Sind die USA überhaupt eine Demokratie?
von Andreas Wehr
Der Marxismus Domenico Losurdos - Über den Zusammenhang seines Denkens (Teil 14)
In seinem Buch „Demokratie oder Bonapartismus“ setzt sich Domenico Losurdo vor allem mit der Geschichte der USA auseinander. Zwar werden ebenso die Kämpfe um Demokratie in Großbritannien, Frankreich und Deutschland reflektiert, doch die USA stehen eindeutig im Mittelpunkt. Dies entspricht zum einen ihrer Bedeutung als die dominierende Macht des Westens. Zum anderen ist in keinem anderen Land als in den USA der Bonapartismus bzw. der – nach Losurdo - „moderne Bonapartismus“ bzw. „Soft-Bonapartismus“ so prägend wie dort. Hinzu kommt hier die Lebendigkeit der „imperialen Mission“, die den Bonapartismus auszeichnet: Gemäß Losurdo ist „in Europa jede Idee der imperialen Mission und der göttlichen Auserwähltheit, die von dem einen oder anderen Land vorgebracht wird, unglaubwürdig; es gibt keinen Raum mehr für die imperial-religiöse Ideologie, die eine so zentrale Rolle in den Vereinigten Staaten spielt.“ [1]
Legendär ist die Macht des US-Präsidenten, von dem es zu Recht heißt, dass er der mächtigste Mensch der Welt ist. Nach dem Buchautor Stephan Bierling sind „der Präsident und sein Stellvertreter die einzigen beiden aus nationalen Wahlen hervorgehenden Amtsträger in den USA. Während parlamentarische Systeme die Posten von Regierungschef und Staatsoberhaupt trennen, vereint sie die amerikanische Verfassung in einer Person.“ [2] Die Mitglieder der Regierung, die Minister, haben dementsprechend eine deutlich geringere Bedeutung als ihre Kollegen in den anderen westlichen Regierungssystemen. Kabinettssitzungen finden oft nur dann statt, wenn der Präsident sie für sinnvoll ansieht. Über die erste Präsidentschaft von Trump heißt es bei Bierling in seinem Buch „Die Unvereinigten Staaten“: „Trump ernannte loyale Unterstützer und Spendensammler und hielt Kabinettsitzungen nur ab, um sich huldigen zu lassen.“ [3] Vor allem in der Außenpolitik ist der Nationale Sicherheitsrat viel wichtiger als das Kabinett. Es gibt ihn seit den 1960er Jahren: „Die Zahl seiner Mitarbeiter stieg von ein paar Dutzend bei John F. Kennedy bis auf 370 unter Biden.“ [4]
Eine beliebte Form des Regierens von US-Präsidenten besteht im Erlass von Dekreten. Nach Beginn seiner zweiten Präsidentschaft erließ Donald Trump gleich am ersten Tag dutzende davon. Dabei wurde oft als Rechtsgrundlage die Geltendmachung eines nationalen Notstands genannt. So hatte Trump sich bei der Verhängung von hohen Zöllen gegen nahezu alle Handelspartner der USA auf den International Emergency Economic Powers Act (IEEPA), ein Notstandsrecht von 1977 (!), berufen.
Herr über Krieg und Frieden
Weitreichend sind die Rechte eines US-Präsidenten bei der Kriegsführung. Offiziell besitzt zwar nur der Kongress das Recht, Krieg zu erklären. Doch immer wieder verkündeten US-Präsidenten Notfälle, mit der der Kongress umgangen wurde: „Ford erteilte der Marine vor Kambodscha Feuerbefehl, Carter ordnete eine militärische Befreiung der US-Geiseln in Teheran an, Reagan schickte Soldaten in den Libanon und nach Granada und ließ Libyen sowie iranische Ziele bombardieren. Bush Senior entsandte Truppen nach Panama und Somalia. Clinton setzte Militär in Irak, Haiti, Bosnien, Afghanistan, Sudan und Kosovo ein – alles ohne parlamentarische Zustimmung.“ [5] Zur Liste der angegriffenen Staaten gehören inzwischen auch der Jemen, der in den ersten Wochen der zweiten Amtszeit von Trump bombardiert wurde, und im Juni 2025 erneut der Iran. Im gleichen Jahr wurde Venezuela mit Krieg gedroht und Raketen auf Stellungen vermeintlicher Terroristen in Nigeria gefeuert.
Als Konsequenz aus der ab den 1960er-Jahren zunächst schleichenden, dann immer tieferen Verwicklung der USA in den Konflikt um Vietnam wurden die Stimmen lauter, die eine Wiederholung dieses Desasters durch eine gesetzliche Regelung ein für allemal verhindern wollten, schließlich hatte sich der Einsatz zum größten Krieg der USA seit Ende des Koreakriegs entwickelt. Es starben 58.200 Soldaten, 153.303 wurden verwundet, und das alles ohne Entscheidung des Kongresses über die Beteiligung des Landes am Krieg. Allein die Präsidenten, von Kennedy bis Nixon, trafen die Entscheidungen selbstherrlich. Nach Ansicht des Kongresses sollte es nicht noch einmal dazu kommen. Nach langen Debatten einigte man sich darauf, ein Gesetz über die Kriegsvollmachten des Präsidenten einzubringen. Am Ende wurde der sogenannte „War Power Act“ vorgelegt: Nach dem Willen des Kongresses sollte „das Weiße Haus künftig in der Pflicht (stehen), jeden Militäreinsatz vom Kongress genehmigen zu lassen – entweder im Vorweg oder spätestens 60 Tage nach Beginn einer kriegerischen Handlung. Ohne diese Zustimmung würden die Truppen umgehend nach Hause beordert.“ [6]
Doch die nach langen Verhandlungen zwischen Kongress und Weißem Haus am Ende getroffene Vereinbarung fiel harmlos aus und schränkte die Rechte des Präsidenten kaum ein. Im Text hieß es schließlich: „'Der Präsident soll bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit dem Kongress Rücksprache halten, ehe Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Kampfhandlungen geschickt werden, (…) und er soll nach jeder Entsendung regelmäßig den Kongress konsultieren.' Rücksprache halten und konsultieren, so sich denn eine Gelegenheit bietet – mit wachsweichen, deutungsoffenen Formulierungen machte man die Verfassung zu Altpapier.“ [7] Und so endeten denn auch nicht die Kriege der USA, die selbstherrlich durch einsame Entscheidungen des Präsidenten regelmäßig vom Zaun gebrochen werden.
Die Angst vor der Revolte
Obwohl jeder einzelne US-Staat bei der Formulierung der Verfassung der USA peinlich genau auf die Wahrung seiner Rechte bestand, etwa durch die Garantie, dass jeder Staat mit der gleichen Zahl an Senatoren bedacht wird, so wurde, im Widerspruch dazu, mit dem Amt des Präsidenten zugleich eine Institution geschaffen, dem weitreichende Rechte zugestanden wurden, die an die eines Monarchen heranreichen. Diese enorme Macht des Präsidenten ist in der Verfassung der Vereinigten Staaten seit ihrer Verabschiedung 1787 fest verankert. Sie entstammt damit einer Zeit, in der nur weiße, wohlhabende Männer das Sagen hatten, die in der Regel auch Sklavenbesitzer waren: „It was written by a collection of wealthy slavers, wealthy colonizers, and wealthy antislavery white men who were nonetheless willing to compromise and profit together with slavers and colonizers. At no point have people of color or women been given a real say in how it was written, interpreted, or amended.” [8]
In „Demokratie oder Bonapartismus“ ist Domenico Losurdo auf die Beweggründe eingegangen, die zur Verankerung dieser Machtfülle der US-Präsidenten in der Verfassung führte: „Das entscheidende Ereignis (…) ist die Revolte, die sich in den Jahren 1786/87 in Massachusetts entwickelte, getragen von armen und verschuldeten Bauern. Sie wurden angeführt von Daniel Shays, einem pensionierten Oberst des über England siegreichen Kontinentalheeres, und sie rebellierten gegen die Zwangsversteigerung ihres Landes und ihrer Besitztümer zu einem zu geringen Preis und außerdem gegen die Strafe der Schuldenhaft. In diesem Punkte ist die amerikanische Gesetzgebung hart und erbarmungslos.“ [9]
Losurdo nahm damit eine These auf, die zuvor schon von kritischen US-amerikanischen Historikern aufgestellt worden war, etwa von Howard Zinn: „By 1787 there was not only a positive need for strong government to protect the large economic interests, but also immediate fear of rebellion by discontented farmers. The chief event causing this fear was an uprising in the summer 1786 in western Massachusetts, known as Shays´Rebellion.“ [10]
Nach Domenico Losurdo ging „bei den Protagonisten der Wende (im Verfassungskonvent von Philadelphia, A.W.) die beherrschende Sorge dahin, die wirksamsten Instrumente zur Unterdrückung eventueller Erhebungen des Volkes bereitzustellen. Blättern wir in den Seiten von 'The Federalist`: Dauernd wiederholt sich der Hinweis auf die Revolte Shays’ und auf den 'Bürgerkrieg' in Massachusetts sowie auf die Notwendigkeit, eine Macht einzusetzen, die fähig sein sollte, 'die Gewalttätigkeit der Aufwiegler zu brechen und zu kontrollieren' (…) und ebenso die 'Anarchie, die uns aus der Nähe bedroht' (…). Ständig lauert die Gefahr von 'Kriegen und Revolutionen', und 'um den Staat vor diesen beiden tödlichen Übeln der Gesellschaft zu schützen', muss man über wirksame 'bewaffnete Kräfte' verfügen (...). Diese sind in erster Linie wegen der Bedrohung vonnöten, die aus dem Landesinneren kommt, wie der wohlbekannte Fall von Massachusetts ebenso zeigt wie der von Pennsylvania, wo selbst jene, die am meisten zögerten, sich von der Notwendigkeit eines stehenden Heeres überzeugt haben, zumindest 'so lange, wie der sei es auch nur geringste Anschein von Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht' (…). Um auf jeden möglichen Fall vorbereitet zu sein, ist eine Regierung, die mit 'Energie' ausgestattet ist, absolut notwendig (…), eine 'starke Exekutive' (…), die eventuell auch der 'ungünstigen Stimmung des Volkes' zu trotzen vermag und 'imstande ist, die eigene Meinung mit Entschiedenheit und Energie durchzusetzen' (…), eine Exekutive, die in der Lage ist, in zentralisiertem Verfahren über die bewaffneten Kräfte zu verfügen, notfalls inbegriffen 'die Miliz der einzelnen Staaten' (…). Man versteht nun die These derer, die im Konvent von Philadelphia nicht einfach nur einen 'friedlichen coup d‘ état' haben sehen wollen – diese Interpretation ist weit verbreitet -, sondern einen Staatsstreich, der (Losurdo zitiert hier aus dem Buch „Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik“ von Hans-Ulrich Wehler, A.W.) 'dem Modell des Leviathan-Staates' folgt und 'den Sieg von Hobbes über Locke darstellt'.“ [11] Die starke Stellung des US-Präsidenten, die von der Verfassung vorgegeben ist, ist daher alles andere als zufällig. Sie ist Ausdruck der inneren Klassenkämpfe im Lande, der immer wieder aufs Neue drohenden sozialen Revolte.
Der US-Präsident als Soft-Bonapartist
Nach Losurdo „handelt es sich in den USA um einen Soft-Bonapartismus, der sich, wenn eine Krisensituation es erfordert oder zu erfordern scheint, angesichts der dem Präsidenten zugestandenen großen Machtbefugnisse auf schmerzlose Weise in einen harten und kriegerischen verwandeln kann, der fähig ist, seine eiserne Faust durchzusetzen“ [12] So geschehen nach der überraschenden Entscheidung des Präsidenten Woodrow Wilson 1917 an der Seite der Entente die USA in den Ersten Weltkrieg zu führen. Und sogleich ging die Justiz mit rabiaten Methoden gegen jegliche Kritik am Kriegseintritt vor: „Ausgestattet mit dem Gummiparagraphen des 'Espionage Act' und des 'Sedition Act' wurden von 1917 bis 1919 über 2.600 Verfahren wegen 'Aufwiegelung' eingeleitet, etwa die Hälfte endete mit Schuldsprüchen und Gefängnisstrafen.“ [13] Die Delikte waren harmlos, die Strafen dafür hingegen drakonisch: „Drei Monate Haft wegen der Beschimpfung Woodrow Wilsons als 'verdammter Idiot'; ein Jahr Haft wegen der öffentlichen Kritik an der Wehrpflicht; ein Jahr wegen Unterstützung von 'Illoyalen'; drei Jahre wegen übertrieben emotionaler Bindung an Deutschland (...). [14] In seinem Buch „Weißglut. Die inneren Kriege der USA“ listet der Historiker Bernd Greiner dutzende solcher Willkürakte der Justiz auf. Es sind Beispiele dafür, wie sich ein Soft-Bonapartismus von heute auf morgen in einen harten und kriegerischen verwandeln kann.
Wenn Losurdo von Bonapartismus als bürgerlicher Herrschaftsform spricht, bezieht er sich nicht allein auf Napoleon III., des Neffen Napoleon Bonapartes, der zwischen 1850 und 1871 herrschte. Im Unterschied zur Schrift von Karl Marx „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ und jener späteren Theoretiker des 20. Jahrhunderts, die Marx' Analyse zur Deutung des italienischen und des deutschen Faschismus heranzogen, lässt Losurdo die Herrschaftsform des Bonapartismus bereits mit dem ersten Napoleon, mit Napoleon Bonaparte beginnen.
Überaus erhellend in diesem Zusammenhang ist ein direkter Vergleich zwischen Napoleon Bonaparte und dem ersten US-Präsidenten, Georg Washington, der übrigens seinerzeit als der reichste Mann der Vereinigten Staaten galt. Losurdo zitiert dazu aus Frédéric Bluche, Le bonapartisme. Aux origines de la droite autoritaire: „Im Exil auf St. Helena kommt Napoleon auf das Thema zurück: Als ich an die Macht kam, hätte man es gern gesehen, dass ich ein Washington geworden wäre (...) Wäre ich in Amerika gewesen, wäre ich gerne ein Washington geworden (…) Was mich betrifft, so konnte ich nichts anderes sein als ein gekrönter Washington.“ [15]
Napoleon Bonaparte gilt in der Geschichte als rücksichtsloser Diktator und Eroberer fast ganz Europas, der zuvor die Französische Revolution brutal beendet und ihre Errungenschaften wie das allgemeine Männerwahlrecht sowie die Befreiung der Sklaven in Übersee rückgängig gemacht hat. Und ausgerechnet er vergleicht sich am Ende seines Lebens mit dem amerikanischen Staatsmann, mit jenem Politiker also, der als erster Präsident der USA als Inkarnation der westlichen Demokratie schlechthin gilt!
In dem Regierungssystem der USA sieht Losurdo einen Bonapartismus verwirklicht, den er als „Soft-Bonapartismus“ bezeichnet und der bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Der Begriff Soft-Bonapartismus dürfte dabei wohl eine Anlehnung an das Wort Soft-Power sein, mit der eine Machtausübung vor allen mit Hilfe von Ideologien und kulturellen Haltungen beschrieben wird.
Bereits die im Konvent von Philadelphia angenommene amerikanische Verfassung trägt, nach Losurdo, autoritäre, bonapartistische Züge. War es in Frankreich Napoleon I., der mit seinem Staatsstreich 1799 die französische Revolution für beendet erklärte, „so schließt die amerikanische endgültig 1788-89 mit der Verabschiedung der neuen Verfassung ab. (...) Auf innenpolitischem Gebiet handelt es sich in dem einen wie im anderen Fall darum, die radikalen Tendenzen, die im Laufe der vorangegangenen Umwälzungen aufgetreten waren, wieder zu absorbieren und abzuwürgen.“ [16] Für die jungen USA benennt Losurdo hier jene vorangegangenen Aufstände armer und verschuldeter Bauern in Massachusetts unter der Führung Daniel Shays, die die herrschende Oberschicht tief verschreckt hatten. In Frankreich wie in den USA führen die akuten gesellschaftlichen Krisen dazu, dass ein ruhmumstrahlter General zur Macht aufsteigt: Napoleon I. in Frankreich, George Washington in den USA.
Die bis heute überragende Machtstellung des US-Präsidenten ist immer wieder Gegenstand kritscher Betrachtungen. So sah der österreichische Rechtswissenschaftler Hans Kelsen in der hervorgehobenen Stellung des US-Präsidenten eine Schwächung des Prinzips der Volkssouveränität: „Es ist beinahe eine Ironie der Geschichte, wenn eine Republik wie die Vereinigten Staaten von Amerika das Dogma von der Gewaltentrennung gläubig übernimmt und gerade im Namen der Demokratie auf die Spitze treibt. Allerdings ist die Stellung des Präsidenten der Vereinigten Staaten bewusst jener des Königs von England nachgeahmt. Wenn in der sog. Präsidentschaftsrepublik die vollziehende Gewalt einem Präsidenten übertragen wird, der nicht aus der Volksvertretung hervorgeht, sondern unmittelbar durch das Volk gewählt ist, und wenn auch in anderer Weise die Unabhängigkeit des mit der vollziehenden Gewalt betrauten Präsidenten gegenüber der Volksvertretung gesichert ist, so bedeutet dies – so paradox es auch erscheinen mag – eher eine Schwächung als – wie vermutlich beabsichtigt – eine Stärkung des Prinzips der Volkssouveränität. Denn wenn dem nach Millionen zählenden Volke der Wähler nur ein einziger als Gewählter gegenübersteht, dann muss der Gedanke der Repräsentation des Volkes den letzten Schein von Berechtigung verlieren.“
Die USA als klassisches Land der De-Emanzipation
Anders aber als Frankreich, dass nach dem Ende der Regentschaft Napoleons I. unterschiedlichste Herrschaftsformen durchlebte und erst wieder mit dem Aufstieg seines Neffen Louis Napoleon Bonaparte Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer allerdings auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhenden autoritären Präsidentschaft zurückkehrt, entscheidet sich der US-Verfassungskonvent bereits 1787 für eine starke Exekutive, die sich in der absoluten Machtstellung des Präsidenten ausdrückt: „Im Gegensatz zu Frankreich ist in den führenden Kreisen Amerikas von Anfang an das Bewusstsein verbreitet und ersichtlich, dass diese Macht sich in einer einzigen Person verkörpern muss: Es muss unbedingt vermieden werden, dass im Inneren der Macht lähmende Zwistigkeiten oder Unsicherheiten auftreten.“ [18] Das politische System der USA zeigt seitdem eine erstaunliche Stabilität und eine sich daraus ergebende Kontinuität, die begründet ist in der „überlegenen Flexibilität ihres politischen Systems (das gegründet ist auf weite Machbefugnisse eines leaders, der der Interpret der Nation und ihrer heiligen Mission ist).“ [19]
Und so ergeben sich große Unterschiede zwischen den Ländern, die für den Bonapartismus anfällig sind: „Die Pariser Kommune (ist) für Europa, nicht aber jenseits des Atlantiks eine Art Wasserscheide“, denn „die volle Anerkennung der Legalität von Arbeiterkoalitionen und -organisationen“ bedurfte auf dem alten Kontinent erst „der gigantischen Kämpfe, die in der Pariser Kommune gipfelten.“ Demgegenüber ist „das klassische Land der De-Emanzipation, das Land, in dem diese sich in besonderer Breite und mit besonderer Zähigkeit durchgesetzt hat, (…) die USA. Hier entwickelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine umfassende Bewegung der De-Emanzipation, die aus drei Prozessen besteht, die zwar miteinander verflochten sind, aber dennoch unterschiedliche Charakterzüge aufweisen. Die ersten Opfer sind offensichtlich die Schwarzen. Aus der Sklaverei befreit und im Zuge des Sezessionskrieges zum Genuss der politischen Rechte zugelassen, gelingt es ihnen anfangs, sogar in lokalen und staatlichen Organen vertreten zu sein. Ihre Lage verschlechtert sich aber schnell und dramatisch nach dem Rückzug der Unionstruppen und nach der 'Versöhnung' zwischen Nord und Süd. (…) Das ist die Periode, in der (…) auch zahlreichen Weißen die politischen Rechte entzogen werden.“ [20] Das betrifft aber auch die Migranten, die gegenüber der einheimischen Bevölkerung neuen Diskriminierungen ausgesetzt sind, und das betrifft die Arbeiter, deren Verlangen nach gewerkschaftlicher Betätigung strikter als zuvor zurückgewiesen wird.
Losurdo schließt daraus: „Wenn das Bewusstsein der imperialen Sendung ein konstitutives Element des Bonapartismus ist, wie wir außer bei den beiden Napoleon auch im Falle von Disraeli und Bismarck gesehen haben, so ist es gut, sich vor Augen zu halten, dass ein derartiges Bewusstsein in Amerika eine Rolle ohnegleichen für den Zusammenhalt der Nation und bei der Überwindung beziehungsweise bei der Verhüllung der politischen Gegensätze spielt.“ [21]
Dem bonapartistischen Modell entsprechend, entsteht durch das Plebiszit der Präsidentenwahl eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Volk und seinem leader. Dieser „Soft-Bonapartismus“ kann sich aber in Krisenzeiten leicht in einen kriegerischen verwandeln. Losurdo beschreibt dies am Beispiel des Ersten Weltkriegs, „in der ausgerechnet die westlichen Länder eine größere Fähigkeit (als Deutschland, A.W.) zur totalen Mobilisierung und zu einer totalen und eisernen Einbindung der eigenen Bevölkerung in Bezug auf den Krieg gezeigt haben.“ [22] In diesem „Ausnahmezustand“ entstehen die auch heute noch so lebendigen amerikanischen Mythen von einer Kriegführung im Namen „einer Mission“ und der Stilisierung des Krieges zu einem „Kreuzzug“. Es bildet sich der Kult des „Amerikanismus und der Lobpreisung seiner privilegierten und einzigartigen Rolle in der Weltgeschichte“ [23] heraus.
All dies hat liberale Denker wie Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ oder hundert Jahre später Hannah Arendt in ihrem Werk „Über die Revolution“ daran gehindert, die amerikanische Revolution als einmalig zu preisen. Nach Losurdo lassen sich „Spuren dieser Einstellung auch bei Marx und Engels finden. Gewiss haben sie bei mehreren Gelegenheiten geschrieben, dass ein Volk, das ein anderes unterdrückt, nicht frei sein kann. Aber gemäß der 'Deutschen Ideologie' und des Aufsatzes 'Zur Judenfrage' stellen die USA das 'Land der vollendeten politischen Emanzipation' (MEW 1, 352) dar, oder 'das vollendetste Beispiel des modernen Staats' (MEW 3, 62), welcher die Vorherrschaft der Bourgeoisie sichert, ohne irgendeine soziale Klasse a priori vom Genuss der politischen Rechte auszuschließen. In Wirklichkeit und ganz entgegen den Annahmen von Tocqueville, Marx und Engel, entsprach der Diskriminierung durch den Zensus hier die ethnische und rassische Diskriminierung jenseits des Atlantiks, und sollte sich in dieser Form als viel hartnäckiger erweisen als in Europa.“ [24]
Losurdo hebt einige US-Präsidenten hervor, die aufgrund dieser bonapartistischen Grundstruktur des politischen Systems ihres Landes eine besondere Machtstellung erringen konnten, so dass sie ihre Entscheidungen – vor allem solche über Krieg und Frieden – auf Grundlage der Verfassung ganz alleine für sich trafen. Er nennt Theodore Roosevelt und zitiert ihn mit dessen Worten: „Die wichtigsten Probleme, wie der Frieden von Portsmouth, der Erwerb von Panama oder die Entsendung der Flotte in diesen oder jenen Winkel der Welt - die habe ich gelöst, ohne jemanden um Rat zu fragen, weil es besser ist, wenn in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung nur einer zu entscheiden hat.“ [25]
Ein anderer Präsident, der Fragen über Leben oder Tod vollkommen autonom entschied, war Woodrow Wilson. Losurdo zitiert auch ihn: „In den auswärtigen Angelegenheiten unterliegt gerade die Autonomie, über die der Präsident verfügt, keinen Einschränkungen, und diese Autonomie gewährt ihm eine virtuell totale Kontrolle über die Operationen.“ Eine „derartige Philosophie inspiriert die Haltung, die Wilson im Laufe des Ersten Weltkrieges einnahm, von der anfänglichen Neutralitätserklärung bis zur Entscheidung für die Intervention.“ [26]
Was die Machtstellung von Präsident Donald Trump angeht, so gibt es nicht wenige, die Parallelen mit einer Monarchie ziehen. Vor allem durch die Entscheidung des konservativ gewendeten Supreme Courts vom 1. Juli 2024 über die Immunität des Präsidenten bei Amtshandlungen ist die Macht des Präsidenten weiter gewachsen. „In einer empörten abweichenden Stellungnahme (…) entgegnete Richterin Sonia Sotomayor: 'Bei jeder Ausübung der Amtsgewalt ist der Präsident jetzt ein König, der über dem Gesetz steht.'“ [27] Es ist also fraglich, ob die USA überhaupt als eine Demokratie bezeichnet werden können.
[1] Domenico Losurdo, Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philosophischer Leitfaden, Köln 2011, S. 131
[2] Stephan Bierling, „Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie“, 2.Auflage, München 2024, S. 141
[3] Stephan Bierling, „Die Unvereinigten Staaten, a.a.O., S. 146
[4] Stephan Bierling, „Die Unvereinigten Staaten“, a.a.O., S. 154
[5] Stephan Bierling, „Die Unvereinigten Staaten“, a.a.O., S. 157
[6] Bernd Greiner, Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. 3. Auflage, München 2022, S. 145 f.
[7] Ebenda
[8] Elie Mystal, Allow me to Retort. A Black Guy´s Guide to the Constitution, New York 2022, S. 2
[9] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts, Köln 2008, S. 111
[10] Howard Zinn, A People´s History of the United States, New York, 2005, S. 91
[11] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 114 f
[12] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 144.
[13] Bernd Greiner, Weißglut. Die inneren Kriege der USA. Eine Geschichte von 1900 bis heute, München 2025, S. 77
[14] Ebenda
[15] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 108
[16] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 115
[17] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Stuttgart 2008, S. 109
[18] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 122
[19] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 211
[20] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 47
[21] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 153
[22] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 198
[23] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 209
[24] Domenico Losurdo, 150 Jahre Kommunistisches Manifest – 150 Jahre Weltgeschichte, in: Marxistische Blätter, Ausgabe 1-98, S. 30
[25] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 158
[26] Domenico Losurdo, Demokratie oder Bonapartismus, a.a.O., S. 194
[27] Stephan Bierling, Die Unvereinigten Staaten., a.a.O., S. 165