Gesellschaft.“ (Losurdo 2009, S.103)

Als besonders hinderlich erwies sich in der jungen Sowjetunion wie im kulturrevolutionären China die Hoffnung auf einen weitgehend konfliktfreien Zustand, auf die „Ankunft eines Kommunismus (…) der phantastischen Art“ (Losurdo 2009, S.51). Hierzu gehören die Erwartungen von einem umgehenden Überflüssigwerden des Marktes, des Geldes, der Verfassung, der Parlamente, ja sogar der Familie. Nach Losurdo fehlte der russischen bolschewistischen Partei weitgehend eine revolutionäre Theorie für die Errichtung der neuen Gesellschaft, „denn die eschatologische Hoffnung auf eine vollständig versöhnte Gesellschaft ohne jegliche Widersprüche und Konflikte kann gewiss nicht als eine Theorie der zu errichtenden nachkapitalistischen Gesellschaft betrachtet werden.“ (Losurdo 2009, S.52)

Falsches Staatsverständnis

Zu dieser idyllischen Vorstellung von einem harmonischen Zustand nach der Revolution gehört für den Hegelianer Losurdo vor allem der falsche Begriff von der historischen Rolle des Staates. Die These vom „Absterben des Staates“ mündete „in der eschatologischen Vision einer konfliktfreien Gesellschaft, die folglich auch keine juridischen Normen brauchte, um Konflikte zu begrenzen und zu regeln“. (Losurdo 2009, S.64) Die Ursachen für dieses falsche Staatsverständnis sieht Losurdo bereits in manchen Äußerungen von Marx und Engels zum Staat angelegt, auch wenn er beiden Stammvätern über die Jahre hier schwankende Haltungen zugesteht. (vgl. Losurdo 2000, S.89 ff.) Zur Desorientierung trug auch Lenins Werk Staat und Revolution bei, das kurz vor dem Roten Oktober mit Blick auf von den Bolschewiki umworbene anarchistische Strömungen geschrieben wurde. Losurdo verweist hier auf die Leistung Antonio Gramscis, „dem das enorme historische Verdienst zukommt, als erster über ein wirksames, radikales Emanzipationsprojekt nachgedacht zu haben, das dennoch nicht von sich behauptet, das Ende der Geschichte zu sein“. Heute geht es darum, „eine klare Trennlinie zwischen Marxismus und Anarchismus zu ziehen und dabei endgültig Abschied zu nehmen von abstrakten Utopien, aber gleichzeitig die historischen Gründe ihrer Entstehung darzulegen“ (Losurdo 2009, S.67). Was das erwartete Absterben des Staates angeht, so sprach hier übrigens die Praxis in den sozialistischen Ländern eine ganz andere Sprache. Von einer Abschwächung des staatlichen Gewaltmonopols war dort jedenfalls nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil!

Versagen in der nationalen Frage

Das europäische sozialistische Lager unter Führung der Sowjetunion war auch unfähig, eine adäquate Antwort auf die nationale Frage zu geben. Losurdo sieht hierin den größten Mangel des Systems. Ungelöste nationale Konflikte lagen in letzter Instanz allen Krisenmomenten dieses Lagers zugrunde, angefangen beim Bruch mit dem Jugoslawien Titos 1948, über die Invasionen in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968, dem Schisma zwischen der UdSSR und China am Beginn der sechziger Jahre bis hin zu dem Polen 1981 aufgenötigten Kriegsrecht. Für den Autor steht fest, dass „die Auflösung des sozialistischen Lagers nicht zufällig an der Peripherie des ῾Imperiums῾ begonnen (hat), in Ländern, die seit längerer Zeit unzufrieden waren mit der ihnen aufgezwungenen beschränkten Souveränität“ (Losurdo 2009, S.46 f.). Den entscheidenden Anstoß zum Zusammenbruch der Sowjetunion leisteten denn auch nicht zufällig die baltischen Staaten, also jene Länder, „in die der Sozialismus 1939/40 exportiert worden war“ (Losurdo 2009,S. 47).[7]

Über die Schwierigkeit einer dauerhaften Etablierung des Sozialismus

Aber gibt es nicht bei all den aufgezählten Fakten, die zur Niederlage beitrugen, nicht auch den einen entscheidenden Grund für den Zusammenbruch des europäischen Sozialismus? Losurdo vergleicht die Geschichte der Sowjetunion mit der Frankreichs seit den Tagen der Revolution von 1789: „Wie Gramsci klar gemacht hat, genügt die Eroberung der Macht allein noch nicht, um eine Revolution als wahrhaft vollendet betrachten zu können; notwendig ist darüber hinaus die Entdeckung oder der Aufbau der institutionellen und juristischen Mechanismen der regulären und geordneten Machtausübung. Aus diesem Grund erstreckt sich die bürgerliche Revolution in Frankreich über einen Zeitraum von 1789 bis 1871. In all diesen Jahrzehnten erprobt die neue herrschende Klasse über Versuche und Irrtümer, Widersprüche und Kämpfe die verschiedensten politischen Regime: konstitutionelle Monarchie und Republik, jakobinische Diktatur und Militärdiktatur, Kaiserreich und bonapartistisches Regime (…). Aber erst mit der Liquidierung der Pariser Kommune und der Errichtung der Dritten Republik, mit der Einführung eines repräsentativen Systems, das auf der Konkurrenz mehrerer Parteien, aber gleichzeitig auf der soliden Kontrolle durch eine einzige Klasse beruhte, fand die französische Bourgeoisie die politischen und sozialen Formen für ihre Machtausübung unter normalen Bedingungen.“ (Losurdo 2005, S.16. f.)

Vergleichbares ließe sich über Italien und über Deutschland sagen. Erst 1949, mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und damit 100 Jahre nach der bürgerlichen Revolution von 1848, gelingt es der deutschen Bourgeoisie eine stabile Ordnung als Grundlage für ihre Herrschaft zu etablieren. Gestärkt wurde ihre Machtstellung mit der Einverleibung des zweiten deutschen Staates, der DDR. Damit verschwindet auch die aus dem Roten Oktober herrührende Systemkonkurrenz auf deutschem Boden.

Eine vergleichbare dauerhafte Etablierung ihrer Macht gelang dem europäischen Sozialismus nicht: „Die Klasse (oder der soziale Block), die sich vornimmt, die Bourgeoisie abzulösen, hat eine noch schwierigere Aufgabe vor sich. Sie muss nicht nur ein politisches Regime ῾erfinden῾, sondern auch neue soziale Verhältnisse, die nicht präexistieren, wie es für die bürgerlichen sozialen Verhältnisse schon innerhalb der alten Gesellschaft gilt, sie können vielmehr erst nach der Machteroberung aufgebaut werden. (…) Dass diese Aufgabe, noch erschwert durch die Politik der Eindämmung, Einkreisung und Aggression seitens des Imperialismus, nicht gelöst wurde, hat zur Niederlage des Sozialismus geführt.“ (Losurdo 2005, S.17).

Der Sozialismus unterlag aber „nur“ in Europa. In anderen Weltregionen, etwa in China und Vietnam konnte er hingegen - vor allem aufgrund der klugen Einpassung derer Ökonomien in eine globalisierte Weltwirtschaft - überleben und sich politisch stabilisieren. Und so entscheidet sich heute vor allem in China, ob die historische Phase, die mit dem Roten Oktober 1917 begann, als Alternative gegenüber dem Kapitalismus weiter existieren wird.

 

[1] Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Marx-Engels-Werke Band 23, S. 49, Berlin 1962

[2] Eine Aufstellung der von Domenico Losurdo auf Deutsch erschienenen Bücher findet sich auf der Website des
  Marx-Engels-Zentrums Berlin, https://www.mez-berlin.de/contao/preview?calendar=63

[3] Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie, in: Politische Schriften II, 1972, Frankfurt am Main, S.20

[4] Roger Burbach, »Et tu, Daniel? Ortegas Verrat an der sandinistischen Revolution«, in: Iz3W, Juli/August 2009

[5] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Band 12, S. 434, Berlin

[6] Der Spiegel, Nr. 40, 1. Oktober 1973, S. 114

[7] Vgl. dazu auch: Luciano Canfora, Die Freiheit exportieren. Vom Bankrott einer Idee, Köln 2008

 

Literaturverzeichnis

Gossweiler, Kurt (2001) Genosse Domenico Losurdos Flucht aus der Geschichte. Kritische Anmerkungen, in: Streitbarer Materialismus Nr. 24, München, S. 129-205

Losurdo, Domenico (1995) Nach dem Zusammenbruch: Rückkehr zu Marx, in: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 5, Berlin

ders. (2000) Der Marxismus Antonio Gramscis, Von der Utopie zum ῾kritischen Kommunismus῾, VSA-Verlag Hamburg, 1. Auflage. Titel der italienischen Originalausgabe Antonio Gramsci dal liberalismo al ῾comunismo critica῾, Roma 1997

ders. (2000a) Die Linke, China und der Imperialismus, Marxistische Blätter (Flugschriften 02), Neue Impulse Verlag Essen, Originalausgabe La sinistra, la Cina e l´imperialismo, Napoli 1999

ders./ Marquit, Erwin (2005) Zur Geschichte der kommunistischen Bewegung, Marxistische Blätter (Flugschriften 20), Neue Impulse Verlag Essen

ders. (2009) Flucht aus der Geschichte? - Die russische und die chinesische Revolution heute. Neue Impulse Verlag, Essen

ders. (2012) Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende. Mit einem Essay von Luciano Confora, PapyRossa Verlag Köln, Titel der italienischen Originalausgabe Stalin. Storia e critica di una leggenda nera. Co nun saggio di Luciano Confora, Roma 2008

ders. (2013) Das 20. Jahrhundert begreifen, PapyRossa Verlag Köln.
Titel der italienischen Originalausgabe Il peccato originale del Novecento, 1998 Roma-Bari

Schütrumpf, Jörn (Hrsg.) (2006) Rosa Luxemburg oder: Der Preis der Freiheit, Karl Dietz Verlag Berlin

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