Was bleibt von der „Fortschrittskoalition“?
- Andreas Wehr
Wie Olaf Scholz den Weg von Gerhard Schröder geht
Es sollte ein Aufbruch für die SPD sein. Mit 25,7 Prozent konnte die Partei bei der Wahl zum 20. Bundestag ihren wichtigsten Konkurrenten CDU/CSU knapp hinter sich lassen und als stärkste Partei die Kanzlerschaft beanspruchen. Da aber die Regierung nur zusammen mit Grünen und FDP gebildet werden konnte, stand von Beginn an fest, dass die SPD erhebliche Abstriche bei ihren Forderungen machen musste. Und doch gab es eine große Zuversicht, dass die neue Regierung von der Sozialdemokratie geprägt werden würde. „Mehr Fortschritt wagen“ lautet die Überschrift des Koalitionsvertrages, und so spricht der am 8. Dezember 2021 gewählte Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „Fortschrittskoalition“.
Eine Auswertung der Bundestagswahlen nennt Bedingungen für die Sicherung dieses sozialdemokratischen Erfolgs: „Die zentrale Aufgabe der SPD in dieser Dreier-Konstellation besteht darin, die Transformationsprozesse so zu gestalten, dass niemand auf der Strecke bleibt und die Polarisierung der Gesellschaft nicht weiter zunimmt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die SPD die Erwartungen derjenigen Wähler nicht verprellt, die ihr die Stimme im Vertrauen darauf gegeben haben, dass eine SPD-geführte Regierung ihre Lebenssituation verbessert bzw. sichert.“ [1]
Die hohen Energiepreise treffen sozial Schwache
Diese Erwartungen erfüllt aber die SPD in der Bundesregierung nicht. Zwar hat sie mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro eine wichtige sozialpolitische Wahlkampfforderung durchsetzen können. Zudem wird die Regierung die Hartz-IV-Sätze heraufsetzen. Doch all dies wird kaum zählen angesichts der Tatsache, dass die große Masse der Bevölkerung - ob lohnabhängig Beschäftige, Rentner oder Selbständige - mit der Verhängung der Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland durch die drastische Erhöhung der Preise für Gas, Öl und Strom einen beispiellosen Rückgang ihres Lebensstandards erleiden muss, von dem heute noch niemand sagen kann, wie hoch er am Ende ausfallen wird. Unter den davon Betroffenen sind viele, die am 26. September 2021 SPD gewählt haben. Das Klientel von CDU/CSU und Grünen gehört hingegen zu den besser Situierten, und diese kommen leichter mit hohen Energiepreisen zurecht.
Der deutsche Wirtschaftskrieg gegen Russland
Nun wird von den Regierungsparteien sowie den führenden deutschen Medien gebetsmühlenartig die Behauptung wiederholt, die gegen die Russische Föderation ergriffenen Maßnahmen seien unvermeidlich, quasi naturgesetzlich notwendig gewesen. Doch das ist nicht so. Eine Verurteilung des russischen Angriffs verlangt keineswegs auch eine Verhängung von Wirtschaftssanktionen, deren Opfer die westlichen Staaten jetzt selber werden. [2] Die übergroße Zahl der Staaten der Welt - unter ihnen viele die den Einmarsch in die Ukraine ebenfalls verurteilen - hatten solche Strafmaßnahmen von Beginn an ausgeschlossen. Dazu gehören nicht nur China, sondern auch Länder wie Indien, Pakistan, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika, Brasilien, Mexiko und viele andere. Sie alle teilen nicht die hinter den Sanktionen stehende Absicht des imperialistischen Westens, den Krieg zum willkommenen Anlass zu nehmen, die russische Wirtschaft entscheidend zu schwächen und so den schon seit langem angestrebten Sturz Wladimir Putins und damit einen System-Change in Russland auszulösen.
Die neue Bundesregierung hat von Beginn an keinen Zweifel daran gelassen, dass sie dieses von der US-Administration vorgegebene Ziel eines Machtwechsels in Moskau aktiv unterstützt. Angetrieben vom grünen Koalitionspartner verweigerte Bundeskanzler Scholz in Gesprächen mit Putin in den Wochen vor dem russischen Angriff selbst das kleinste Zugeständnis. Ganz anders verhielt sich Scholz hingegen gegenüber US-Präsident Joe Biden, dem er noch vor dem Angriff am 24. Februar 2022 zusicherte, die Gaspipeline North-Stream 2 aufzugeben.
Unter der Führung der „Fortschrittskoalition“ tut sich Deutschland so als einer der willigsten Verfechter der von Washington vorgegebenen Linie hervor. Williger sogar noch als das von den USA abhängige Japan. So hält Tokyo an der japanischen Beteiligung am russischen Ölfeld Sachalin I fest, weil dies die langfristige Energiesicherung des Landes erfordere. [3] Deutschland führt hingegen unbeirrt einen „Wirtschaftskrieg“ gegenüber Russland auf Kosten der eigenen Bevölkerung und Wirtschaft.
Ende der sozialdemokratischen Entspannungspolitik
Mit der Ankündigung eines gigantischen Aufrüstungsprogramms in Höhe von 100 Milliarden Euro am 27. Februar 2022 - ausgerechnet durch einen sozialdemokratischen Bundeskanzler - sowie seiner Zusage, künftig zwei Prozent und mehr des Bruttosozialprodukts für Rüstung auszugeben hat die SPD eine radikale Kehrtwende in der Verteidigungspolitik vollzogen.
Der Kotau vor den USA wird begleitet von einer Abkehr der Sozialdemokratie von ihrer traditionellen Haltung gegenüber Russland und einer Politik der Entspannung. Im Oktober 2022 erklärte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil: „Die Aussage, dass es Sicherheit und Stabilität in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland geben könne, habe keinen Bestand mehr.“ [4] Im noch gültigen Grundsatzprogramm der Partei von 2007 wird hingegen die strategische Partnerschaft mit Russland als 'unverzichtbar' für Deutschland und die Europäische Union bezeichnet. Doch das soll sich nun ändern: „Die SPD will ihre Grundsätze in der Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Parteitag Ende 2023 neu formulieren. Die Kommission Internationale Politik der Partei erarbeitet dafür derzeit Vorschläge.“ [5] Innerparteilicher Widerstand ist nicht zu erwarten. Die einst aufsässigen Jungsozialisten unterstützten auf ihrem Oberhausener Bundeskongress Ende Oktober 2022 bereits den neuen Kurs der Partei und stimmten auch Waffenlieferungen an Kiew zu.[6]
Der Abstieg der SPD
Nach dem von Gerhard Schröder Anfang der 2000er Jahre mit Hartz IV sowie der Erhöhung des Renteneintrittsalters vollzogenen sozialpolitischem Kahlschlag liquidiert die SPD nun - unter Schröders früherem Generalsekretär Scholz – mit der Friedenspolitik die zweite Säule sozialdemokratischer Identität. Die Wähler, die bei der Bundestagswahl für die SPD stimmten um ihre soziale Stellung zumindest zu sichern und zugleich eine Verwicklung des Landes in gefährliche kriegerische Konflikte zu verhindern, ziehen ihre eigenen Lehren daraus. Nach aktuellen Umfragen würde die SPD heute bei Bundestagswahlen nur noch 19,8 Prozent - und damit wenig mehr als die Grünen erhalten - was ein Verlust von als 5,9 Prozent bedeuten würde! Gewinner sind neben den Grünen mit einem Plus von 4,5 Prozent, die CDU/CSU mit einem Zuwachs von 3,4 Prozent und die AfD mit einem Gewinn von mehr als vier Prozent. [7] Auch in nahezu allen Bundesländern zeigen die Umfragen für die SPD nach unten. Verfestigt sich dieser Trend bis zu den nächsten Bundestagswahlen, so wäre die sozialdemokratisch geführte „Fortschrittskoalition“ nur eine kurze Episode in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Regierungszeit von Scholz würde mit vier Jahren dann noch kürzer ausfallen als die von Gerhard Schröder. Dieser hielt sich immerhin sieben Jahre auf dem Sessel des Kanzlers.
[1] Rita Müller-Hilmar, Bundestagswahl 2021: SPD reloaded? In: Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft (spw), Heft 246, Ausgabe 5, 2021, S. 17
[2] Vgl. Heribert Dieter, Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter, in: Internationale Politik, 6/2022 https://internationalepolitik.de/de/was-bringen-die-sanktionen-gegen-russland
[3] Japan bleibt Russland mit Sachalin I treu, in: FAZ vom 08.11.2022
[4] Klingbeil: falsche Russlandpolitik - Vorsitzender kritisiert bisherigen Kurs der SPD, in FAZ vom 20.10.2022
[5] Ebenda
[6] Vgl. Jusos für Waffenlieferungen - SPD-Chef Klingbeil dankbar für Unterstützung. In: FAZ vom 01.11.2022
[7] Vgl. Neueste Wahlumfragen im Wahltrend zur Bundestagswahl, https://dawum.de/Bundestag/